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Einsamkeit – ein Risikofaktor für Multimedikation und für die Verordnung von Risikomedikamenten?

Einsamkeit ist bei älteren Menschen vermehrt mit physischen und psychischen Symptomen, wie Schmerzen, Schlaflosigkeit, Depression und Angstzuständen, assoziiert (1). Entsprechend ist die Wahrscheinlichkeit für die Einnahme von Arzneimitteln erhöht, die bei diesen körperlichen oder psychischen Symptomen verschrieben werden (s.u.). Die meisten dieser Medikamente sind jedoch für ältere Menschen riskant und führen vermehrt zu Nebenwirkungen, wie Abhängigkeit, gastrointestinale Blutungen, Stürze, Knochenbrüche, Delir, kognitive Einbußen und sogar zu erhöhter Letalität. Geriater von der University of California wollten diese Zusammenhänge bestätigen und quantifizieren. Hierzu führten sie eine Querschnittsstudie bei älteren US-Amerikanern durch, die zu Hause lebten (1).

Methodik: Für die Untersuchung wurden die Querschnittsdaten aus dem überregionalen „National Social Life, Health, and Aging Project“ (NSHAP) verwendet, bei dem zu 3 verschiedenen Zeitpunkten (2005, 2010, 2015) eine repräsentative Umfrage unter Personen > 65 Jahre durchgeführt wurde. Insgesamt wurden für die Fragestellung die Daten von 6.017 Teilnehmern ausgewertet. Der Grad der Einsamkeit wurde anhand des sog. „UCLA Loneliness Scale“ in 3 Kategorien eingeteilt: keine – geringe/moderate – oder ausgeprägte Einsamkeit. Die Teilnehmer wurden durch Interviewer zu Hause zu ihrer Dauermedikation befragt, und die Medikationsliste und Diagnosen wurden durch klinische Pharmazeuten überprüft und klassifiziert. Gesucht wurde u.a. nach Medikamenten, die nach den sog. „Beers-Kriterien“ der American Geriatrics Society für ältere Personen als riskant angesehen werden (vgl. 3). Dazu zählen Opioide, nichtsteroidale Antirheumatika (NSAID), Benzodiazepine und andere Hypnotika, sowie Antidepressiva. Gesucht wurde nach Polypharmakotherapie (Definition: ≥ 5 Dauermedikamente) und nach Medikamenten, die zur Behandlung chronischer Erkrankungen verschrieben werden, für die aber kein Zusammenhang mit Einsamkeit gesehen wird, beispielsweise Lipidsenker, Antihypertensiva und ASS.

Ergebnisse: Das mittlere Alter der Teilnehmer betrug 73 Jahre, 54% waren Frauen, 84% Weiße; 396 (7%) wurden als sehr einsam und 2.388 Personen (40%) als gering/mäßig einsam eingestuft. Folgende, für die Fragestellung interessanten Vordiagnosen bzw. Symptome wurden aus den Krankengeschichten erhoben: 50% Schmerzen, 34% Schlaflosigkeit, 11% Depression, 6% Angst und 52% Multimorbidität. Alle der genannten Störungen waren signifikant prävalenter bei den sehr einsamen Studienteilnehmern (64%, 50%, 46%, 20% und 58%).

Die Verordnung von folgenden Arzneimittelgruppen war signifikant mit Einsamkeit assoziiert (Prozent-Angaben jeweils für „sehr einsam“; „moderat einsam“; „nicht einsam“ – Hazard-Ratios werden nicht genannt: NSAID (22%; 17%; 14%), Benzodiazepine (11%; 7%; 5%), Anxiolytika/Sedativa (20%; 12%; 9%) und Antidepressiva (27%; 19%; 14%). Für Verordnungen von Opioden (10%; 7%; 7%), Lipidsenker, Antihypertensiva und ASS fand sich kein statistisch gesicherter Zusammenhang. Auch Polypharmakotherapie war signifikant mit Einsamkeit assoziiert (50%; 44%; 41%).

Die Autoren sehen einen bidirektionalen Zusammenhang zwischen Einsamkeit, den untersuchten Störungen und der Einnahme von Arzneimitteln. Einerseits sei Einsamkeit ein Risikofaktor für die Entwicklung körperlicher oder psychischer Symptome und andererseits sei sie eine Folge dieser Symptome. Dies sei schwer auseinanderzuhalten. In beiden Situationen könnten Medikamente die Störung aber wahrscheinlich nicht zufriedenstellend behandeln. Einsamkeit zu erkennen und zu benennen, könnte deshalb dabei hilfreich sein, Verschreibung von Hochrisikomedikamenten und Polypharmakotherapie zu reduzieren. Die behandelnden Ärzte sollten die Möglichkeit haben, soziale Interventionen zu verordnen (“social prescribing”). Hierzu seien mehr regionale, gemeindebasierte Programme für ältere Menschen erforderlich.

Fazit: Nach einer bevölkerungsbasierten Beobachtungsstudie ist Einsamkeit bei älteren Menschen mit Schmerz, Schlaflosigkeit, Depression und Angstzuständen assoziiert. Einsamkeit geht außerdem mit Multimedikation und der Verordnung von Risikomedikamenten einher. Ob die von den Autoren vorgeschlagene Empfehlung für soziale Interventionen zu weniger (riskanten) Verordnungen und zu mehr Sicherheit bei einsamen älteren Menschen führt, sollte in einer Interventionsstudie überprüft werden.

Literatur

  1. Perissinotto, C., et al.: J. Am. Geriatr. Soc. 2019, 67, 657. Link zur Quelle
  2. Kotwal, A.A., et al.: JAMA Intern. Med. 2021. Published online July 26. Link zur Quelle
  3. AMB 2019, 53, 31. Link zur Quelle