Aus dem antiken Griechenland ist bekannt, daß Übergewichtige, die abnehmen wollten, angehalten wurden, nur einmal täglich zu essen, harte Arbeit zu verrichten, keine Bäder zu nehmen, auf harten Betten zu schlafen und so lange wie möglich nackt umherzulaufen. Die Behandlung der Adipositas hat sich glücklicherweise verändert; aber wie wirksam sind die Angebote, die wir den Patienten heute anbieten können? Stationäre Behandlungsmethoden sind seit Jahren etabliert, jedoch gibt es noch große Defizite in der ambulanten Versorgung. Da Ärzte in der Regel nicht in der Lage sind, das Gewicht adipöser Patienten langfristig zu senken, sind sie – ebenso wie die Betroffenen – frustriert. Ob die neuen, mit viel Werbeaufwand präsentierten Medikamente aus dieser Zwickmühle helfen können, soll nachfolgend dargestellt werden.
Diagnostik und Einteilung: Mit klinischem Blick kann man selbstverständlich eine Adipositas diagnostizieren und wahrscheinlich auch eine Behandlungsindikation stellen. Zur genaueren Klassifizierung (s. Tab. 1) wird der Body-Mass-Index (BMI) errechnet (Körpergewicht : Körpergröße2 [kg/m2]). Dieser Wert korreliert besser als der Broca-Index mit der Masse des Körperfetts und kann ebenso leicht bestimmt werden. Da besonders das abdomielle Fett ein Prädiktor für das kardiale Risiko ist – die bauchbetonte (androide) Adipositas wirkt sich im Vergleich mit der schenkelbetonten (gynoiden) nachteiliger aus – spielt das Fettverteilungsmuster eine entscheidende Rolle. Die Fettverteilung kann jedoch nur indirekt bestimmt werden (Messung der subkutanen Fettschicht mit Infrarot-Verfahren, bioelektrischer Impedanz, Densitometrie, nukleare oder radiographische Verfahren). In der Praxis und in der Klinik hat sich jedoch das Maßband als einfaches, billiges und effektives Meßinstrument bewährt. Der Bauchumfang erweist sich, unabhängig von der Körpergröße, als Richtwert für das kardiale Risiko (14). Es besteht ein erhöhtes bzw. deutlich erhöhtes kardiovaskuläres Risiko bei Männern ab einem Bauchumfang von 94 bzw. 102 cm und bei Frauen ab 80 bzw. 88 cm im Vergleich zu Normalgewichtigen. In wissenschaftlichen Studien werden leider verschiedene Klassifikationen des Übergewichts verwendet. International etabliert sich zunehmend die Einteilung nach der WHO.
Epidemiologie: Epidemiologische Studien zeigen, daß bei steigender Prävalenz derzeit ungefähr jeder zweite erwachsene Bundesbürger übergewichtig und jeder fünfte adipös ist (1,2), wobei es deutliche regionale Unterschiede gibt. Im Rahmen der internationalen MONICA-Studie der WHO („MONItoring trends and determinants in CArdiovascular disease“) wurden Anfang der achtziger Jahre in mehreren Regionen Deutschlands 6213 Männer und 6608 Frauen im Alter zwischen 35 und 64 Jahren hinsichtlich ihrer kardiovaskulären Risikofaktoren untersucht. Die niedrigste Prävalenz von Adipositas fand sich bei Männern und Frauen im Rhein-Neckar-Gebiet (13% bzw. 12%), die höchste Prävalenz bei Männern im Umland von Augsburg (20%) und bei Frauen in Halle/Saale (27%; 3).
Adipositas als Risikofaktor: Im N. Engl. J. Med. wurde kürzlich eine große prospektive Studie veröffentlicht, die den Zusammenhang von BMI und Letalität bei Männern und Frauen zeigt (4; s.a. AMB 1999, 33, 93b). Das Relative Risiko (RR) zu sterben war bei Männern mit einem BMI < 22,0 und > 26,4 kg/m² und bei Frauen < 20,5 und > 24,9 kg/m² signifikant erhöht. Das RR für einen Tod aller Ursachen oder einen kardiovaskulär bedingten Tod war mit 2,58 bzw. 2,90 bei den weißen Männern mit einem BMI > 35 kg/m² besonders hoch.
Als Ursache für die erhöhte Letalität adipöser Menschen kommen mehrere Erkrankungen in Betracht, die häufig mit deutlichem Übergewicht assoziiert sind: Koronare Herzkrankheit, Schlaganfall, Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie, Arthrose und einige Malignome. Die Wahrscheinlichkeit, an Diabetes mellitus Typ 2 zu erkranken, ist bei adipösen Männern um das 40fache und bei adipösen Frauen um das 90fache im Vergleich zu Normalgewichtigen erhöht (5,6). J.C Seidell. errechnete aus großen prospektiven Studien, daß 64% der männlichen und 77% der weiblichen Typ-2-Diabetiker diese Diagnose erspart geblieben wäre, hätten sie ihr Normalgewicht gehalten. Rechnerisch seien 15-30% der kardialen Todesfälle zu verhindern, wenn der BMI nie über 25 kg/m² gestiegen wäre (1). Eine im März 1999 publizierte Fall-Kontroll-Studie untersuchte 268 Patientinnen und fand heraus, daß das RR, Arthrosen an Hand, Knie oder Hüfte zu bekommen, bei den Frauen im höchsten BMI-Drittel bis zu 10fach erhöht ist im Vergleich zum unteren Drittel (7).
Daß schon ein Gewichtsabnahme von 5-10% zu einer deutlichen Abnahme bekannter kardialer Risikofaktoren führt, ist gut belegt (8) und schon aus diesem Grunde theoretisch erstrebenswert. Generell aber ist eine Gewichtsabnahme und auch ein stark fluktuierendes Körpergewicht nicht mit einer Senkung der Letalität verknüpft (33). Viele Studien belegen sogar das Gegenteil. Eine mögliche Ursache für diesen auf den ersten Blick paradoxen Befund ist, daß eine Gewichtsabnahme nicht selten durch Erkrankungen bedingt ist, die zu einem vorzeitigen Tod führen können. Man muß also zwischen gewollter und ungewollter Gewichtsabnahme unterscheiden. Es ist jedoch schwer, epidemiologisch zwischen gewollter Gewichtsabnahme (in den USA möchten 25% der Männer und 40% der Frauen abnehmen; 9, 34) und der Gewichtsreduktion durch unerkannte konsumierende Erkrankungen mit erhöhter Letalität zu differenzieren. Williamson, D.F., et al. zeigten 1995 erstmals, daß bei übergewichtigen weißen Frauen mit Adipositas-bedingten Begleiterkrankungen eine gewollte Gewichtsabnahme die Letalität um 20% senkt (10).
Im Int. J. Obes. erschien 1999 eine interessante Studie, die zwischen dem Verlust von Körpergewicht und Körperfett unterscheidet (11). Unter diesem Aspekt wurden zwei prospektive Studien, die Tecumseh Community Health Study und die Framingham Heart Study, mit insgesamt 4621 Probanden analysiert, in denen neben dem Körpergewicht auch das Körperfett (Dicke des Unterhaut-Fettgewebes) gemessen wurde. Eine Gewichtsabnahme von 4,6 kg bzw. 6,7 kg erhöhte das relative Letalitätsrisiko um 29% bzw. 39%; jede Verminderung der Hautfaltendicke um 10,0 mm bzw. 4,8 mm jedoch reduzierte das RR zu sterben um 15% bzw. 17%.
Ursachen der Adipositas: Leptin (ob-Protein) ist das Produkt des ob-Gens und wird überwiegend im weißen Fettgewebe gebildet. Die Leptin-Konzentration im Serum verhält sich proportional zum BMI. Leptin-Rezeptoren werden durch das db-Gen kodiert und steuern im Hypothalamus, dem Hunger- und Sättigungszentrum, die Ausschüttung von Neuropeptiden, die unsere Nahrungsaufnahme stimulieren oder inhibieren.
In experimentellen Studien wurde durch parenterale Applikation von Leptin die Nahrungsaufnahme vermindert und die Thermogenese gesteigert. Knock-out-Mäuse, bei denen das ob-Gen defekt ist, bilden kein Leptin und fallen durch Hyperphagie, Fettanlagerung, Wachstumsstörungen, Hyperkortisolismus und Infertilität auf. Ein monogener, nicht-syndromaler Gendefekt wurde erstmalig 1997 auch beim Menschen als Ursache für Adipositas beschrieben. Elf weitere monogene Defekte wurden in jüngerer Zeit entdeckt (12). Insgesamt ist der Anteil der Adipösen mit monogenen Mutationen aber sehr gering, ebenso wie Syndrome mit Übergewicht (z.B. das Prader-Willi-Syndrom). Es wird angenommen, daß polymorphe Defekte sich zwar schwächer ausprägen, jedoch wesentlich häufiger vorkommen.
Neben genetischen Faktoren spielt vor allem der Lebensstil eine wesentliche Rolle bei der Entstehung der Adipositas. Durch sitzende Tätigkeiten sinkt unser Energieverbrauch; andererseits verstärkt energiereiche Nahrung die Fettanlagerung. In einigen Studien wurde auch der Effekt von längerem Fernsehen auf die Übergewichtigkeit untersucht. Von 4063 untersuchten 8-16jährigen Kindern hatten diejenigen, die mehr als 4 Stunden am Tag fernsehen (immerhin 26% der Kinder), einen signifikant höheren Fettanteil und BMI im Vergleich zu denen, die weniger als 2 Stunden am Tag schauen (13). In einem begleitenden Editorial wird der verminderte Energieverbrauch sowie der erhöhte Nahrungskonsum vor dem Fernseher und indirekt auch der Einfluß der Werbung für Nahrungsmittel im Fernsehen als Ursache der Gewichtszunahme diskutiert.
Behandlung der Adipositas: Zwei neue Medikamente zur Behandlung der Adipositas sind auf den Markt gekommen. Die Strategie der Firmen, diesen Risikofaktor besonders herauszustellen, hat zum Erfolg geführt, denn über die klinische Bedeutung des Übergewichts wird überall diskutiert. Das eröffnet aber auch die Möglichkeit, verhaltenstherapeutische Möglichkeiten ins Bewußtsein zu rufen. Übergewicht ist nämlich keine schicksalhafte Situation, sondern durch eigenes Verhalten verursacht. Änderungen dieses Verhaltens sind aber möglich, wenn sie in ein günstiges therapeutisches Umfeld eingebettet sind.
Von Fachgesellschaften und Expertenkomitees wurden Evidenz-basierte Therapierichtlinien veröffentlicht (15, 16). Sie beinhalten ein multidisziplinäres Konzept unter Berücksichtigung vom BMI, Bauchumfang und begleitenden Erkrankungen. Therapieziel ist eine langfristige Gewichtsabnahme von 5-10%, da dies schon zu einer deutlichen Abnahme von Risiken führt. Die Abb. 1 gibt ein vereinfachtes Therapieschema wieder. Die ausführlichen Richtlinien der Deutschen Adipositas-Gesellschaft sind im Internet abzurufen (16).
Ein auf mindestens zwei Jahre angelegtes Therapiekonzept sollte folgende fünf Prinzipien berücksichtigen: 1. Nahrungsumstellung, 2. Bewegungstherapie, 3. Verhaltenstraining, 4.Chirurgische Verfahren, 5. Medikamentöse Therapie.
1. Nahrungsumstellung: Eine 1998 erschienene Metaanalyse belegt, daß der Fettanteil in der Nahrung eine wichtige Rolle bei der Entstehung, aber auch bei der Behandlung der Adipositas spielt (17). Die Durchschnittsnahrung in Deutschland ist zu reich an Fetten und raffinierten Kohlenhydraten und zu arm an komplexen Kohlenhydraten (z.B. Kartoffeln, Reis, Nudeln, Brot) und Ballaststoffen. Empfohlen wird eine fettarme, kohlenhydratliberalisierte, ballaststoffreiche Mischkost. Die Fettzufuhr sollte 60-70 g/d nicht überschreiten; komplexe Kohlenhydrate, die auch einen guten Sättigungseffekt haben, können dagegen reichlich zugeführt werden. Der Energieanteil sollte sich folgendermaßen verteilen: 30% Fette, 20% Eiweiße, 50% Kohlenhydrate. Es wird empfohlen, „Softdrinks“ durch Mineralwasser oder „Light-Getränke“ zu ersetzen. Alkohol hat einen hohen biologischen Brennwert und hemmt die Oxidation der Fettsäuren; er sollte aus diesen Gründen reduziert werden.
2. Bewegungstherapie: Bei einer Reduktion des Körpergewichts von 10 kg nimmt neben dem Fett auch die Muskelmasse ab (3-4 kg) und damit sinkt auch der Grundumsatz. Um dem entgegenzuwirken und um den Energieverbrauch zu erhöhen, sollten 3 Sporteinheiten/Woche von mindesten einer halben Stunde Dauer absolviert werden. Damit überwiegend Depotfett mobilisiert wird, empfiehlt sich eine niedrige Belastungsintensität mit dem Ziel, eine Herzfrequenz von 180 minus Lebensalter zu erreichen. Besonders geeignet sind Wandern, Schwimmen und Radfahren. In jedem Falle sollte eine Sportart gewählt werden, die auch Spaß macht. Vor einer solchen Bewegungstherapie muß eine relevante Koronare Herzerkrankung ausgeschlossen werden.
3. Verhaltenstraining: Bei Adipösen wird der Anteil derer, die schwere psychische oder psychosomatische Begleiterkrankungen haben, auf 30-40% geschätzt. Diese Patienten sollten exploriert und psychosomatisch betreut werden. Aber auch die übrigen Patienten durchlaufen im Idealfall ein Trainingsprogramm mit Analyse des bisherigen Gewichtsverlaufs und des Eßverhaltens sowie Evaluation der auslösenden Situationen und der Gründe für das Scheitern vorausgegangener Versuche abzunehmen. Entspannungsverfahren sollten erlernt, Problemsituationen antizipiert und das Selbstwertgefühl gestärkt werden.
4. Chirurgische Verfahren: Wenn konservative Therapieversuche wiederholt fehlschlagen, kommen reversible chirurgische Verfahren, wie die vertikale Gastroplastik nach Mason oder das zunehmend angewandte „Gastric Banding“ in Frage. Das Magenband wird in Vollnarkose laparoskopisch angelegt und schnürt unterhalb der Kardia ein Magenreservoir von ungefähr 20 ml ab. Schon nach geringer Nahrungszufuhr tritt ein Sättigungsgefühl ein, das durch die verzögerte Magenentleerung auch länger anhält. Postoperativ kommt es häufig zu Erbrechen; nach einigen Wochen aber hat sich der Patient an das neue Magenvolumen gewöhnt. Die Gewichtsabnahme ist meist groß. Kuzmak fand eine Abnahme des Übergewichtes um 50-83% nach einem Jahr (32); 20-40% der Patienten sind jedoch therapierefraktär, da sie hochkalorische, flüssige Kost zu sich nehmen („Sweet-eaters“). Die Komplikationsrate beträgt 15% und die Letalität liegt bei 0,25-0,4%.
5. Medikamentöse Therapie: Zur Adipositas-Therapie wurden und werden viele Medikamente angeboten. Doch nur zwei Substanzen, Orlistat (Xenical) und Sibutramin (Reductil) haben in großen klinischen Langzeitstudien ihre Wirksamkeit bewiesen. Schilddrüsenhormone, Amphetamin-Derivate, Dexfenfluramin und Diuretika sind wegen ihrer Wirkungslosigkeit oder wegen erheblicher unerwünschter Arzneimittelwirkungen obsolet.
Orlistat: Wir haben bereits über diese Substanz berichtet (AMB 1998, 32, 68). Es handelt sich um ein synthetisches Derivat von Lipstatin, einem natürlichen Produkt von Streptomyces toxytricini. Orlistat wirkt überwiegend intraluminal durch kovalente Inhibition der Magen- und Pankreaslipase und vermindert die Hydrolyse der Triglyzeride. Die Resorption von Monoglyzeriden und Fettsäuren wird herabgesetzt. Die Fettausscheidung im Stuhl erhöht sich bei Normalkost von normalerweise 4% auf 30%.; dies führt zu einem Energieverlust von ungefähr 300 kcal/d.
Orlistat ist im Serum selten nachweisbar, jedoch werden 1,5-4% der Substanz metabolisiert im Urin ausgeschieden. Die Halbwertszeit beträgt 14-19 Stunden. In Dosisfindungs-Studien hat sich die Gabe von 3 mal 120 mg/d zu den Hauptmahlzeiten mit größerem Fettanteil als optimal erwiesen. Die täglichen Kosten der Behandlung mit Xenical liegen bei 6,86 DM und werden, ebenso wie die von Reductil, nicht von den Krankenkassen übernommen.
Bisher sind 7 größere randomisierte, plazebokontrollierte Langzeitstudien publiziert worden (18-24; s. Tab. 2). In allen Studien gab es eine Run-in-Phase von 4 Wochen bis 6 Monaten Dauer, in der die Compliance der Patienten geprüft wurde. In 6 Studien erhielten alle Probanden initial Plazebo-Tabletten. Diejenigen, die weniger als 70-75% der Tabletten eingenommen hatten, wurden von der Studie ausgeschlossen; die übrigen wurden anschließend randomisiert für Plazebo oder Orlistat. Die Studienteilnehmer wurden diätetisch beraten. Nur in wenigen Studien wurde zusätzlich ein Bewegungsprogramm oder ein Verhaltenstraining angeboten.
Die Gewichtsabnahme lag nach einem Jahr in der Verum-Gruppe im Mittel bei 8,9% und in der Plazebo-Gruppe bei 5,8%. Die Differenz der Gewichtsabnahme war in allen Studien signifikant unterschiedlich. In den meisten Studien „besserten“ sich auch Gesamtcholesterin, HDL und LDL.
Die Abbruchrate schwankte von Studie zu Studie zwischen 25 und 85%. Bis zu 95% der Probanden in der Verum-Gruppe litten unter intestinalen Nebenwirkungen (s. Tab. 4). Die unerwünschten Arzneimittelwirkungen waren meist vorübergehend und traten besonders in den ersten 3 Wochen auf. Nach Einschätzung der Patienten waren sie vorwiegend mild bis mäßig. Auffällig ist, daß mehr Patienten in der Plazebo-Gruppe die Studien abbrachen, was wahrscheinlich auf die geringere Gewichtsabnahme zurückzuführen ist. Die in der Verum-Gruppe aufgetretenen Beschwerden waren von der konsumierten Fettmenge abhängig: wer viel Fett aß, hatte auch häufiger Beschwerden – ein nach Ansicht der Werbemanager von Roche ideales Biofeedback-Verfahren!
Die Serumkonzentration von Beta-Karotin und den fettlöslichen Vitamine sank in fast allen Studien in der Verum-Gruppe. Bei einigen Patienten mußten fettlösliche Vitamine oral substituiert werden, da die Vitaminkonzentrationen bei zwei aufeinander folgenden Messungen unterhalb des Normalbereichs lagen. Nach Gabe der Vitaminpräparate stieg die Konzentrationen wieder in den Normalbereich. Deshalb wird empfohlen, während der Therapie mit Orlistat generell Multivitaminpräparate einzunehmen.
Eine Interaktion von Orlistat mit Digoxin, retardiertem Nifedipin, Phenytoin, Atenolol, Furosemid, Captopril und oralen Kontrazeptiva wurde nicht nachgewiesen. Die maximale Plasmakonzentration von R-Warfarin (Cumarin-Derivat) verzögerte sich um eine Stunde; im übrigen wurde aber die Pharmakokinetik unter Orlistat nicht verändert (25).
In einer Studie traten vermehrt Brustkrebserkrankungen unter Orlistat auf. Eine plausible Erklärung dafür gibt es nicht. Eine genaue Analyse von mehreren unabhängigen Experten ergab, daß die überwiegende Zahl der Tumoren schon vor dem Studienbeginn existiert haben muß. Dennoch ist wegen dieser Studie die Entscheidung für die Zulassung von Orlistat durch die FDA in den USA nur knapp ausgefallen (26). Eine neue Studie, die Xendos Xenical Swedish Study, soll klären, ob das Risiko für Mammakarzinom durch die Behandlung mit Orlistat erhöht wird. In den bisherigen Studien gab es keinen Hinweis auf eine erhöhte Inzidenz gastrointestinaler Tumoren durch den erhöhten Fettanteil in den Faeces. Es liegen allerdings nur begrenzte Langzeiterfahrungen vor.
Sibutramin: Sibutramin ist ein Serotonin- und Noradrenalin-Reuptake-Hemmer. Diese haben u.a. zwei Wirkungen, nämlich verminderte Nahrungsaufnahme durch Hemmung des Appetits und erhöhten Energieverbrauch durch Steigerung der Beta3-Rezeptor-vermittelten Thermogenese. Sibutramin wird gut resorbiert und unterliegt einem ausgeprägten First-pass-Effekt in der Leber. Es bilden sich Cytochrom-P-450 vermittelt zwei aktive Metabolite mit einer Halbwertszeit von 14-19 Stunden. Die Anfangsdosis beträgt 10 mg/d. Die Einnahme erfolgt nahrungsunabhängig. Ist die Gewichtsabnahme unzureichend, d.h. liegt das Gewicht nach vier Wochen nur 2% unter dem Ausgangsgewicht, kann die Dosis auf 15 mg/d erhöht werden. Treten unerwünschte Arzneimittelwirkungen auf (s. Tab. 4), sollte die Dosis auf 5 mg/d reduziert werden (27). Die Tagestherapiekosten betragen bei 10 mg-Dosierung 4,56 DM und bei 15 mg/d 5,19 DM.
Wegen möglicher Nebenwirkungen empfiehlt sich eine regelmäßige Kontrolle von Blutdruck und Puls. Die Koronare Herzerkrankung ist eine relative Kontraindikation für Sibutramin. Vorsicht ist auch bei der gleichzeitigen Gabe von QT-Zeit-verlängernden Substanzen geboten, sowie bei Komedikation von Medikamenten, die durch Zytochrom P-450 metabolisiert werden bzw. dieses Enzym induzieren.
Bei bis zu 88% der behandelten Patienten traten Nebenwirkungen auf (s. Tab. 4); bei maximal 11% aller Probanden führten diese zum Studienabbruch. Herzklappenveränderungen und pulmonale Hypertonie, die von dem vom Markt genommenen Dexfenfluramin (s.a. AMB 1997, 31, 79b) und von Amphetamin-Derivaten bekannt sind, wurden bis jetzt nicht überzufällig häufig beobachtet. Ein Abhängigkeitspotential soll nicht bestehen.
Im Jahre 1988 erschienen die ersten Studien zu Sibutramin – damals wurde allerdings die antidepressive Wirkung untersucht. Die Nebenwirkungen Anorexie und Gewichtsabnahme führten dann zu einer 1991 publizierten Dosisfindungs-Studie zur Erfassung der Wirkungen auf das Körpergewicht. Bis heute sind leider nur zwei Langzeituntersuchungen von mindestens einem halben Jahr veröffentlicht (28, 29; s. Tab. 3). Einige Studien laufen noch zur Zeit; andere liegen bisher nur unvollständig als Abstract vor.
G.A. Bray et al. veröffentlichten 1999 eine multizentrische Dosisfindungs-Studie (28; s. Tab. 3). Auf eine Run-in-Phase von 2 Wochen folgte eine 24wöchige randomisierte Behandlung von 1047 Patienten mit Plazebo sowie mit 1, 5, 10, 15, 20 oder 30 mg Sibutramin. Nach Absetzen der Präparate wurden die Patienten weitere 6 Wochen lang beobachtet. Die Patienten erhielten zu Studienbeginn Beratungen bezüglich Diät, Bewegungstraining und Änderung des Lebensstils. Die Gewichtsabnahme war dosisabhängig und am stärksten in den ersten 12 Wochen. In der 5 mg-Gruppe stabilisierte sich das Körpergewicht nach 12 Wochen, in den 10 und 15 mg-Gruppen sank das Gewicht in den folgenden Wochen langsam weiter ab. In der 10 mg- bzw. 15 mg-Gruppe wurde eine mittlere Gewichtsreduktionen von 6,1 bzw. 7,4%, in der Plazebo-Gruppe von 2,7% erreicht. Bauchumfang, Triglyzeride, HDL und Harnsäure „besserten“ sich. Der diastolische Blutdrucks stieg um 2,5-3,8 mm Hg (maximal 38 mm Hg), die Herzfrequenz um 3-6/Min. (maximal 29/Min.). Die klinische Bedeutung dieser Nebenwirkung ist bisher unklar. In der Plazebo-Gruppe brachen 41% der Patienten die Studie ab, in der Verum-Gruppe lag diese Zahl zwischen 29 und 36%. Wegen unerwünschter Arzneimittelwirkungen (s.a. Tab. 4) wurde bei 11% die Studie abgebrochen und bei 13% die Dosis reduziert.
Im Am. J. Med. erschien im vergangenen Jahr eine französische Multizenterstudie (29; s. Tab. 3), in der 159 Patienten nach einer 4wöchigen strengen kalorienarmen Diät und einer minimalen Gewichtsabnahme von 6 kg randomisiert wurden. Die Probanden erhielten danach entweder Plazebo oder 10 mg Sibutramin/d und wurden regelmäßig diätetisch beraten. Insulinpflichtige Diabetiker waren ausgeschlossen. 38% der mit Plazebo und 27% der mit Sibutramin Behandelten brachen die Studie ab. 76% der Patienten litten unter Nebenwirkungen (s.a. Tab. 3), die bei 2% in der Sibutramin-Gruppe zum Studienabbruch führten. Die Gewichtsabnahme war am stärksten nach 6 Monaten und stabilisierte sich dann in der Verum-Gruppe bis zum Studienende bei 12,5% des Anfangsgewichts. In der Plazebo-Gruppe hingegen nahm das Gewicht wieder leicht zu und lag bei Studienende um 6,6% unter dem Ausgangsgewicht. HDL, Triglyzeride und Bauchumfang „besserten“ sich. Der diastolische Blutdruck stieg ebenso wie die Herzfrequenz signifikant an, im Mittel um 1,5 mm Hg bzw. 8/Min.
Andere Pharmaka: Die Behandlung der Adipostas mit dem Hormon Leptin kommt nach jetzigen Erkenntnissen wahrscheinlich nur für wenige Adipöse in Frage. Im JAMA berichtete D.F. Phillips über die s.c. Anwendung unphysiologisch hoher Leptin-Gaben bei Normal- und Übergewichtigen (30). Nach 6 Monaten betrug – unter zusätzlicher hypokalorischer Kost – die Gewichtsabnahme bei der Maximaldosierung 7,2 kg. Als Nebenwirkung traten Hautrötungen an der Injektionstelle auf.
Im N. Engl. J. Med. wurde über die Leptin-Behandlung einer massiv übergewichtigen Neunjährigen mit angeborenem Leptin-Mangel bei ob/ob-Defekt berichtet (31). Die Patientin erhielt 12 Monate lang rekombinantes Leptin in physiologischen Dosen und nahm darunter von 94,4 kg auf 78,0 kg ab. Obwohl sich nach 2 Monaten Antikörper gegen Leptin bildeten, blieb seine Wirkung erhalten, und es zeigten sich keine lokalen Reaktionen.
Kortikotropin Releasing Factor und das verwandte Urocortin hemmen den Appetit und werden derzeit für den Einsatz am Menschen vorbereitet. Neuropeptid-Y-Rezeptoren-Blocker hemmen die Wirkung vom Neuropeptid Y, werden aber wegen ihrer schwachen Wirkung voraussichtlich keine Bedeutung in der medikamentösen Behandlung der Adipositas erlangen. Beta3-Rezeptor-Agonisten sind zur Zeit in der klinischen Erprobung. Im Tierversuch führen sie durch Steigerung der Thermogenese zur Gewichtsabnahme. Unabhängig vom Gewichtsverlust sinken Insulin- und Glukosekonzentration. Herzfrequenz und Blutdruck bleiben unbeeinflußt, jedoch kommt es gelegentlich zu einem Tremor durch Stimulation der Beta2-Rezeptoren in der Skelettmuskulatur. Interessant sind auch Befunde zu Wirkungen der Histamin-Rezeptoren im Gehirn. Diese nehmen an der Regulation der Nahrungsaufnahme teil. Durch Stimulation des H1-Rezeptors wird die Nahrungsaufnahme gebremst; bei Stimulation des H3-Rezeptors verhält es sich umgekehrt. Diese Rezeptoren haben das Verständnis der Appetitregulation erweitert; klinische Ergebnisse liegen zur Zeit jedoch noch nicht vor.
Fazit: Übergewicht ist vor allem das Resultat der starken Veränderungen in unserem Lebensstil während der letzten 10000 Jahre. Unsere Ahnen, einstmals Sammler und Jäger, wurden zu seßhaften Bauern und Viehzüchtern und sicherten damit die Verfügbarkeit der Nahrung. Die Industrialisierung in den letzten zwei Jahrhunderten hat zudem die körperliche Arbeit heute erleichtert. Die genetische Vorgabe, speziell die Fähigkeit, bei übermäßigem Nahrungsangebot Energie nahezu unbegrenzt als Körperfett speichern zu können, war einst ein Selektionsvorteil während längerer Hungerperioden. In den industrialisierten Ländern führt heute das Mißverhältnis zwischen dieser genetischen Veranlagung, dem üppigen Nahrungsangebot und dem energiesparenden, teilweise auch zum Essen und Trinken verführenden Lebensstil zur Adipositas und zu mit ihr assoziierten Erkrankungen und damit zu Nachteilen.
Eine Änderung der Eß- und Bewegungsgewohnheiten muß also eingeübt werden, um Übergewicht abzubauen. Das ist meist nur mit verhaltenstherapeutischer Begleitung möglich. Ohne Änderung des Lebensstils gibt es dauerhaft keine gewollte Gewichtsreduktion. Medikamente haben in diesem Konzept eine direkt helfende, möglicherweise auch motivierende Funktion. Sie wirken selbst aber nur so lange, wie sie eingesetzt werden und haben zudem eine Reihe von Nebenwirkungen.
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