„Die Einführung der MS-Basistherapeutika hat in den 1990er Jahren die MS-Therapie revolutioniert: Durch die Therapie der MS durch immunmodulierende Medikamente konnte die Schubrate erstmalig vermindert und die Krankheitsprogression verzögert werden“. So ist es auf einer vom pharmazeutischen Unternehmer (pU) Bayer gestalteten und im Google-ranking an Nummer 1 stehenden Webseite für Patienten mit Multipler Sklerose (MS) zu lesen (1). Auch die aktuellen Leitlinien der deutschen neurologischen Fachgesellschaft zu Diagnose und Therapie der MS betonen: „Die mittlerweile über 20-jährige Erfahrung mit den rekombinanten Beta-Interferonen in der Behandlung der MS belegen deren gutes Nutzen-Risiko-Profil“ in der Basistherapie (2).
Im Gegensatz zu diesen sehr positiven Bewertungen der pU und Experten kommen die betroffenen Patienten offenbar zu einer anderen Einschätzung. Beim diesjährigen Kongress für Patientensicherheit in Berlin stellte eine Patientengruppe („Trierer Aktionsgruppe für neudiagnostizierte und junge Erwachsene mit MS“) die Ergebnisse einer Umfrage unter jungen MS-Betroffenen vor (3, 4). Ausgangspunkt dieser Arbeit war, dass die Adhärenz zu diesen Arzneimitteln offenbar als unzureichend eingeschätzt wird. Befragt wurden 89 MS-Erkrankte (medianes Alter: 38,5 Jahre; 83% Frauen; 77,5% mit schubförmig-remittierender MS, 14,6% mit sekundär progredienter und 7,8% mit anderen Formen) mittels eines Online-Fragebogens. Nur ein Viertel der Befragten stimmte der Aussage zu, dass die Nebenwirkungen einer Interferon-Behandlung auf die ersten 3-4 Behandlungsmonate beschränkt und gut behandelbar seien. Über 60% lehnten diese Aussage ab. Nur bei 22,7% der Interferon-Anwendungen wurde von den Patienten der Nutzen höher eingeschätzt als die therapiebedingten Einschränkungen. Bei 18,8% der Anwendungen wurden Nutzen und Einschränkungen als gleich und bei 58,6% sogar als ungünstig bewertet. Diese von vielen Patienten als ungünstig empfundene Nutzen-Risiko-Relation dürfte ein wichtiger Grund für die mangelnde Therapieadhärenz sein. Die Autoren schlussfolgern, dass die Erfahrungen der Anwender den derzeit zur Verfügung stehenden Patienteninformationen widersprechen und dass die tatsächliche Belastung von MS-Betroffenen durch die prophylaktische Gabe einer immunmodulierenden Basistherapie im Verhältnis zu ihrem Nutzen gründlich zu überdenken sei (3).
Natürlich ist diese kleine Umfrage nicht repräsentativ, aber sie wirft doch ein Schlaglicht auf ein wichtiges Problem der evidenzbasierten Medizin: die fehlende Stimme der Patienten (4, 5). Neben Phase-II/III-Studien und Registerdaten zur Langzeitanwendung sind auch die Erfahrungen von Patienten wichtig, wenn eine Therapie insgesamt zu beurteilen ist oder Leitlinien erstellt werden. Mit den beiden Internet-basierten Foren „Health Talk Online“ und „Youth Health Talk“ gibt es in Großbritannien eine Datenbank mit über 2000 Patientengeschichten zu über 60 Erkrankungen (7, 8). In Form strukturierter Interviews können die individuellen Erfahrungen mit einer Erkrankung, mit den medizinischen Prozessen und den psychosozialen Konsequenzen in Form schriftlicher Protokolle oder als gefilmte Interviews abgerufen werden. Neben der wichtigen Funktion, dass hier Patienten sowie ihre Angehörigen einen sehr persönlichen Einblick in das Erleben bei einer Erkrankung sowie deren Abklärung und Therapie erhalten, werden diese qualitativen Daten auch wissenschaftlich ausgewertet. Die sog. „Health Experiences Research Group” der Universität Oxford wertet die Daten systematisch aus, um Ergebnisse klinischer Studien durch Daten aus der Patientenperspektive zu ergänzen (9). Es gibt aus dieser Gruppe bereits über 100 Publikationen, die sich mit vielen Themen aus der Patientensicht beschäftigen, beispielsweise in wie weit Yoga bei bestimmten akuten und chronischen Erkrankungen hilfreich sein kann (10) oder welche Umweltfaktoren die Entwicklung psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen begünstigen oder vermindern können (11).
Die Initiative für dieses einzigartige Projekt geht auf die britische Allgemeinmedizinerin Ann McPherson und den Pharmakologen sowie Mitbegründer der Cochrane Collaboration und des Drug and Therapeutic Bulletin, Andrew Herxheimer, zurück. Beide hatten sich lange Jahre mit evidenzbasierter Medizin befasst und stellten fest, als sie selbst erkrankten, dass die Perspektive der Patienten bei den wissenschaftlichen Betrachtungen von Erkrankungen und deren Therapie häufig fehlt. Die kleine Umfrage aus Trier und ein Besuch auf www.healthtalkonline.org sollten uns daran erinnern, dass wir die Wünsche und Erfahrungen der Patienten viel mehr zu berücksichtigen haben.
Literatur
- http://www.ms-diagnose.ch/de/ms-behandeln/langzeittherapie/… Link zur Quelle
- http://www.dgn.org/images/stories/dgn/leitlinien/… Link zur Quelle
- Scheiderbauer,J., und Beßler, N.: Arzneiverordnung in der Praxis 2013, 40, 75. Link zur Quelle
- Basch, E.: N. Engl.J. Med. 2013, 369, 397.
- Basch,E.: N. Engl. J. Med. 2010, 362, 865.
- http://www.tag-trier.de/ Link zur Quelle
- http://www.healthtalkonline.org Link zur Quelle
- www.youthhealthtalk.org/ Link zur Quelle
- http://www.phc.ox.ac.uk/research/health-experiences Link zur Quelle
- McCall, M.C., et al., Evid. Based Complement Alternat.Med. 2013, 2013, 945895. Link zur Quelle
- Villalonga, O.E.: Qual. Life Res. 2013,22, 613.