Soll eine orale Antikoagulanzientherapie, die wegen mechanischem Herzklappenersatz oder chronischem Vorhofflimmern durchgeführt wird, vor geplantem größerem chirurgischem Eingriff pausiert und auf Heparine gewechselt werden? 1995 vertraten 73% der US-amerikanischen Hausärzte diese Meinung. Worauf basiert diese Einschätzung? Wie häufig sind Blutungskomplikationen nach zahnchirurgischen Eingriffen bei erhöhter INR überhaupt? Wie hoch ist auf der anderen Seite das thromboembolische Risiko in der Phase der Umstellung von Vitamin-K-Antagonisten auf Thrombininhibitoren?
Diesen Fragen ging der Zahnarzt M.J. Wahl mittels Literaturrecherche nach (Arch. Int. Med. 1998, 158, 1610). Er fand in der englischsprachigen Literatur 26 Fallberichte oder Studien mit insgesamt 774 Patienten (INR bis 3,5) und 2014 chirurgischen Eingriffen unter laufender Medikation (Einzel- und Mehrfachzahnextraktionen, Gingivachirurgie, Alveolarchirurgie). 98% dieser Patienten überstanden den Eingriff problemlos, und die Blutungen konnten durch alleinige lokale Maßnahmen kontrolliert werden (Kompression, Beißen auf Teebeutel, topisches Thrombin, Nähte). Nur bei 2% der publizierten Fälle traten schwerwiegendere postoperative Blutungen auf, die jedoch immer mit Vitamin-K-, FFP-Gaben oder Bluttransfusionen beherrschbar waren. Berichte über tödliche Blutungen fehlen. Bei 5 von 12 dieser Patienten konnte die Blutung auf eine präoperative INR oberhalb der therapeutischen Empfehlungen zurückgeführt werden. Bei 3 von 12 Patienten war die präoperative INR im therapeutischen Bereich; es traten jedoch postoperativ Entgleisungen der INR auf, die von den Autoren durch Wechselwirkungen mit einer Antibiotikaprophylaxe (Erythromycin und Amoxicillin) erklärt wurden.
Das Thromboembolierisiko durch Pausieren oder Reduzieren der Antikoagulanzien vor einem zahnchirurgischen Eingriff aus Angst vor lokalen Blutungen ist nicht unerheblich. In 16 Publikationen zu dieser Frage wurde bei insgesamt 493 Patienten eine Häufigkeit von 0,9% ermittelt, darunter immerhin 4 Todesfälle. Der Autor folgert, daß die Manipulation an der INR für antikoagulierte Patienten wahrscheinlich gefährlicher ist als eine Operation unter fortlaufender Antikoagulation.
Fazit: Zahnchirurgische Eingriffe unter laufender Antikoagulanzienbehandlung im therapeutischen Bereich (INR bis 3,5) sind bei guter chirurgischer Technik offenbar weniger gefährlich als vermutet. Wahrscheinlich überwiegt das Risiko einer thromboembolischen Komplikation in Folge der Manipulation an der INR das Risiko einer nicht beherrschbaren Blutung.