Kopfschmerz durch übermäßigem Gebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln (englisch: „medication overuse headache“ = MOH) ist die häufigste Ursache für chronische Kopfschmerzen und betrifft in Deutschland 0,7-1% der Bevölkerung und 40-50% der Patienten mit chronischen Kopfschmerzen [1]. Der MOH ist von großer medizinischer und ökonomischer Relevanz, da er zu den 20 häufigsten Erkrankungen gehört, die zu Behinderungen und Einschränkungen im Alltag führen [2].
Die Diagnose MOH kann nach den Kriterien der International Headache Society gestellt werden, wenn chronische Kopfschmerzen bestehen (d.h. wenn über einen Zeitraum von mindestens 3 Monaten an ≥ 15 Tagen pro Monat Kopfschmerzen auftreten) und an mindestens 10 Tagen (bei Triptanen, Opioiden oder Kombinationsanalgetika) bzw. 15 Tagen pro Monat (bei einfachen Analgetika) Schmerzmittel eingenommen werden [3]. Ein MOH tritt quasi ausschließlich bei Patienten mit einem primären Kopfschmerzsyndrom auf; meist liegt eine Migräne zugrunde, seltener Kopfschmerzen vom Spannungstyp. Typischerweise nimmt die Häufigkeit und Intensität der initial episodischen Kopfschmerzen unter dem Medikamenten-Übergebrauch zu. Bei einem Teil der Patienten mit Migräne ändert sich die Charakteristik des Kopfschmerzes im Verlauf der Entwicklung eines MOH, indem zunehmend Symptome auftreten, die Kopfschmerzen vom Spannungstyp ähneln.
Risikofaktoren für die Entwicklung eines MOH sind Migräne oder Kopfschmerzen vom Spannungstyp mit > 10 Kopfschmerztagen/Monat, weibliches Geschlecht, andere chronische Schmerzerkrankung, Übergewicht, Bewegungsmangel, Rauchen, Stress, Depression und Angsterkrankungen sowie niedriger sozialer Status [1]. Das höchste Risiko der Entwicklung eines MOH besteht bei Opioiden, gefolgt von Triptanen und Kombinationsanalgetika [4], [5].
Primäres Ziel einer Therapie des MOH ist es, einen chronischen Kopfschmerz in einen episodischen Kopfschmerz zu überführen, der dann bedarfsweise mit Analgetika behandelt werden kann. Es wurde gezeigt, dass auch die Lebensqualität und psychische Begleiterkrankungen durch eine erfolgreiche Behandlung des MOH günstig beeinflusst werden [6], [7]. Zudem ist eine Reduktion der Einnahme von nichtsteroidalen Antiphlogistika (NSAID) sinnvoll, um das Risiko von Nebenwirkungen zu verringern. Die optimale Therapie des MOH wird kontrovers diskutiert [8]. Prinzipiell stehen drei Ansätze zur Verfügung: 1. Beratung und Schulung, 2. Medikamentenentzug und 3. medikamentöse Prophylaxe des zugrundeliegenden Kopfschmerzsyndroms. In Studien führte allein die Beratung und Schulung durch Ärzte oder Kopfschmerzschwestern („headache nurses“) bei 25-76% der Patienten zu einer Reduktion der Medikamenteneinnahme, sodass die Kriterien eines MOH nicht mehr erfüllt waren [1]. Bei Patienten ohne psychische Komorbidität und ohne Übergebrauch von Opioiden kann die Wirksamkeit einer Beratung und Schulung daher zunächst anhand eines Kopfschmerzkalenders evaluiert werden [7]. Meist ist jedoch zusätzlich ein Entzug, eine Prophylaxe bzw. eine Kombination beider Maßnahmen für einen anhaltenden Behandlungserfolg erforderlich. Ein Entzug kann in der Regel ambulant erfolgen, entweder als abrupte Medikationspause für mehrere Wochen oder als Beschränkung auf maximal zwei Schmerzmittel-Einnahmetage pro Woche. Für die Überlegenheit eines abrupten Entzugs liegen Hinweise vor [1], [9]). Typische Symptome eines Analgetikaentzugs sind zunehmende Kopfschmerzen, Übelkeit, Nervosität und Schlafstörungen. Die Entzugsphase dauert meist wenige Tage und ist bei Triptanen am kürzesten und mildesten. Zur Behandlung von Entzugssymptomen werden trizyklische Antidepressiva, niederpotente Neuroleptika und Antiemetika empfohlen. Kontrollierte Studien liegen hierzu allerdings nicht vor [1]. Für die medikamentöse Prophylaxe des MOH bei zugrundeliegender Migräne ist ein Wirksamkeitsnachweis für Topiramat, Onabotulinumtoxin A und die kostenintensiven monoklonalen Antikörper gegen das Calcitonin Gene-Related-Peptide (CGRP) belegt [1], vgl. [10]. Andere Wirkstoffe, die zur Prophylaxe der episodischen Migräne eingesetzt werden (z.B. Metoprolol, Amitriptylin, Flunarizin), sind bei MOH nicht ausreichend untersucht. Bei einem zugrundeliegenden Kopfschmerz vom Spannungstyp wird gemäß Expertenkonsens eine Prophylaxe mit Amitriptylin empfohlen ([1], [7]). Umstritten ist, ob zur optimalen Therapie des MOH die Kombination einer Medikamentenpause mit gleichzeitiger Einleitung einer Prophylaxe empfohlen werden sollte oder ob zunächst eine dieser beiden Maßnahmen allein ausreicht. Die Leitlinie der European Academy of Neurology empfiehlt einen Entzug vor Beginn einer Prophylaxe [7]. Die deutsche Leitlinie schätzt die Wirksamkeit eines Entzugs und einer medikamentösen Prophylaxe als gleichwertig ein und empfiehlt die Kombination beider Maßnahmen trotz fehlendem Nachweis einer Überlegenheit gegenüber einer Behandlung mit Entzug bzw. Prophylaxe allein [1].
Die offene, pragmatische DEFINE3-Studie wurde monozentrisch in einer dänischen Kopfschmerzambulanz durchgeführt [11]. 120 Patienten mit MOH wurden im Verhältnis 1:1:1 in 3 Behandlungsarme mit unterschiedlichen Strategien randomisiert: 1. Prophylaxe plus Entzug, 2. Prophylaxe ohne Entzug und 3. Entzug mit optionaler Prophylaxe 2 Monate nach Beginn des Entzugs. Patienten der beiden Entzugs-Gruppen wurden instruiert, für 2 Monate keine Analgetika einzunehmen. Zur Linderung von Entzugssymptomen konnten Sedativa bzw. Neuroleptika (z.B. Promethazin) und Antiemetika (z.B. Metoclopramid) eingesetzt werden. Nach dem Entzug konnten Analgetika bei Bedarf an bis zu 9 Tagen monatlich (bzw. bis zu 14 Tage bei Monotherapie mit einem NSAID) eingenommen werden. Die Prophylaxe wurde individuell gemäß der Leitlinie des Kopfschmerzzentrums ausgesucht. Bei Patienten, die bereits wirksam mit einer pharmakologischen Prophylaxe behandelt wurden, wurde diese fortgesetzt und ggf. die Dosis optimiert. Bei Unverträglichkeit oder mangelnder Wirksamkeit konnte der Wirkstoff ausgewechselt werden.
Insgesamt schlossen 102 Patienten die Studie nach 6 Monaten ab (mittleres Alter 44 Jahre, 79% Frauen). Bei Studienbeginn bestanden im Median 27 Kopfschmerztage pro Monat. Ein MOH lag im Median seit 2 Jahren vor. Als primäre Kopfschmerzerkrankung wurden Migräne (52%), Kopfschmerz vom Spannungstyp (15,7%) bzw. eine Kombination dieser beiden Kopfschmerzsyndrome (32,4%) identifiziert. Ein vollständiges Absetzen von Analgetika gelang bei gut der Hälfte der Patienten in den beiden Studienarmen, die einen Entzug vorsahen. Alle restlichen Patienten dieser beiden Behandlungsgruppen reduzierten die Einnahme von Analgetika auf < 9 Tage/Monat. Der am häufigsten verordnete Wirkstoff zur Prophylaxe war Candesartan (vgl. [12]), gefolgt von Amitriptylin. Topiramat wurde nur bei 3% der Patienten verordnet und kein Patient wurde mit Onabotulinumtoxin A behandelt; monoklonale Antikörper gegen CGRP waren zum Zeitpunkt der Studie noch nicht verfügbar. Sechs Monate nach Studieneinschluss wurde eine medikamentöse Prophylaxe von 93,5% in der Gruppe 1 (Prophylaxe plus Entzug), von 85,7% in der Gruppe 2 (Prophylaxe ohne Entzug) und von 61,1% in Gruppe 3 (Entzug mit optionaler Prophylaxe 2 Monate nach Beginn) eingenommen. Das Ergebnis im primären Studienendpunkt, die Reduktion der Kopfschmerztage nach 6 Monaten, unterschied sich statistisch nicht zwischen den 3 Gruppen (Prophylaxe plus Entzug: 12,3 Tage; Prophylaxe ohne Entzug: 9,9 Tage; Entzug mit optionaler Prophylaxe 2 Monate nach Beginn: 8,5 Tage). Der Anteil von Patienten, deren Kopfschmerz nach 6 Monaten von einem chronischen in einen episodischen Verlauf überging, war höher bei Patienten, die mit Prophylaxe plus Entzug (74,2%) behandelt wurden, als bei Patienten, die mit Prophylaxe ohne Entzug (60,0%) bzw. Entzug mit optionaler Prophylaxe (41,7%) behandelt wurden (p = 0,03). Die Chance für eine Transition von einem chronischen in einen episodischen Kopfschmerz war bei Behandlung mit Prophylaxe plus Entzug um 80% größer als bei Entzug mit optionaler Prophylaxe (Relatives Risiko = RR: 1,8; 95%-Konfidenzintervall = CI: 1,1-2,8). Die Diagnosekriterien eines MOH waren 6 Monate nach Studienbeginn bei 96,8% der mit Prophylaxe plus Entzug behandelten Patienten nicht mehr erfüllt (Prophylaxe ohne Entzug: 74,3%; Entzug mit optionaler Prophylaxe: 88,9%). Prophylaxe plus Entzug führte zu einer um 30% höheren Chance für ein Sistieren des MOH im Vergleich zu ausschließlich mit Prophylaxe behandelten Patienten (RR: 1,3; CI: 1,1-1,6; p = 0,03).
Bemerkenswert an der DEFINE3-Studie ist, dass fast ausschließlich Wirkstoffe zur Prophylaxe eingesetzt wurden, die zwar Wirksamkeit bei der episodischen Migräne gezeigt haben, für die aber aufgrund mangelnder Daten kein Wirksamkeitsnachweis bei MOH vorliegt. Es stellt sich daher die Frage, ob eine Behandlung mit Topiramat, Onabotulinumtoxin A bzw. den monoklonalen Antikörpern gegen CGRP (Erenumab, Fremanezumab, Galcanezumab; vgl. [13]), für die Wirksamkeit bei Migräne in Kombination mit MOH nachgewiesen ist, das Ergebnis der Studie verändert hätte. Die monoklonalen Antikörper gegen CGRP bzw. den CGRP-Rezeptor sind in Deutschland allerdings nur verordnungsfähig, wenn alle anderen zugelassenen Medikamente nicht wirksam waren, nicht vertragen wurden oder wenn gegen deren Einnahme Kontraindikationen bestehen.
Die Ergebnisse der DEFINE3-Studie wurden kürzlich von einer weiteren großen, pragmatischen, klinischen Studie ergänzt, in der 720 Patienten mit MOH und chronischer Migräne randomisiert wurden [10]. In dieser Studie war die Wirksamkeit einer medikamentösen Migräneprophylaxe im Vergleich zu einer Kombination aus Migräneprophylaxe plus Umstellung der zu häufig verwendeten Akutmedikation auf eine Alternative, die maximal an 2 Tage/Woche verwendet werden durfte, hinsichtlich der Reduktion der schweren bis mittelschweren Kopfschmerztage nicht unterlegen.