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„Atypische“ Indikationen für Antithrombotika bei Koronarer Herzkrankheit [CME]

Zusammenfassung

Neben den gut bekannten Standards zum Einsatz antithrombotischer Arzneimittel in der Sekundärprävention der Koronaren Herzkrankheit (KHK) nach perkutaner Koronarintervention (PCI) – elektiv oder bei akutem Koronarsyndrom (ACS) – gibt es eine Reihe zugelassener, aber weniger geläufigerer Indikationen, die im klinischen Alltag mitunter zu Verständnisproblemen führen können. Diese sind:

  • P2Y12-Inhibitor statt Acetylsalicylsäure (ASS) als Monotherapie;
  • Direkte Orale Antikoagulanzien als Ergänzung zur dualen antithrombozytären Therapie mit ASS und P2Y12-Inhibitor (DAPT) nach ACS oder elektiver PCI: bei erhöhtem Risiko für Stent-Thrombose;
  • Verkürzte DAPT nach elektiver PCI: bei erhöhtem Blutungsrisiko;
  • Verlängerte DAPT > 12 Monate nach Myokardinfarkt: bei erhöhtem Risiko für Stent-Thrombose.

Diese Therapieoptionen wurden überwiegend in größeren klinischen Studien untersucht, zeigten dabei aber teilweise nur einen geringen oder unklaren Netto-Nutzen. Ob ein Patient in seiner persönlichen Situation einen therapeutischen Nutzen haben könnte, muss unter Abwägung individueller Ischämie- und Blutungsrisiken entschieden werden.

Antithrombotisch wirksame Medikamente gehören zu den am meisten verschriebenen Arzneimitteln. Häufige Indikationen für eine antithrombotische Langzeit-/Dauertherapie sind KHK und Vorhofflimmern (Vofli).

Folgende Therapiekonzepte sind als Standard etabliert:

  • bei KHK:

– stabil: Antithrombozytäre Monotherapie mit ASS in der Sekundärprävention; bei selektierten Patienten auch in der Primärprävention;

– nach elektiver oder akuter perkutaner Koronarintervention (PCI) oder akutem Koronarsyndrom (ACS): Duale antithrombozytäre Therapie (DAPT) = ASS + P2Y12-Inhibitor (Clopidogrel, Ticagrelor oder Prasugrel); Befristung meist 6 bzw. 12 Monate; häufigste Kombinationstherapie.

  • bei Vofli:

– bei CHA2DS2-VASc-Score ≥1/2 (Männer/Frauen): orale Antikoagulation (OAK) mit Direkten Oralen Antikoagulanzien (DOAK; Dabigatran, Apixaban, Rivaroxaban oder Edoxaban) oder Vitamin-K-Antagonisten (VKA).

  • bei KHK mit Vofli:

– stabil: OAK wie oben, ohne Thrombozytenaggregationshemmer;

– nach elektiver oder akuter PCI oder ACS: „Tripel-Therapie“ = ASS + P2Y12-Inhibitor (nur Clopidogrel) + OAK; Befristung 1 bis 4 Wochen (je nach Blutungsrisiko; zurückhaltende Indikationsstellung!); anschließend: duale Therapie = P2Y12-Inhibitor (nur Clopidogrel) + OAK; Befristung meist 6 bzw. 12 Monate; danach OAK-Monotherapie unbefristet.

Über diese überwiegend erst in den vergangenen 15 Jahren entwickelten Therapiekonzepte und die damit verbundenen Risiko-Nutzenabwägungen haben wir häufig berichtet.

Neben diesen etablierten Indikationen und Anwendungsarten antithrombotischer Arzneimittel gibt es im Bereich der KHK-Sekundärprävention eine Reihe „atypischer“ Varianten, die in klinischen Studien untersucht wurden und teilweise auch zugelassen sind. Da uns dazu immer wieder Leseranfragen erreichen, geben wir hier einen Überblick.

  • P2Y12-Inhibitor statt ASS in der Sekundärprävention bei stabiler KHK:

Es gibt Hinweise aus mehreren Studien, dass eine Monotherapie mit einem P2Y12-Inhibitor möglicherweise der üblichen Monotherapie mit ASS überlegen ist. Zuletzt erschien dazu mit der PANTHER-Studie eine wichtige Metaanalyse, über die wir anlässlich ihrer Erstpräsentation auf dem Jahreskongress der Europäischen Kardiologischen Gesellschaft berichtet haben [1] und die nun aktuell publiziert wurde [2]. ASS bleibt vorläufig aus verschiedenen Gründen der Standard in der Sekundärprävention, eine Umstellung, z.B. auf Clopidogrel, kann aber individuell erwogen werden, z.B. bei besserer gastrointestinaler Verträglichkeit oder bei jüngeren Patienten.

  • DOAK in der KHK-Sekundärprävention zusätzlich zu ASS/P2Y12-Inhibitor:

Rivaroxaban in reduzierter Dosis (2 x 2,5 mg/d) ist bereits seit mehreren Jahren in folgenden Indikationen bei KHK zugelassen:

– nach ACS zusätzlich zu ASS und P2Y12-Inhibitor auf Basis der ATLAS-ACS-TIMI-51-Studie [3]. Behandlungsdauer: 12 Monate, darüber hinaus „nach individueller Entscheidung“.

– bei bekannter stabiler KHK (oder symptomatischer pAVK) und erhöhtem Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse (Alter ≥ 65 Jahre, Diabetes mellitus, chronische Niereninsuffizienz, Herzinsuffizienz, weiteres betroffenes Gefäßgebiet) zusätzlich zu ASS auf Basis der COMPASS-Studie [4]. Behandlungsdauer: „nach individueller Entscheidung“.

In den gültigen Leitlinien zur chronisch-stabilen KHK der Europäischen Kardiologischen Gesellschaft (ESC 2019; [5]) sind diese Indikationen mit Klasse-2a- bis 2b-Empfehlungen (abhängig vom individuellen Risiko) aufgenommen. In den ganz aktuell neu herausgegebenen Leitlinien der American Heart Association und des American College of Cardiology (AHA/ACC 2023; [6]) wird dies mit einer Klasse-2a-Empfehlung bestätigt [7].

Über die COMPASS-Studie haben wir damals berichtet [8] und die verhältnismäßig geringen Nutzeffekte bei gleichzeitig deutlich erhöhten Blutungsraten kritisiert. Dies trifft auch auf die noch ältere ATLAS ACS-TIMI-51-Studie zu. Wir sehen die genannten Anwendungsgebiete weiterhin zurückhaltend. Auch zur Frage der jeweiligen Befristung gibt es keine Studiendaten.

Für andere DOAK gibt es im Bereich KHK keine Leitlinien-Empfehlungen oder Zulassungen.

  • Verlängerte DAPT nach PCI/ACS:

Ticagrelor in reduzierter Dosis (2 x 60 mg/d) zusätzlich zu ASS ist zugelassen bei mindestens 12 Monate (bis maximal 3 Jahre) zurückliegendem Myokardinfarkt und hohem Risiko für atherothrombotische Ereignisse bei einem der folgenden Risikofaktoren: Alter ≥ 65 Jahre, Diabetes mellitus, weiterer Myokardinfarkt, chronische Niereninsuffizienz, Mehrgefäß-KHK. Zulassungsstudie ist die PEGASUS-TIMI-54-Studie [7] aus dem Jahr 2015, über die wir ebenfalls berichtet haben [9]. Die damals offenen Fragen (Befristung? Patientenselektion?) sind auch heute noch ungeklärt. In Subgruppenanalysen schienen besonders Patienten mit Mehrgefäß-KHK, pAVK und Diabetes von einer solchen verlängerten DAPT zu profitieren, aber auch hier werden mögliche positive Effekte durch ein erhöhtes Blutungsrisiko „erkauft“.

Für andere P2Y12-Inhibitoren oder in anderen klinischen Situationen (z.B. stabile KHK) existieren keine Zulassungen hinsichtlich einer verlängerten DAPT über die empfohlene Standardbefristung (meist 6 bis 12 Monate) hinaus, da sich in Studien kein Nettonutzen ergab.

Die ESC-Leitlinien geben für die DAPT-Verlängerung mit Ticagrelor Klasse-2a- bis 2b-Empfehlungen (abhängig vom individuellen Risiko), die AHA/ACC-Leitlinien eine II-b-Empfehlung, ohne aber einen bestimmten P2Y12-Inhibitor zu bevorzugen. Letztere empfehlen, besonders bei Patienten mit erhöhtem Stent-Thromboserisiko (z.B. mehrere Stents, lange Stents, komplexe Läsionen und/oder Lokalisationen wie Bifurkationen, Hauptstamm, Bypassgefäße), eine verlängerte DAPT in Erwägung zu ziehen.

  • Verkürzte DAPT nach elektiver PCI:

Bei Patienten mit hohem Blutungsrisiko (z.B. große Operation oder Trauma innerhalb der vorausgegangenen 30 Tage, orale Antikoagulation, zerebrale arteriovenöse Malformation, Leberzirrhose, nicht aufschiebbare große Operation etc.) und nach elektiver Versorgung mit einem beschichteten Koronar-Stent (DES = „Drug Eluting Stent“) kann die DAPT, unabhängig vom verwendeten P2Y12-Inhibitor, auf 1 bis 3 Monate verkürzt werden. Inzwischen haben dazu fast alle namhaften Hersteller von DES Studien vorgelegt und auch entsprechende Zulassungen für ihre Produkte erhalten. Im Anschluss an die verkürzte DAPT erfolgte in den meisten dieser Studien eine Monotherapie mit einem P2Y12-Inhibitor (Clopidogrel oder Ticagrelor) statt ASS.

Literatur

  1. AMB 2022, 56, 82. (Link zur Quelle)
  2. Gragnano, F., et al. (PANTHER = P2Y12 inhibitor or Aspirin moNoTHERapy as secondary prevention in patients with coronary artery disease: an individual patient data meta-analysis): J. Am. Coll. Cardiol. 2023, 82, 89. (Link zur Quelle)
  3. Mega, J.L., et al. (ATLAS ACS 2-TIMI 51 = Anti-Xa Therapy to Lower cardiovascular events in addition to Aspirin with or without thienopyridine therapy in Subjects with Acute Coronary Syndrome Thrombolysis In Myocardial Infarction 51). N. Engl. J. Med. 2012, 366, 9. (Link zur Quelle)
  4. Eikelboom, J.W., et al. (COMPASS = Cardiovascular OutcoMes for People using Anticoagulation StrategieS): N. Engl. J. Med. 2017, 377, 1319. (Link zur Quelle)
  5. Knuuti, J., et al.: Eur. Heart J. 2020, 41, 407. https://academic.oup.com/eurheartj/article/41/3/407/5556137?login=false. Erratum: Eur. Heart J. 2020, 41, 4242. (Link zur Quelle)
  6. Virani, S.S., et al.: Circulation 2023, 148, e9. (Link zur Quelle)
  7. Bonaca, M.P., et al. (PEGASUS TIMI 54 = Prevention of cardiovascular events in patients with prior heart attack using ticagrelor compared to placebo on a background of aspirin-Thrombolysis In Myocardial Infarction 54): N. Engl. J. Med 2015, 372, 1791. (Link zur Quelle)
  8. AMB 2018, 52, 32. (Link zur Quelle)
  9. AMB 2016, 50, 58. (Link zur Quelle)