Über das Dilemma der Polypharmakotherapie bei älteren polymorbiden Patienten haben wir schon mehrfach berichtet (1-3). Die möglichen Konsequenzen von „Vielverschreibung” werden durch eine jüngst publizierte Arbeit aus den Niederlanden aufgezeigt (4). Eine Arbeitsgruppe aus Rotterdam und Amsterdam hat aus drei verschiedenen Diagnoseregistern (Nationales Statistik Institut = CBS, Medical Registration = LMR und Hospital Discharge Registry) über einen Zeitraum von 26 Jahren alle unerwünschten Reaktionen auf Arzneimittel (Adverse Drug Reactions = ADR), die zu einer Behandlung im Krankenhaus führten, analysiert. ADR wurden definiert als „ungünstige Wirkungen, die durch den therapeutischen Einsatz medizinischer oder biologischer Substanzen ausgelöst werden”. ADR unterscheiden sich somit in ihrer Definition von unerwünschten Arzneimittelwirkungen, die von der Weltgesundheitsbehörde (WHO) als Reaktion auf ein Arzneimittel definiert werden, die „schädlich und unbeabsichtigt ist und bei Dosierungen auftritt, wie sie normalerweise beim Menschen zur Prophylaxe, Diagnose oder Therapie eingesetzt werden” (5). Die Kausalität der registrierten ADR wurde in dieser Studie aus den Niederlanden nicht bewertet, und Informationen waren nur zu Wirkstoffgruppen, nicht aber zu den jeweiligen die ADR verursachenden Wirkstoffen verfügbar (4).
Insgesamt wurden aus den Jahren 1981-2007 ca. 360.000 Aufnahmen in Krankenhäuser im Zusammenhang mit ADR identifiziert. Da bekanntermaßen ADR nicht quantitativ registriert und sehr häufig nicht korrekt erfasst werden, liegt die tatsächliche Inzidenz nach Einschätzung der Autoren wahrscheinlich noch höher. Mehr als zwei Drittel der betroffenen Patienten waren ≥ 60 Jahre alt. Frauen waren durchweg häufiger von einer stationär behandlungsbedürftigen ADR betroffen (Verhältnis 1:0,74).
Über die Jahre nahm die Inzidenz der Krankenhausaufnahmen wegen ADR deutlich zu: 1981 waren es 5291 Patienten ≥ 60 Jahre, im Jahre 2007 dagegen 12.836, also mehr als doppelt so viele. Sie nahmen bei Männern stärker zu als bei Frauen. Die Zunahme kann nur zum Teil auf demografische Veränderungen (höhere Lebenserwartung) zurückgeführt werden. Nach Korrektur der Inzidenz nach Alter und Bevölkerungswachstum beträgt die jährliche Zunahme für Männer ≥ 60 Jahre immerhin noch 1,78% und für Frauen 1,47%. Die Altersgruppe, die prozentual in den vergangenen Jahren am stärksten zugelegt hat, ist die der Hochbetagten. So nahmen z.B bei den ≥ 90-jährigen Männern die Krankenhausaufnahmen wegen ADR um 162% zu (von 1981-1985: 742 bei ≥ 90-Jährigen/49.446 Gesamtzahl der Krankenhausaufnahmen = 1,5%; von 2006-2007: 9009/361.760 = 2,5%).
Leider erlauben die Registerdaten keine Aussagen zu Veränderungen der Verschreibungsquantität im untersuchten Zeitraum. Man muss jedoch davon ausgehen, dass die Zunahme der ADR in erster Linie mit der Art und vor allem der Zahl der verordneten Arzneimittel verknüpft ist. Zahlen aus Österreich belegen, dass dort die Menge der verordneten Arzneimittelpackungen über 13 Jahre um 35,2% zugenommen hat (von 1995 bis 2008 von 168,3 Mio. auf 227,5 Mio.; 6).
Im Vergleich zum Zeitraum 1981-1985 sind in den letzten 10 Jahren der Auswertung andere Arzneimittelgruppen für die zur stationären Aufnahme führenden ADR verantwortlich. Während es früher hauptsächlich kardiovaskuläre Arzneimittel waren (Anteil sinkt von 36% auf 8,3%), sind es heute Arzneimittel, die in den Wasser- und Elektrolythaushalt eingreifen (Anstieg von 5,4% auf 15,4%), Onkologika, Immuntherapeutika und Bisphosphonate (Anstieg von 3,2% auf 24,4%) sowie Antikoagulanzien, Anti-Anämika und Eisenpräparate (von 17,9% auf 24,2%).
Anders als z.B. in England und Australien (7, 8) hat die Zunahme der Krankenhausaufnahmen wegen ADR Mitte der 90er Jahre in den Niederlanden einen Knick erfahren. Zwischen 1981-1996 betrug die jährliche Steigerung der ADR 2,65%, danach nur noch 0,65%. Dieser Rückgang wird von den Autoren auf die seit Mitte der Neunziger Jahre in den Niederlanden zunehmend von Pharmazeuten und Ärzten genutzten rechnergestützten Verordnungssysteme zurückgeführt, vor allem aber auf eine verstärkte Aufmerksamkeit für Arzneimittelrisiken bei Angehörigen der Gesundheitsberufe und in der Öffentlichkeit.
Fazit: Die Inzidenz stationärer Aufnahmen wegen unerwünschter Reaktionen auf Arzneimittel hat sich in den Niederlanden in den 26 Jahren zwischen 1981 und 2007 deutlich erhöht. Dies ist zurückzuführen auf demografische Entwicklungen, die damit verbundenen häufigeren Krankheiten und auf den deutlichen Anstieg des Arzneimittelverbrauchs in den Industrieländern. Durch rationale und vorausschauende Arzneimittelverordnung, verbunden mit verstärkter Aufmerksamkeit und besserem Wissen hinsichtlich arzneimittelinduzierter Probleme – besonders bei älteren Patienten -, muss dieser Entwicklung Einhalt geboten werden. Interventionen zur Erhöhung der Arzneimitteltherapiesicherheit, wie der konsequente Einsatz rechnergestützter Verordnungssysteme (3) und die Zusammenarbeit von Ärzten und Pharmazeuten, können dabei helfen. In Deutschland fehlen entsprechende Register wie sie hier benutzt wurden.
Literatur
- AMB 2005, 39,44. Link zur Quelle
- AMB 2008, 42,39. Link zur Quelle
- AMB 2010, 44,49. Link zur Quelle
- Hartholt, K.A., etal.: Plos One 2010, 5, e13977. Link zur Quelle
- Arzneimittelkommission derdeutschen Ärzteschaft. Pharmakovigilanz. Evidenzbasierte Therapieleitlinien.Deutscher Ärzte-Verlag, Köln, 2009.
- http://www.pharmig.at/…Link zur Quelle
- Patel, H., et al.: BMCClin. Pharmacol. 2007, 7, 9. Link zur Quelle
- Burgess, C.L., et al.:Med. J. Aust. 2005, 182, 267. Link zur Quelle