Wir haben zuletzt vor 5 Jahren über die unklare klinische Bedeutung pharmakogenetischer Routine-Tests in der Arzneimitteltherapie berichtet. Anders als bei gezielten pharmakogenetischen Tests bei bestimmten Risikomedikamenten (z.B. die UGT1A1-Genotypisierung vor Anwendung von Irinotecan in der Onkologie) oder zur Abklärung einer unzureichenden Wirksamkeit oder unerwarteter Nebenwirkungen hatten wir ein genetisches Screening ohne speziellen Anlass abgelehnt, da kein Nutzen in aussagekräftigen Studien nachgewiesen war (vgl. [1]).
Nun wurde im Lancet eine prospektive Studie zum Nutzen einer solchen Screening-Untersuchung veröffentlicht [2]. Die offene, sog. „real world implementation study“ mit dem Akronym PREPARE wurde von einem Konsortium (U-PGx) in 7 europäischen Ländern (s.u.) mit unterschiedlichen Gesundheitssystemen durchgeführt und von der Europäischen Union finanziert („European Union Horizon 2020“). Die Studienhypothese lautete, dass eine Therapiesteuerung anhand des Genotyps bestimmter, am Metabolismus von Arzneimitteln beteiligter Proteine zu weniger unerwünschten Arzneimittelereignissen (UAE) führt.
Hierzu wurden die > 60 teilnehmenden Studienzentren aus den Bereichen Allgemeinmedizin, Onkologie, Neurologie, Psychiatrie, Innere Medizin und klinische Pharmazie „en bloc“ nach Ländern randomisiert. In der ersten, mehrmonatigen Studienphase erfolgte die Intervention zunächst bei den fortlaufend rekrutierten Patienten in Spanien, Griechenland sowie Slowenien, und die Patienten in Österreich, Italien, Niederlande und Großbritannien dienten als Kontrolle. Dort wurden die rekrutierten Patienten wie üblich behandelt. Nach 19 Monaten erfolgte dann der Wechsel der Länder auf die jeweils andere Strategie.
Die Studienpatienten waren ≥ 18 Jahre alt und erhielten neu eines von knapp 50 Index-Medikamenten, für das nach den Leitlinien der „Dutch Pharmacogenetics Working Group“ (DPWG; [3]) eine handlungsbedürftige genetische Variante besteht und eine Anpassung der Therapie empfohlen wird. Nach Voruntersuchungen ist zu erwarten, dass etwa ein Drittel der Europäer eine solche Variante hat. Zu den Ausschlusskriterien zählten u.a. schwere Leber- und Niereninsuffizienz.
Alle eingeschlossenen Patienten erhielten eine Genotypisierung von 12 am Arzneimittelmetabolismus häufig beteiligten Proteinen: CYP2B6, CYP2C9, CYP2C19, CYP2D6, CYP3A4, DPYD, F5, HLA-B, SLCO1B1, TPMT, UGT1A1, VKORC1. Die Proben wurden aus dem Blut oder Speichel gewonnen; die Messungen erfolgten dezentral mit dem sog. SNPline™-Workflow-Test. Alle Zentren nahmen an einer Qualitätskontrolle nach dem „European Molecular Genetics Quality Network“ teil.
Die Patienten in der Interventionsgruppe erhielten eine Chipkarte mit ihren Testergebnissen („Medication Safety Code Card“) und ihre behandelnden Ärzte Zugang zu einer webbasierten Entscheidungshilfe mit der Information, welche Empfehlungen die DPWG bei bestimmten genetischen Varianten gibt [4]. Die Einhaltung dieser Empfehlungen war jedoch nicht zwingend. Patienten in der Kontrollgruppe erhielten ebenfalls eine Chipkarte, die aber keine Informationen zum Genotyp enthielt.
Primärer Studienendpunkt war das Auftreten einer UAE innerhalb von 12 Wochen. Die Bewertung der UAE erfolgte vor Ort durch speziell geschulte Ärzte oder Pharmazeuten nach Kausalität anhand des „Liverpool Causality Assessment Tool“ sowie nach klinischer Relevanz anhand der „US National Cancer Institute (NCI) Common Terminology Criteria for Adverse Events“ (CTCAE). Die Studienteilnehmer wurden mit Hilfe regelmäßiger, standardisierter Telefoninterviews nachverfolgt. Die Nachbeobachtungszeit betrug mindestens 12 Wochen und maximal 18 Monate.
Ergebnisse: Knapp 41.700 Patienten wurden zwischen März 2017 und Juni 2020 gescreent und 6.944 eingeschlossen. Das mittlere Alter betrug 58 Jahre; 51,4% waren Frauen. Der mittlere „Global Health Score“ betrug 0,69. Dabei handelt es sich um eine Bewertung von 10 Aspekten aus 5 Kerndomänen zur physischen, mentalen und sozialen Gesundheit, wobei die niedrigste mögliche Punktzahl (0,328) einen sehr schlechten und die höchste (0,877) einen sehr guten Gesundheitszustand bedeutet. Das häufigste Index-Medikament war Atorvastatin (n = 716), gefolgt von Clopidogrel (n = 619) und Tacrolimus (n = 472). Die mittlere Zahl der zusätzlich eingenommenen Medikamente betrug 7,8.
Im Rahmen der genetischen Testung wurde bei 1.725 Teilnehmern (25,2%) mindestens eine handlungsbedürftige genetische Variante gefunden. Am häufigsten betroffen waren CYP2D6, CYP2C9 und CYP2C19, und die am häufigsten von den Behandlungsempfehlungen der DPWG betroffenen Medikamente waren: Venlafaxin, Metoprolol, Tamoxifen, Codein, Oxycodon, Amitriptylin, Warfarin, Simvastatin, Sertralin, Citalopram und Escitalopram. Die empfohlenen Therapieanpassungen wurden bei knapp 70% der Teilnehmer umgesetzt. Dabei handelte es sich meist um den Wechsel auf einen anderen Wirkstoff (29%), die Reduktion der Dosis (17%) oder die Maßgabe zu erhöhter Vigilanz (14%).
Insgesamt 99 Patienten (1,6% im Interventions- und 1,3% im Kontrollarm) zogen ihre Einwilligung im Laufe der Studie zurück, und 751 Patienten (12,5% im Interventions- und 9,2% im Kontrollarm) gingen im Studienverlauf verloren. Die Auswertung der UAE erfolgte nach „Intention to treat“.
In den Telefoninterviews wurden von 3.303 Patienten insgesamt 10.718 UAE-Verdachtsfälle gemeldet. Nach der Analyse durch Experten wurden 3.096 UAE bei 1.563 Patienten bestätigt und gingen in die Analyse ein („Liverpool Causality Assessment Tool“: ≥ 18 Punkte; CTCAE-Grad ≥ 2).
In einer ersten, sog. „gatekeeping analysis“ wurden zunächst nur die Ergebnisse der Patienten mit einer handlungsbedürftigen genetischen Variante ausgewertet (725 in der Interventionsgruppe und 833 in der Kontrollgruppe). Hier zeigte sich eine signifikante Reduktion der UAE um 30%: UAE-Inzidenz 21,0% vs. 27,7%; Odds Ratio = OR: 0,70; 95%-Konfidenzintervall = CI: 0,54-0,91; p = 0,0075. In der anschließenden Auswertung der Daten aller verfügbaren Patienten (2.923 in der Interventionsgruppe und 3.270 in der Kontrollgruppe) war der Effekt ebenso groß: UAE-Inzidenz 21,5% vs. 28,6%; OR: 0,70; CI: 0,61-0,79; p < 0,0001).
Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine Genotyp-gesteuerte Arzneimitteltherapie die Inzidenz klinisch relevanter UAE in verschiedenen Gesundheitssystemen senken kann und eine großflächige Umsetzung dazu beitragen könnte, die Arzneimitteltherapie sicherer zu machen.
Im begleitenden Kommentar [5] wird bemängelt, dass die Art der UAE in der Arbeit nicht genannt werden. Es bleibe somit unklar, was verhindert wurde. Ergänzend sollte auch erwähnt werden, dass auch keine Angaben zu Mortalität oder Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen gemacht werden. Auch gehen die Autoren nicht auf mögliche negative Effekte der Intervention ein, z.B. Verzögerung der Therapie oder vermehrte Kosten. Bemerkenswert ist, dass im Interventionsarm auch bei Patienten ohne handlungsbedürftige genetische Variante weniger UAE aufgetreten sind. Dies bedeutet, dass es in der Studie wahrscheinlich einen von der Genotypisierung unabhängigen Effekt gab, beispielsweise dass generell umsichtiger mit Medikamenten agiert wurde.
Für zukünftige Forschungen müsse nach Ansicht der Kommentatoren der sog. „metabolische Phänotyp“ berücksichtigt werden. Alle derzeit zur Verfügung stehenden Handlungsempfehlungen bezögen sich auf einzelne Arzneimittel-Gen-Paare. In der Realität gebe es aber viel häufiger die Situation von Multimedikation und mehrfachen Arzneimittel-Gen-Paaren. Jedes zusätzliche Medikament könne den metabolischen Phänotyp erheblich beeinflussen, auch unabhängig von genetischen Varianten. Dies erfordere neben der Genotypisierung sehr viel mehr Daten und wesentlich komplexere Algorithmen.