L-Thyroxin (Levothyroxin) gehört seit Jahren zu den am meisten verordneten Arzneimitteln. Trotz wiederholter Mahnungen vor einem „Overuse“ steigen die Verordnungszahlen seit Jahren weiter an (1). Hauptindikation für Schilddrüsenhormone ist die symptomatische Hypothyreose, z.B. nach einer Thyreoiditis oder nach Thyreoidektomie. Dagegen ist die milde subklinische Hypothyreose – Definition: erhöhtes TSH < 10 mU/l bei normalen Werten von freiem Thyroxin (fT4) und Trijodthyronin (fT3) – bei jüngeren Personen meist keine Behandlungsindikation (vgl. 2, 3).
Eine Gruppe von Wissenschaftlern um den Endokrinologen Juan Brito von der Mayo-Klinik haben kürzlich die Verordnungen von Levothyroxin in den USA über einen Zeitraum von 10 Jahren untersucht (4). Sie werteten hierfür retrospektiv die Verordnungs- und Labordaten von 110.842 MediCare-Patienten aus mehreren Regionen der USA aus. Die Kohorte umfasste Erwachsene, die zwischen 2008 und 2018 erstmals eine Verordnung für Levothyroxin erhalten hatten und bei denen innerhalb von 3 Monaten vor Beginn dieser Behandlung ein TSH-Spiegel gemessen worden war. Schwangere und Personen nach Schilddrüsenoperationen, Schilddrüsenkrebs oder zentraler Hypothyreose wurden von der Analyse ausgeschlossen. Ziel der Untersuchung war es, das Ausmaß einer möglichen Verordnung ohne eindeutige Indikation über die Jahre zu quantifizieren.
Ergebnisse: Von den Levothyroxin-Erstverordnungen erfolgten 73,1% bei Frauen; das mittlere Alter bei Behandlungsbeginn betrug 46,1 Jahre; 60% der Verordnungen kamen von den Hausärzten, nur 11% von Endokrinologen. Die große Mehrzahl (78%) erhielt nur eine kleine Dosis Levothyroxin (≤ 50 µg/d).
Der mediane TSH-Wert lag bei Therapiebeginn bei 5,3 mU/l (2008: 5,8 mU/l und 2018: 5,3 mU/l; p = 0,79). 59,6% der Levothyroxin-Neuverordnungen erfolgten bei TSH-Spiegeln zwischen 4,5-9,9 mU/l (2008: 56,5%; 2018: 62,3%), 7,1% bei 10,0-19,9 mU/l (2008: 9,4%; 2018: 7,3%) und 4,8% bei > 19,9 mU/l (2008: 6,7%; 2018: 4,8%). Bei Erstverordnung hatten 28,4% der Patienten normale TSH-Werte (0,3-4,4 mU/l), im Jahr 2008 waren es 27,4% und 10 Jahre später 25,6%.
Die Analyse der Subkohorte mit bekannten fT4-Spiegeln (n = 58.706) ergab, dass die Levothyroxin-Behandlung nur bei 8,4% der Personen mit manifester Hypothyreose begonnen wurde (n = 4.948). Die Mehrzahl hatten nur eine milde subklinische Hypothyreose (TSH 4,5-10,0 mU/l, normales fT4).
Die Autoren schlussfolgern, dass in den USA eine Behandlung mit Levothyroxin seit Jahren häufig nur wegen subklinischer Hypothyreose bzw. leicht erhöhten TSH-Spiegeln begonnen wird. Ein Viertel der Neuverordnungen in der untersuchten Klientel erfolgte sogar bei normaler Schilddrüsenfunktion. Es ist unklar warum, möglicherweise zur Gewichtskontrolle oder als mildes Antidepressivum. Diese Praxis ist irrational und widerspricht der Evidenz und den Leitlinien. Die Autoren weisen darauf hin, dass es, außer bei manifester Hypothyreose, keinen Zusammenhang zwischen einer Behandlung mit Levothyroxin und der Lebensqualität, schilddrüsenbezogenen oder depressiven Symptomen, Müdigkeit oder der kognitiven Funktion gibt. Ergänzend sollte noch darauf hingewiesen werden, dass eine nicht indizierte Behandlung mit Schilddrüsenhormonen nicht frei von Nebenwirkungen ist. In den Fachinformationen werden als häufige oder sehr häufige Nebenwirkungen genannt: Palpitationen, Tachykardien, Schlafstörungen, Nervosität und Kopfschmerzen (5). Außerdem sind einige klinisch relevante Interaktionen zu beachten, wie beispielsweise mit Vitamin-K-Antagonisten (Verdrängung aus der Plasma-Eiweißbindung). Die irrationale Verordnung von Schilddrüsenhormonen, besonders bei Frauen, dürfte in Deutschland und Österreich ähnlich häufig sein.
Fazit: Eine Untersuchung aus den USA zeigt, dass das Schilddrüsenhormon Levothyroxin seit Jahren unverändert häufig bei subklinischen Hypothyreosen, also nur bei erhöhten TSH-Spiegeln, und nicht selten sogar bei normaler Schilddrüsenfunktion verordnet wird. Thyroxin gehört auch hierzulande zu den am häufigsten verordneten Medikamenten überhaupt und wahrscheinlich auch zu den am häufigsten irrational verordneten.
Literatur
- Ziegler, R., und Kasperk, H.C.: Schilddrüsentherapeutika. In Schwabe, U., und Ludwig, W.-D. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2020. Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2020. S. 825
- AMB 2016, 50, 73. Link zur Quelle
- Bekkering, G.E., et al. BMJ. 2019, 365, l2006. Link zur Quelle
- Brito, J.P., et al.: JAMA Intern. Med. 2021, published online. Link zur Quelle
- Fachinformation L-Thyroxin Henning (Sanofi) (Zugriff am 2.7.2021). Link zur Quelle