Eine lebensbedrohliche Polypharmakotherapie, Überdosierungen und Fehlverschreibungen finden sich bei über 30% der Patienten in nordamerikanischen Pflegeheimen (1). In Europa sind solche Zahlen rar oder unbekannt, weil Erhebungen zu unangemessener (inappropriate) Medikation bislang nicht erfolgt sind.
Eine Gruppe um Daniela Fialová von der Prager Universität versucht nun, diese Informationslücke zu schließen (2). In einem von der Europäischen Union finanzierten und mit AdHOC bezeichneten Projekt wird mittels wiederholter Stichproben die Grundsituation und die Versorgung von zu Hause gepflegten älteren Patienten (> 65 Jahre) in elf europäischen Ländern verglichen (3). Per Zufallsgenerator wurden 3877 Patienten ausgewählt und prospektiv untersucht (mittleres Alter 82,2 Jahre, 74% weiblich, 61% allein lebend, 7,6% arm, 38% mit mehr als vier Erkrankungen, 28% mit stärkerer kognitiver Einschränkung). Aus acht Ländern wurde neben den sozioökonomischen, physischen, kognitiven und psychologischen Merkmalen auch die laufende Medikation in die AdHOC-Datenbank eingegeben (nicht aus Deutschland). So konnten die Prager Wissenschaftler auf die pharmakotherapeutischen Daten von 2707 Patienten aus acht Ländern zurückgreifen (CZ, DK, FIN, IS, I, NL, N, GB). Erfasst wurden alle Medikamente, die in den letzten sieben Tagen vor der Datenerhebung nach Angaben der Patienten eingenommen wurden (auch rezeptfreie, sog. Over-the-counter-Präparate), was in den Pillenboxen gefunden wurde und was von den behandelten Ärzten laut Krankenakte verordnet war.
Ergebnisse: Es zeigte sich, dass 51% der alten Patienten mehr als sechs und 22% mehr als neun verschiedene Medikamente einnahmen. Die Prävalenz an Polypharmakotherapie (> 9 Medikamente) hat ein starkes Gefälle mit 7% in I, und 39% bzw. 41% in CZ und FIN. Bei insgesamt 18% aller Patienten hatte der behandelnde Arzt in den vergangenen sechs Monaten die Medikation nicht mehr überprüft. Besonders schlecht schnitt hier GB ab, mit über 56% ohne Überprüfung.
Bei 43% der Patienten wurden psychotrope Substanzen verordnet, besonders häufig in FIN und IS (62%), am wenigsten in GB und NL (27% bzw. 30%).
12% der Patienten wurden als „non-compliant” eingestuft, weil sie weniger als 80% der zuletzt verordneten Medikamente in den vergangenen sieben Tagen eingenommen hatten. Dabei steigt die Non-Compliance-Rate von 2,7% in I auf 33% in CZ und scheint eng mit der Zahl verordneter Medikamente verbunden: je mehr Pillen, desto schlechter die Compliance.
Die erhobenen Medikamente wurden nun mit der US-amerikanischen Beers-Liste von 2003 und der kanadischen McLeod-Liste von 1997 abgeglichen (4, 5). In diesen Listen stehen Medikamente, die bei alten Menschen verstärkt zu UAW führen oder unwirksam sind, oder für die es Alternativpräparate mit weniger UAW gibt (vgl. 6). Diese Listen sind das Ergebnis von Konsensuskonferenzen, in der klinische Pharmakologen, Geriater und Psychiater vertreten waren. In Ermangelung europäischer Expertenkonferenzen und Listen, die den europäischen Arzneimittelmarkt nach kritischen Substanzen durchsuchen, mussten die Prager Wissenschaftler sich der nordamerikanischen Listen bedienen, die die europäische Situation nur teilweise widerspiegeln.
Es zeigte sich, dass ca. 20% aller Patienten mindestens eine nach den Beers-oder McLeod-Kriterien unangemessene Substanz einnahmen. Am häufigsten war die Verordnung unangemessener Substanzen in CZ (41%), am seltensten in DK (5,8%). Unverständlich ist z.B., dass ein Fünftel aller pflegebedürftigen alten Tschechen das wenig wirksame Pentoxifyllin (Trental® u.a.) einnehmen sollen.
Das Risiko, eine unangemessene Medikation zu erhalten, steigt nach einer multivariaten Analyse mit zunehmender Armut (OR: 2,4), mit der Einnahme von Anxiolytika (OR: 2,1) und bei einer Polypharmakotherapie (OR: 2,1). Andererseits sinkt das Risiko einer unangemessenen Therapie mit dem Alter (> 85 Jahre; OR: 0,7) und mit der Tatsache des Alleinlebens (OR: 0,7).
In Tab. 1 sind die zehn häufigsten unangemessenen Medikamente aufgelistet, die im AdHOC-Register bei älteren Menschen gefunden wurden. Dabei ist zu bedenken, dass nicht alle in den nordamerikanischen Beers- und McLeod-Listen genannten Substanzen in den europäischen Ländern zugelassen sind (in N nur 31%), während andere bedenkliche Substanzen in Europa, nicht aber in Nordamerika, verordnet werden können (z.B. Flunitrazepam = Rohypnol®). Dadurch wird das europäische Bild sicherlich in eine zu positive Einschätzung verfälscht.
Fazit: Das AdHOC-Register zeigt, dass in Europa mehr als 20% der pflegebedürftigen älteren Menschen eine unangemessene und potenziell gefährliche Medikation erhalten. Polypharmakotherapie ist auch hier bei alten Menschen häufig, und die Medikation wird viel zu selten von den behandelnden Ärzten überprüft. Dabei ist das Verordnungsverhalten in den einzelnen europäischen Ländern sehr unterschiedlich und wird ganz maßgeblich von den Aktivitäten der Industrie und dem Vorhandensein bzw. Fehlen von unabhängiger Arzneimittelinformation beeinflusst. In Anbetracht dieser unkontrollierten Verschreibungssituation bestehen dringend Aufklärungs- und Handlungsbedarf. Das von der EU finanzierte AdHOC-Register ist eine beachtliche Initiative, die in die richtige Richtung weist. Es sollte nun wie in Nordamerika auch in Europa eine Liste erstellt werden, die für alte Leute kritisch einzuschätzende Medikamente aufführt. Die EMEA wäre eine gute Plattform für eine solche Initiative.
Literatur
- Hanlon, J.T., et al.: Ann. Pharmacother. 2004, 38, 9.
- Fialová, D., et al. (AdHOC = The Aged in Home Care Project): JAMA 2005, 293, 1348.
- Carpenter, I., et al. (AdHOC = The Aged in Home Care Project): Aging Clin. Exp. Res. 2004, 16, 259.
- Fick, D.M., et al.: Arch. Intern. Med. 2003, 163, 2716.
- McLeod, P.J., et al.: CMAJ 1997, 156, 385.
- AMB 2005, 39, 44.
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