Zusammenfassung: Bei bis zu einem Drittel der Patienten, die mit einem selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) oder Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI) behandelt werden, ist nach dem Absetzen mit Entzugssymptomen zu rechnen. Diese sind überwiegend unspezifisch, manchmal ungewöhnlich, und sie werden leider oft mit einem Rezidiv der Grundkrankheit verwechselt. Das führt nicht selten dazu, dass diese Arzneimittel unnötig weiter verordnet werden. Wenn SSRI und SNRI abgesetzt werden, sollte dies mit Hilfe von Symptom-Checklisten unter enger ärztlicher Begleitung und ausführlicher Information langsam geschehen, d.h. keinesfalls eigenständig durch die Patienten selbst. Ein sicheres Absetzen kann Monate dauern. Generell sollten SSRI oder SNRI sehr zurückhaltend und unter Berücksichtigung von Fachinformationen und Leitlinien (z.B. der DGPPN) verordnet werden.
Immer wieder berichten Patienten, die über eine längere Zeit Antidepressiva vom Typ SSRI oder SNRI eingenommen haben über komplexe Symptome und Beschwerden nach dem Absetzen dieser Medikamente. Die Absetzsymptome oder Entzugserscheinungen (engl. withdrawal symptoms) können sehr beängstigend sein und/oder als Rezidiv der zu Grunde liegenden Erkrankung fehlinterpretiert werden. Ärzte müssen über die Differenzialdiagnose und mögliche Fehleinschätzungen informiert sein, damit die Patienten nicht unnötigerweise die SSRI und SNRI weiter einnehmen.
Die genaue Inzidenz von Entzugssymptomen beim Absetzen von SSRI/SNRI ist nicht bekannt. In Stichproben werden, je nach untersuchtem Wirkstoff, solche Symptome zwischen 0 und 34% angegeben (1). Die Wahrscheinlichkeit von Entzugssymptomen soll mit der Dauer der Einnahme und der verwendeten Dosis zunehmen und bei Antidepressiva mit kurzer Halbwertszeit (z.B. Paroxetin) höher sein. Es erstaunt, dass über die Möglichkeit solcher Phänomene wenig zu lesen und entsprechend wenig bekannt ist, wo doch diese Arzneimittel so häufig verordnet werden. Beim SNRI Duloxetin wies die FDA 2009 darauf hin, dass die Symptome beim Absetzen „viel schwerer und weit mehr verbreitet sind, als dies vom Hersteller Eli-Lilly anerkannt wird“, und sie ermahnte den Hersteller, sich intensiver mit diesem Thema zu befassen (2). Bis auf einige Warnhinweise in den Fachinformationen ist jedoch in den vergangenen Jahren nicht viel geschehen. Peter Gøtzsche, der Leiter des nordeuropäischen Cochrane Zentrums und einer der prominentesten Kritiker der massenhaften Verordnung von Antidepressiva, fordert daher von den Zulassungsbehörden, keine neuen Antidepressiva mehr zuzulassen, bevor nicht die Absetzcharakteristika genauer untersucht sind (3). Auch wir haben mehrfach vor den Gefahren und Widersprüchen bei der großzügigen Verordnung von SSRI und SNRI gewarnt und randomisierte, kontrollierte Absetzstudien („withdrawal studies“) gefordert (4).
Die Differenzierung zwischen Entzugssymptomen und einem Rezidiv der Grunderkrankung ist in der Praxis sehr schwierig. Ein wichtiges Beurteilungskriterium ist der zeitliche Zusammenhang: Entzugssymptome beginnen meist 1-3 Tage nach dem Absetzen des Medikaments, ein Krankheitsrezidiv tritt dagegen oft, aber nicht zwingend, später auf. Hilfreich kann auch ein Reexpositionstest sein: Wenn sich die Symptome nach erneuter Einnahme des Antidepressivums rasch wieder bessern, spricht dies stark dafür, dass ein Entzug vorgelegen hat und kein Krankheitsrezidiv (5).
Die Symptome selbst sind nur bedingt geeignet, zwischen Entzug und Rezidiv zu unterscheiden. In einem aktuellen systematischen Review zum SSRI-Entzug mit 15 randomisierten, kontrollierten Studien (RCT), vier offenen Studien, vier retrospektiven Untersuchungen und 38 Fallberichten zeigten sich eine große Heterogenität der Symptome und Verläufe sowie erhebliche Unterschiede zwischen den untersuchten Wirkstoffen (6). Für die bessere Erkennung von Entzugssymptomen wurde bereits vor 20 Jahren für die SSRI eine Checkliste mit dem Akronym „DESS“ (Discontinuation Emergent Signs and Symptoms checklist) eingeführt (7, 8). Diese ursprünglich für Studienzwecke entwickelte Checkliste umfasst 43 Fragen zum psychischen und physischen Befinden. Solch eine Checkliste scheint uns für die Praxis hilfreich zu sein, um suspekte Veränderungen nach Absetzen der Arzneimittel überhaupt zu erkennen und richtig zu interpretieren.
Ausgehend von dem genannten Review (6) schlagen Chouinard et al. eine Systematik der Absetzphänomene bei SSRI und SNRI vor (9). Demnach sollten drei Formen von Entzugssymptomen unterschieden werden (vgl. Tab. 1):
- Neu aufgetretene, unspezifische und spezifische Entzugssymptome („new withdrawal symptoms“).
- Eine pharmakodynamische Gegenreaktion („rebound“) mit passager verstärkten, bisher unterdrückten Krankheitssymptomen.
- Neue, bislang unbekannte und persistierende komplexe Störungen („postwithdrawal persistent disorders“).
Diese drei Typen der Entzugsphänomene sind von einem Krankheitsrezidiv abzugrenzen, welches nochmals in einen Rückfall, also das Wiederauftreten der ursprünglichen Krankheitsepisode, und eine gänzlich neue Krankheitsepisode unterteilt wird (s. Tab. 1).
Als wichtiges diagnostisches Kriterium für ein Entzugssyndrom wird vorgeschlagen, dass drei Dinge vorliegen sollten:
- Einnahme des Antidepressivums über mindestens sechs Monate,
- Vorliegen von mindestens einem allgemeinen Entzugssymptom,
- Vorliegen von mindestens zwei SSRI/SSNRI-spezifischen Entzugssymptomen.
Zu den allgemeinen Entzugssymptomen gehören Übelkeit, Kopfschmerzen, Konzentrationsmangel, Schlafstörungen, Reizbarkeit u.a. Diese Symptome sind unspezifisch und treten auch beim Absetzen vieler anderer psychoaktiver Arzneimittel auf. Zu den SSRI- oder SNRI-spezifischen Entzugssymptomen werden Grippe-ähnliche Beschwerden, Gleichgewichtsstörungen, Ataxie, Tachykardie, Muskelzuckungen/Tics, Elektrosensationen/Zaps, Panikattacken, Albträume, Depersonalisierung, Verwirrtheit, sexuelle Dysfunktion u.a. gezählt (5, 9). Die spezifischen SSRI- und SNRI-Entzugssymptome können teilweise aus der Pharmakodynamik der Wirkstoffe abgeleitet werden; wie sie entstehen, ist jedoch nicht geklärt. Einzelne Publikationen berichten auch über hochabnormes bis hin zu auto- und fremdaggressivem Verhalten (1). Im Rahmen des großen psychiatrischen UAW-Erfassungssystems Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie (AMSP) sind nicht nur beim Absetzen, sondern auch bei Dosisveränderungen SSRI- und SNRI-induzierte suizidale Impulse beobachtet worden (10, 11), die besonders gefährlich sind, wenn sie im Zusammenhang mit Angst oder innerer Erregung auftreten.
Vor diesem Hintergrund sollte bei der Therapie mit SSRI und SNRI als Grundregel gelten: Alle Patienten müssen umfangreich über mögliche Nebenwirkungen und Entzugsphänomene informiert werden, sowohl zu Beginn einer Therapie mit SSRI und SNRI wie auch vor deren Beendigung. Wenn es die Symptome der Grunderkrankung erlauben oder der Patient dies wünscht, kann ein ärztlich begleiteter Absetzversuch unternommen werden. Auf Druck der Behörden weisen mittlerweile fast alle Hersteller in den Fachinformationen auf das Problem der Entzugssymptome hin. Im Allgemeinen wird ein Ausschleichen („Tapering“) empfohlen mit schrittweiser Reduktion der Dosierung, je nach Symptomen. Meist wird eine Halbierung oder Viertelung der Dosis in Wochenschritten empfohlen. Einige Psychiater schreiben, dass solch ein Ausschleichen bis zu einem Jahr dauern kann (Faustregel: nach 6-8 Monaten Behandlung sind 6-8 Wochen Ausschleichen erforderlich; 5). Die gelegentlich zu lesende Empfehlung, auf ein Antidepressivum mit langer Halbwertszeit umzustellen zum Zwecke der Entwöhnung oder einer begleitenden Pharmakotherapie, beispielsweise mit einem Antikonvulsivum, um die Entzugssymptome zu lindern (12), scheint uns eher Ausdruck einer großen Hilflosigkeit zu sein. Die Psychiatrie sehen wir in der Pflicht, praktikable Strategien für das Absetzen von SSRI und SNRI zu entwickeln und in der ärztlichen Fortbildung flächendeckend zu propagieren. Das Problem der Absetzphänomene unterstreicht angesichts der von Jahr zu Jahr steigenden, inzwischen massenhaften Verordnung von Antidepressiva (SSRI im Jahr 2013: 571,7 Mio. DDD; SNRI: 232,7 Mio. DDD; 13), dass über Rationalität und Irrationalität dieser Verordnungen kritischer nachgedacht werden muss.
Literatur
- Hosenbocus, S., und Chahal, R.: J. Can. Acad. ChildAdolesc. Psychiatry 2011, 20, 60. Link zur Quelle
- http://www.fda.gov/downloads/Advisor…/UCM172866.pdf Link zur Quelle
- Nielsen,M., et al.: Int. J. Risk Saf. Med. 2013, 25, 155. Link zur Quelle
- AMB 2015, 49,48DB01 Link zur Quelle . AMB 2010, 44, 33 Link zur Quelle . AMB2004, 38, 39. Link zur Quelle
- Schweitzer, I., und Maguire, K.: Austr. Prescr. 2001, 24,13. Link zur Quelle
- Fava, G.A., et al.: Psychother.Psychosom. 2015, 84, 72. Link zur Quelle
- Rosenbaum, J.F.,et al.: Biol. Psychiatry 1998, 44, 77. Link zur Quelle
- DESS: http://hulpgids.nl/assets/files/pdf/DESS.pdfLink zur Quelle
- Chouinard, G.,und Chouinard, V.A.: Psychother. Psychosom. 2015, 84, 63. Link zur Quelle
- http://www.klinikum.uni-muenchen.de/ Klinik-und-Poliklinik-fuer-Psychiatrie-und-Psychotherapie/de/forschung/amsp.html Link zur Quelle
- Stübner, S., et al.: J. Clin. Psychiatry 2010, 71,1293. Link zur Quelle
- Chouinard, G., und Chouinard,V.A.: Psychother. Psychosom. 2008, 77, 69. Link zur Quelle
- Lohse, M.J., und Müller-Oerlinghausen, B. in Schwabe,U., und Paffrath, D. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2014. Springer-VerlagBerlin Heidelberg, 2014, S. 921.