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Gabapentin in der perioperativen Schmerztherapie: höhere Risiken bei Älteren [CME]

Gabapentinoide (Gabapentin = GP und Pregabalin) gehören zur Wirkstoffklasse der Antikonvulsiva und wirken auf neuronale Kalziumkanäle [1]. Sie werden zur Behandlung neuropathischer Schmerzen eingesetzt, zunehmend auch in der perioperativen Schmerztherapie. Es gibt Hinweise, dass die Kombination von GP mit Opioiden den Opioid-Bedarf reduziert [2]. Die Sicherheit dieser Kombinationstherapie ist vor allem bei älteren Patienten fraglich, weil GP die Wirkung von Opioiden verstärkt, also stärker sediert und zu Schwindel und Sehstörungen führen kann mit entsprechend höherem Sturzrisiko [3]. Auch Verstopfung und delirante Zustände sind typisch. Andererseits behindert eine ungenügende postoperative Schmerzkontrolle den operativen Behandlungserfolg, verzögert die Mobilität und Rekonvaleszenz und kann zu Delir, Depression und kognitiven Störungen führen ([4][5]). Zum Einsatz von GP speziell bei älteren Menschen wird bisher in keiner der aktuellen Leitlinien zur Schmerztherapie explizit Stellung genommen ([4], [5],[6]).

Die AWMF S3-Leitlinie zur Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen 2021 [6] beurteilt den Stellenwert von Gabapentinoiden im Gegensatz zur amerikanischen Leitlinie [5] eher kritisch: „Gabapentinoide bringen perioperativ keine klinisch relevanten Vorteile und sollten deshalb sowie aufgrund von Nebenwirkungen nicht routinemäßig eingesetzt werden“. In einer Mitteilung der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft vom 17.2.2020 wurde auf ein erhöhtes Abhängigkeitspotenzial von Pregabalin, weniger von GP, hingewiesen. In der aktuellen S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie werden GP und Pregabalin zur Therapie chronischer neuropathischer Schmerzen allerdings als Medikamente der ersten Wahl empfohlen [7]. Im JAMA erschien jetzt eine retrospektive Kohorten-Observationsstudie zu GP in der perioperativen Schmerztherapie [8].

Studiendesign: Es wurden Daten der „Premier Healthcare Database“, einer umfangreichen Datenbank aus den USA, herangezogen. Fast eine Million Patienten (967.547) der Jahre 2009 bis 2018 wurden eingeschlossen und die Daten bis Mai 2022 analysiert. Die Patienten waren unterschiedlichen größeren Operationen unterzogen worden, mehr als Dreiviertel waren orthopädische Eingriffe, die meisten elektiv. Das Mindestalter war 65 Jahre. Die Teilnehmer wurden eingeschlossen, wenn sie in der Zeit von unmittelbar präoperativ bis zum zweiten postoperativen Tag mindestens eine Dosis GP erhalten hatten. Wegen vieler Unsicherheiten bezüglich der Vormedikation wurden alle Patienten ausgeschlossen, die zuvor eine potenzielle Indikation für GP gehabt haben könnten, wie Epilepsie, Neuropathie sowie einen postoperativen intensivstationären Aufenthalt und eine bekannte Abhängigkeitsanamnese. Primärer Studienendpunkt war das Auftreten eines Delirs, definiert nach [9]; sekundäre Endpunkte waren erstmaliger Gebrauch von antipsychotischen Medikamenten, Pneumonie und Tod zwischen Tag 3 postoperativ und Entlassung aus dem Krankenhaus.

Ergebnisse: Das mittlere Alter der Teilnehmer war 76 Jahre, 60% waren weiblich; 118.936 (12%) hatten mindestens eine Dosis GP erhalten. Diese Patienten waren im Schnitt 2 Jahre jünger als die Vergleichspatienten ohne GP im „propensity score matching“, d.h. einer paarweisen Zuordnung von GP-Behandelten mit Nicht-GP-Behandelten bei sonst gleichen Merkmalen. Patienten unter GP hatten ein höheres Risiko für ein postoperatives Delir (3,4% vs. 2,6%), Relatives Risiko = RR: 1,28, 95%-Konfidenzintervall = CI: 1,23-1,34 sowie für den Einsatz antipsychotischer Medikamente (0,8% vs. 0,7%; RR: 1,17; CI: 1,07-1,29) und ein höheres Risiko für Pneumonie (1,3% vs. 1,2%; RR: 1,11; CI: 1,03-1,20) als ihre entsprechenden Vergleichspatienten. Von den Patienten mit GP nahmen 92% Analgetika einschließlich Opioide ein im Vergleich zu 81% ohne GP. In Kombination mit GP wurden auch höhere Opioid-Dosen eingenommen und mehr antipsychotisch, antidepressiv oder anxiolytisch wirkende Medikamente. Für den primären Endpunkt Letalität im Krankenhaus ergab sich aber kein Unterschied (0,3% vs. 0,2%; RR: 1,02; CI: 0,88-1,18). Mit steigender GP-Dosis nahmen die Nebenwirkungen zu. Kränkere Patienten (Komorbiditäten, chronische Nierenerkrankung) waren häufiger von Nebenwirkungen betroffen, was auf die ausschließlich renale Elimination von GP zurückzuführen sein dürfte.

Auch wenn in mehreren Metaanalysen nachteilige Effekte einer GP/Opioid-Kombination als nicht bedeutsam eingestuft wurden ([10], [11], [12]), halten kritische Stimmen das Nutzen-Risiko-Verhältnis von GP für insgesamt eher ungünstig ([3][13]. Deshalb sollten, besonders bei Älteren, Alternativen in der multimodalen Schmerztherapie im Sinne einer Schadensbegrenzung voll ausgeschöpft werden und täglich eine kritische Evaluation erfolgen, ob der Einsatz von GP noch gerechtfertigt ist.

Die Autoren merken selbstkritisch an, dass eine Beobachtungsstudie immer Störfaktoren beinhaltet. Die Inzidenz von Delir z.B. war mit 3,4% deutlich niedriger als in anderen Analysen zum postoperativen Delir nach großen Operationen (15-25%; [14]); der Algorithmus zur Erfassung eines Delirs [9] war möglicherweise nicht präzise genug. Die GP-Konsumenten waren vergleichsweise gesünder und hatten eher elektive Operationen. Angaben zu Schmerz-Scores, häuslicher Medikation und Langzeitergebnisse fehlen leider. Kommentatoren der Studie [15] kommen zu dem Schluss, dass ein Schmerztherapie-Konzept mit GP bei älteren Menschen kein günstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis hat.

Fazit

In der perioperativen Schmerztherapie wird für Gabapentin (GP) ein Opioid-sparender Effekt postuliert. In einer retrospektiven Studie hatten aber ältere Patienten unter GP in Kombination mit Opioiden nach größeren Operationen ein höheres Risiko für ein Delir, den notwendigen Einsatz antipsychotischer Medikamente und ein höheres Risiko für Pneumonie, allerdings ohne negativen Einfluss auf die Letalität im Krankenhaus. Angesichts der steigenden Lebenserwartung werden Operationen auch in immer höherem Alter vorgenommen. Die Alternativen multimodaler Therapiekonzepte wie regionale Anästhesie, Akupunktur und Physiotherapie in Kombination mit Nicht-Opioidanalgetika wie Paracetamol oder nichtsteroidale Antiphlogistika sollten voll ausgeschöpft werden. GP hat bei älteren Menschen kein günstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis und sollte nicht routinemäßig eingesetzt werden. Ob seine Verordnung hilfreich ist, sollte täglich überprüft werden. Für ältere Menschen fehlt bisher ein eigenes, altersadaptiertes multimodales Konzept zur perioperativen Schmerztherapie.

Literatur

  1. Fuzier, R., et al.: Drug Saf. 2013, 36, 55. https://link.springer.com/article/10.1007/s40264-012-0006-6 (Link zur Quelle)
  2. Hah, J., et al.: JAMA Surg. 2018, 153, 303. https://jamanetwork.com/journals/jamasurgery/fullarticle/2664958 (Link zur Quelle)
  3. Kharasch, E.D., et al.: Anesthesiology 2020, 133, 251. https://pubs.asahq.org/anesthesiology/article/133/2/251/109117/Perioperative-GabapentinoidsDeflating-the-Bubble (Link zur Quelle)
  4. American College of Surgeons. Geriatric surgery verification program standards 2022. https://www.facs.org/quality-programs/geriatric-surgery/standards (Link zur Quelle)
  5. Chou, R., et al.: J. Pain 2016, 17, 131. https://www.jpain.org/article/S1526-5900(15)00995-5/fulltext (Link zur Quelle)
  6. AWMF S3-Leitlinie zur Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen 2021. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/001-025.html. (Link zur Quelle)
  7. www.dgn.org/leitlinien (Link zur Quelle)
  8. Park, C.M., et al.: JAMA Intern. Med. 2022. Published online September 19, 2022. https://jamanetwork.com/journals/jamainternalmedicine/article-abstract/2796501 (Link zur Quelle)
  9. Kim, D.H., et al.: Pharmacoepidemiol. Drug Saf. 2017, 26, 945. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5583076/ (Link zur Quelle)
  10. Hurley, R.W., et al.: Reg. Anesth. Pain Med. 2006, 31, 237. https://rapm.bmj.com/content/31/3/237.long (Link zur Quelle)
  11. Verret, M., et al.: Anesthesiology 2020, 133, 265. https://pubs.asahq.org/anesthesiology/article/133/2/265/109137/Perioperative-Use-of-Gabapentinoids-for-the (Link zur Quelle)
  12. Bykov, K. et al.: JAMA Netw. Open. 2020, 3, e2031647. https://jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/fullarticle/2774489 (Link zur Quelle)
  13. AMB 2022, 56, 52. AMB 2019, 53, 31. AMB 2017, 58, 21. AMB 2011, 45, 29. (Link zur Quelle)
  14. Marcantonio, E.R.: N. Engl. J. Med. 2017, 377, 1456. https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/nejmcp1605501 (Link zur Quelle)
  15. Bongiovanni, T., et al.: JAMA Intern. Med. 2022. Published online September 19, 2022. https://jamanetwork.com/journals/jamainternalmedicine/article-abstract/2796503 (Link zur Quelle)