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Multimedikation: Weiterhin keine klare Evidenz für den Nutzen digital unterstützter Entscheidungshilfen

Wiederholt haben wir uns mit dem Thema Polypharmakotherapie (PPT) befasst (1, 2, 4). Ältere und multimorbide Patienten sind erwartungsgemäß besonders häufig davon betroffen. Der Anteil unangemessen verschriebener Arzneimittel (Über-, Unter-, Fehltherapien) ist dabei hoch und „Adverse Drug Events“ (ADE, d.h. UAW, Überdosierungen, Medikationsfehler und allergische Reaktionen) sowie Wechselwirkungen führen dazu, dass Krankenhausaufnahmen älterer Patienten in hohem Ausmaß (in Literaturangaben bis 30%) auf die Einnahme von Arzneimitteln zurückzuführen sind. Bisherige Studien zur PPT-Optimierung mittels systematischer Priorisierung und Rationalisierung von Arzneimitteln erbrachten jedoch widersprüchliche Ergebnisse, was ihre klinische Wirksamkeit betrifft, und sie waren wegen methodischer Mängel und kleiner Patientenzahlen häufig wenig aussagekräftig. Wir haben bereits mehrfach über solche Untersuchungen berichtet (2, 4).

Die aktuell im BMJ publizierte multizentrische, randomisierte, kontrollierte OPERAM-Studie (OPtimizing ThERapy to prevent Avoidable hospital admissions in Multimorbid older adults) ist eine der größten und besonders aufwändigen Untersuchungen, die sich bisher mit der Auswirkung einer strukturierten Optimierung von Arzneimittelverordnungen auf klinische Endpunkte befasst (3).

Methodik: Die Teilnehmer waren ältere Patienten (> 70 Jahre) mit Multimorbidität (≥ 3 chronische Erkrankungen) und PPT (≥ 5 Arzneimittel als Langzeitmedikation), die in Universitätskliniken von 4 europäischen Ländern (Schweiz, Niederlande, Belgien, Irland) elektiv oder akut stationär aufgenommen worden waren. Die teilnehmenden Stationen (nicht-chirurgische und chirurgische) wurden dafür in 110 „Cluster“ (definiert durch die jeweils zuständigen Studienärzte) gebündelt. Die Ärzte und damit die Cluster wurden 1:1 randomisiert zu Standardbehandlung versus Arzneimitteloptimierung. Letztere wurde durch einen Arzt und einen Apotheker mit Unterstützung durch ein klinisches „Decision Software System“ („Systemic Tool to Reduce Inappropriate Prescribing“ = STRIP) durchgeführt. Nach definierten Kriterien wurden damit während des Aufenthalts unangemessen verschriebene Arzneimittel identifiziert. Sowohl ein zu viel („Screening tool of older person’s prescriptions = STOPP) als auch ein zu wenig („Screening tool to alert to the right treatment“ = START) an Medikation wurde dabei berücksichtigt. Die Umsetzung der Medikationsänderung erfolgte nach Möglichkeit noch während des Aufenthalts, ansonsten nach Entlassung mittels Empfehlung an den Hausarzt. Die Patienten und ihre sonstigen Klinik- und Hausärzte waren zwar nicht informiert über die Gruppenzuteilung. Jedoch ließ sich diese aus den vorhandenen bzw. nicht vorhandenen Empfehlungen zumindest in manchen Fällen erahnen. Für die Nachbeobachtung waren die zuständigen Teams vollständig verblindet.

Primärer Endpunkt war die erste Arzneimittel-bezogene Krankenhausaufnahme innerhalb von 12 Monaten nach der Index-Entlassung. Daneben wurden nach 2 bzw. 12 Monaten zahlreiche sekundäre Endpunkte erfasst, u.a. Mortalität, Stürze, Lebensqualität (EQ-5D-Fragebogen). Die Endpunkte wurden durch die verblindeten Nachbeobachtungsteams mittels Telefoninterviews erhoben.

Ergebnisse: Es wurden von Dezember 2016 bis Oktober 2018 insgesamt 2.008 ältere Patienten (Median: 79 Jahre; 44,7% Frauen) mit Multimorbidität (Median: 11 Erkrankungen) und PPT (Median: 9 Arzneimittel) in 54 Interventionscluster (963 Patienten) und 56 Kontrollcluster (1.045 Patienten) eingeschlossen. Im Interventionsarm wurden bei 86,1% (n = 789) unangemessen verschriebene Arzneimittel identifiziert. Im Mittel wurden pro Patient 2,75 STOPP/START-Empfehlungen abgegeben (insgesamt 2.331 Empfehlungen, davon 65,4% STOPP und 34,6% START). Bei 491 (62,2%) Patienten wurde nach 2 Monaten zumindest eine Empfehlung erfolgreich umgesetzt.

In der Interventionsgruppe kam es nicht signifikant seltener zu einer Arzneimittel-bezogenen Krankenhausaufnahme als in der Kontrollgruppe (21,9% vs. 22,4%; 211 vs. 234; Hazard Ratio = HR: 0,95; 95%-Konfidenzintervall = CI: 0,77-1,17). Die präspezifizierten Subgruppen zeigten weitestgehend dieselben Effekte, mit wenigen Ausnahmen: Bei dementen Patienten und in einem einzelnen belgischen Zentrum war das Ergebnis signifikant positiv. Stürze (HR: 0,96; CI: 0,79-1,15) und Mortalität (HR: 0,90; CI: 0,71-1,13) waren ebenfalls nicht signifikant beeinflusst, ebenso alle anderen sekundären Endpunkte – mit Ausnahme der Lebensqualität, die in der Interventionsgruppe besser war.

Diskussion: Die Ergebnisse der aufwändig durchgeführten OPERAM-Studie bestätigen, dass älteren, multimorbiden Krankenhauspatienten mit Multimedikation häufig unangemessene Arzneimittel verordnet werden. Diese lassen sich zwar durch eine strukturierte und Software-unterstützte Optimierung vermindern, aber auch in dieser Studie konnten klinischen Endpunkte nicht reduziert werden. Diese Ergebnisse stimmen überein mit früheren, allerdings deutlich kleineren und methodisch meist problematischen klinischen Studien.

Die OPERAM-Autoren diskutieren mehrere Erklärungen, weshalb sich die PPT-Optimierung in ihrer Studie nicht günstig auf klinische Endpunkte ausgewirkt hat:

  • Eine einmalige Überprüfung der Medikationsliste eines Patienten ist wahrscheinlich zu wenig, um sich positiv auszuwirken. Während eines Beobachtungszeitraumes von 12 Monaten finden zwangsläufig auch andere (Fach-)Arztkonsultationen statt, die möglicherweise positive Effekte durch Verschreibung bzw. Absetzen von Arzneimitteln konterkarieren können.

  • Die Umsetzung der Optimierungsempfehlungen nach 2 Monaten war in der OPERAM-Studie nicht optimal. Dies liegt möglicherweise am „Multicenter-Design“. Vergleichbare „Single-Center“-Studien konnten hier eine bessere Implementierung erreichen. Für die Studienärzte war es offenbar besonders schwierig, die Hausärzte von den Maßnahmen zu überzeugen, da zu ihnen der direkte Kontakt fehlte, während die behandelnden Krankenhausärzte mehr in die Studie eingebunden und von ihrem Sinn und Zweck überzeugt werden konnten.

  • Insbesondere „START“-Empfehlungen waren schwer umzusetzen, auch wenn diese einen klinisch bewiesenen positiven Effekt auf klinische Endpunkte hatten (z.B. ACE-Hemmer bei Herzinsuffizienz, Statine).

Künftige Studien sollten daher wesentlich stärker niedergelassene Ärzte einbinden. Die Fragen, wann, wo und wem Änderungen einer PPT kommuniziert werden sollen, sind offenbar von zentraler Bedeutung. Auch eine Fokussierung auf besonders sensible Arzneimittelklassen mit bekannten klinischen Auswirkungen im Falle von Über- bzw. Untertherapie erscheint sinnvoll.

Allerdings hatte bereits die 2020 im BMJ publizierte PRIMA-eDS-Studie mit ganz ähnlicher Fragestellung einen starken Focus auf die Primärversorgung gelegt (4, 5): Es wurden 350 Hausarztpraxen für bzw. gegen Nutzung eines elektronischen „Decision-Support Systems“ bei älteren Menschen mit Multimedikation randomisiert (1.953 vs. 1.951 Patienten). Über 2 Jahre konnte auch in dieser Studie kein statistisch signifikanter Nutzen auf patientenrelevante Endpunkte nachgewiesen werden (primärer Endpunkt: Kombination aus ungeplanten Krankenhausaufenthalten und Tod; sekundärer Endpunkt: u.a. Stürze, Frakturen, Lebensqualität).

Fazit: Experten und Nichtexperten stimmen darin überein, dass eine rationale Priorisierung angemessener Arzneimittel gegenüber nicht angemessenen Arzneimitteln bei älteren, multimorbiden Patienten mit Multimedikation von großer Bedeutung ist. Für diesen Zweck wurden inzwischen unterschiedliche analoge und digitale Entscheidungshilfen entwickelt. Allerdings konnte mit keinem dieser Systeme bislang überzeugend nachgewiesen werden, dass aus medizinischer Sicht ungünstige Ereignisse verringert wurden, wie z.B. Krankenhausaufnahmen. Dies trifft auch zu für das in der aktuell publizierten, verhältnismäßig großen, multizentrischen OPERAM-Studie vorgestellte STRIP-System. In der ärztlichen Praxis bleibt daher weiterhin die wichtigste Maßnahme zur Optimierung der Therapie bei Patienten mit Multimedikation, bei jedem Patientenkontakt individuell und (selbst)kritisch eigene und Verschreibungen anderer Ärzte zu überprüfen.

Literatur

  1. AMB 2009, 43, 40ÖB01. Link zur Quelle AMB 2008, 42, 39. Link zur Quelle AMB 2010, 44, 49. Link zur Quelle AMB 2014, 48, 80DB01. Link zur Quelle AMB 2020, 54, 91. Link zur Quelle
  2. AMB 2018, 52, 23. Link zur Quelle AMB 2010, 44, 95. Link zur Quelle
  3. Blum, M.R., et al. (OPERAM = OPtimizing ThERapy to prevent Avoidable hospital admissions in Multimorbid older adults): BMJ 2021, 374, n1585. Link zur Quelle
  4. AMB 2020, 54, 68DB01. Link zur Quelle
  5. Rieckert, A., et al. (PRIMA-eDS = Polypharmacy in chronic diseases – Reduction of Inappropriate Medication and Adverse drug events in older population by electronic Decision Support): BMJ 2020, 369, m1822. Link zur Quelle