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Das Antidepressivum Fluvoxamin gegen COVID-19?

Bei einer COVID-19-Erkrankung tritt die respiratorische Verschlechterung infolge einer vor allem durch starke Entzündungsreaktionen verursachten Lungenschädigung meist während der zweiten Krankheitswoche auf. Diese Erkenntnis hat zu zahlreichen Therapieversuchen mit immunmodulatorisch wirkenden Arzneimitteln geführt, etabliert ist aber bislang nur Dexamethason (vgl. 1). Ein potenzieller antiinflammatorischer Angriffspunkt ist der Sigma-1-Rezeptor (S1R). S1R ist ein sog. Chaperon-Protein im endoplasmatischen Retikulum, welches u.a. an der Regulation der Zytokinproduktion beteiligt ist.

Der selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) Fluvoxamin hat eine hohe Affinität zum S1R und könnte eine Hyperinflammation bei COVID-19 hemmen. Dies konnte in murinen Sepsis-Modellen nachgewiesen werden. Nun wurde Fluvoxamin in einer randomisierten, plazebokontrollierten Studie (RCT) an ambulant betreuten Patienten mit PCR-positiver, leichter COVID-19-Erkrankung getestet (2). Die Teilnehmer durften eine Symptomdauer von maximal 7 Tagen haben und befanden sich in Selbstisolation. Es sollte geprüft werden, ob eine frühzeitige Einnahme von Fluvoxamin eine klinische Verschlechterung verhindert. Die Studie mit dem Akronym STOP COVID wurde monozentrisch in St. Louis/Missouri durchgeführt und durch einen lokalen Forschungsfonds finanziert.

Studiendesign: Eine Besonderheit dieser Studie ist, dass sie völlig kontaktlos durchgeführt wurde, also ohne persönliche Visiten. Interessenten wurden über ihre elektronische Gesundheitsakte, persönliche Empfehlungen sowie Inserate im Internet, Printmedien und Lokalfernsehen rekrutiert. Es meldeten sich 1.337, die per Telefon und E-Mail durch das Studienzentrum hinsichtlich Ein- und Ausschlusskriterien überprüft wurden. Studienunterlagen und -material (Studienmedikament, Pulsoxymeter, Blutdruck-Messgerät und Thermometer) wurden per Post zugestellt. Alle Instruktionen erfolgten telefonisch. Die Statusbewertung erfolgte durch die Teilnehmer(innen) selbst. Die gesamte Datenerfassung erfolgte durch elektronische Fragebögen, oder telefonisch bei Personen ohne Internetzugang.

Ausgeschlossen wurden u.a. Patienten mit einer initial niedrigen Sauerstoffsättigung (< 92%), einer schweren vorausgehenden Lungenerkrankung, symptomatischer Herzinsuffizienz oder Immundefizienz.

Die Teilnehmer erhielten nach dem Zufallsprinzip über 15 Tage entweder Fluvoxamin oder Plazebo-Kapseln. Die verwendete Fluvoxamin-Dosis wurde über 4 Tage gesteigert, von einmal 50 mg auf dreimal 100 mg/d. Bei Unverträglichkeiten wurde die Dosis wieder reduziert.

Primärer Studienendpunkt war eine klinische Verschlechterung. Sie war definiert durch das Auftreten starker Atemnot oder die Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung wegen Kurzatmigkeit oder Lungenentzündung und Abnahme der Sauerstoffsättigung < 92% bei Raumluft oder der Notwendigkeit einer Sauerstoffzufuhr, um eine Sauerstoffsättigung > 92% aufrecht zu erhalten.

Ergebnisse: Zwischen April und August 2020 wurden 181 Patienten (14% der Gescreenten) randomisiert. Das mittlere Alter betrug 46 ± 13 Jahre. Die häufigsten Initialsymptome waren Müdigkeit (23%) und Verlust des Geruchssinns (29%). Der Ausgangswert für die Sauerstoffsättigung betrug im Mittel 97%.

In der Fluvoxamin-Gruppe brachen 18 von 80 Patienten den Kontakt vor dem 15. Tag ab, in der Plazebogruppe waren es 19 von 72. In der Fluvoxamin-Gruppe verschlechterte sich kein Patient, in der Plazebogruppe sechs von 72 (8,3%). Vier dieser Patienten wurden ins Krankenhaus eingeliefert, wobei die Aufenthaltsdauer zwischen 4 und 21 Tagen lag. Ein Patient benötigte eine 10-tägige Beatmung, keiner starb. Von den 31 Personen, zu denen der Kontakt verloren ging, wurde keine als stationärer Patient(in) in einem lokalen Krankenhaus oder einer Notaufnahme gemeldet.

Die Autoren ziehen zwei wesentliche Schlussfolgerungen aus ihrer Studie: 1. Es ist möglich, während einer Pandemie eine Studie ohne persönlichen Kontakt durchzuführen und 2. Die Hypothese, dass Fluvoxamin den Verlauf einer SARS-CoV-2-Infektion günstig beeinflusst, wurde nicht falsifiziert. Zugleich zählen sie sieben Einschränkungen ihrer Studie auf, darunter die zu geringe Patientenzahl, die vielen Kontaktabbrüche (20%) und die unsichere Erfassung der Endpunkte. Daher sehen sie das Ergebnis nicht als Nachweis der Wirksamkeit, sondern nur als Bestätigung einer Hypothese. Sie schlagen eine weiterführende interventionelle Studie vor, in der Fluvoxamin mit anderen entzündungshemmenden Medikamenten, wie Colchicin und Glukokortikosteroide, verglichen werden soll.

In einem Editorial berichten die Herausgeber des JAMA, dass allein bei ihrer Zeitschrift seit Februar 2020 über 10.000 Manuskripte zu COVID-19 eingereicht wurden (3). Die Fluvoxamin-Studie sei als Pilotstudie anzusehen. Sie sei nämlich in erster Linie wegen der Durchführung als „kontaktlose Studie“ ausgewählt worden. In anderen Medien war die Wahrnehmung freilich anders. Dort wurde vielfach getitelt: „Corona: Bekannte Antidepressiva können bei COVID-19-Verlauf helfen“ (4). Eine Anfrage bei einer gängigen Suchmaschine zu „Fluvoxamin und Corona“ ergab vier Wochen nach der Veröffentlichung des Artikels über 11.000 Treffer.

Fazit: Einige Antidepressiva wirken über den Sigma-1-Rezeptor auch antientzündlich. In einer kleinen kontrollierten Studie wurde der SSRI Fluvoxamin bei Patienten mit früher COVID-19-Erkrankung gegen Plazebo getestet. Es ergaben sich Hinweise auf eine mögliche günstige Wirkung hinsichtlich einer pulmonalen Verschlechterung. Wegen einer Vielzahl von Einschränkungen dient diese Studie jedoch allenfalls zur Generierung von Hypothesen. Sie ist erwähnenswert, weil sie in Heimquarantäne und ohne jeden persönlichen Kontakt mit den Patienten durchgeführt wurde und weil darüber sehr überschwänglich in vielen nichtmedizinischen Zeitschriften berichtet wurde. Bei der Beurteilung solch positiver Berichte in der Presse müssen unbedingt die Daten der Originalpublikationen angesehen werden.

Literatur

  1. AMB 2020, 54, 79. Link zur Quelle
  2. Lenze, E.J., et al. (STOP COVID = A double-blind, placebo-controlled clinical trial of fluvoxamine for symptomatic individuals with COVID-19 infection): JAMA 2020, 324, 2292. Link zur Quelle
  3. Seymour, C.W., et al.: JAMA 2020, 324, 2300. Link zur Quelle
  4. Möllers, T.: Frankfurter Rundschau vom 18.11.2020. Link zur Quelle (Zugriff am 27.12.2020).