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Wes Brot ich ess, des Lied ich sing: Die Kontamination der ärztlichen Fortbildung aus kritischer medizinjournalistischer Sicht

Zusammenfassung: Ärzte und Industrie sind aufeinander angewiesen. Beide Seiten wollen innovative Pharmakotherapie. Die Motivation ist jedoch sehr unterschiedlich: Die einen wollen mit sparsamem Einsatz der immer knapper werdenden Mittel mehr Gesundheit für ihre Patienten erreichen, die anderen müssen mehr Umsatz erzielen für ihre Aktionäre. Wir Ärzte dürfen uns nicht mit den Interessen der Industrie kontaminieren lassen. Wir müssen ihre Vorgehensweisen kennen, um sie unterlaufen zu können und unseriöse Werbestrategien unwirksam werden zu lassen. In Großbritannien und in den USA gibt es große Artikelserien zu diesem Thema; warum in Deutschland nicht? Sind Kontamination und Vorteilsnahme bei uns weiter fortgeschritten? Dann verlören die Ärzte zu Recht ihren guten Ruf!

Morgens gegen neun beginnt der Kongreß. Immer wieder beschallt ein Lautsprecher mit einer emphatisch klingenden Frauenstimme alle Foyers. Die Dame dankt den Sponsoren der Tagung – mehrere Pharmafirmen werden namentlich genannt – und weist auf den Standort ihrer Ausstellungsstände hin.

Würde sich die Arzneimittel- und die Apparateindustrie mit solchen Ständen begnügen, wäre wenig dagegen einzuwenden. Aber auf Fortbildungs- und Forschungskongressen beobachtet man dasselbe wie beim größten Teil der medizinischen Presse: die Werbebotschaften beschränken sich schon lange nicht mehr auf deutlich kenntlich gemachte Anzeigen und Ausstellungsstände; vielmehr durchdringen sie heimlich den redaktionellen Teil der meisten Fachblätter wie auch die Vortragssäle und Seminarräume der Fortbildungsveranstaltungen. Erst kamen die von Firmen finanzierten Beilagen und die „Satelliten-Symposien“, aber bald wurde die Vernetzung objektiver Informationen mit Marketing immer enger.

Ein Beispiel für viele ist der alljährliche Deutsche Ärztekongreß in Berlin. Er ist, wie andere, seit langem durchsetzt mit Vortragsreihen von Pharma- oder Apparatefirmen, die früher bereits im Programm als solche gekennzeichnet und dadurch zu unterscheiden waren von denen mit großem Engagement und kritischem Sachverstand unabhängig vorbereiteten Sitzungen. Im diesjährigen Programm steht nur unter drei Sitzungen „Mit freundlicher Unterstützung durch …“. Erst als die Ärzte die Vorträge hinter sich gebracht hatten, etwa jene unter dem seriösen Titel „Leitlinien der Hypertonietherapie 2003“, dankte der Moderator dem Sponsor. Das hinterließ bei den Hörern ein ungutes Gefühl und die skeptische Frage, ob sie wohl objektive oder durch Interessen gefärbte Informationen erhalten hatten, denn hier wurde z.B. die große amerikanische ALLHAT-Studie (1) in Grund und Boden kritisiert. Weil sie ergab, daß die preiswerten Diuretika genauso gut sind wie die teuren Antihypertensiva-Innovationen?

Bei der altehrwürdigen Berliner Medizinischen Gesellschaft wenig später wiederum heftige Polemik gegen die Studie, kaum verhüllte Werbung für bestimmte Substanzen, und auch hier wurde erst am Ende der Sponsor genannt. Beschwert hat sich offenbar keiner, eine ernst zunehmende Diskussion fand nicht statt, und alle strömten hinterher dankbar zum Buffet.

Mediziner werden von Anfang an einer „Pharma-Sozialisation“ unterzogen. Schon während des Studiums nehmen die Arzneimittelhersteller sie an die hilfreiche Hand. Ein hübsches buntes Heftchen mit dem Titel „Studentenservice“ bietet ihnen „mit Nett-Netter-Novartis“-Grüßen nützliche Dinge zu besonders günstigen Preisen oder sogar kostenlos an: vom Stethoskop über firmennahe Broschüren bis zum Anatomieatlas. Das fördert Wohlwollen und dämpft Kritiklust. PR-Leute nennen so etwas „Landschaftspflege“. Damit der ärztliche Nachwuchs pflegeleicht bleibt, umwirbt ihn die Industrie auch während der Weiterbildung mit Einladungen, Literatur und Reisezuschüssen.

Es folgt lebenslange Aufmerksamkeit und Zuwendung – das läßt sich auch im Plural formulieren – für die verordnenden Ärzte und ganz besonders für die Meinungsführer, leitende Ärzte und Hochschullehrer, von denen die Fortbildung wesentlich getragen wird, jedenfalls nach außen hin. Denn das, was Fortbildungswillige für gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse halten, kann durchaus mehr oder weniger zurechtgebogen sein – im Sinne der Industrie, die aus der von ihr beherrschten Fortbildung ein Marketinginstrument gemacht hat.

Die schlechte inhaltliche und didaktische Qualität der ärztlichen Fortbildung wird seit Jahrzehnten kritisiert. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen bemängelt zum Beispiel ”eine häufig unzureichende Praxisrelevanz, die Vernachlässigung praktischer und interpersoneller Kompetenzen sowie eine eingeschränkte Glaubwürdigkeit vieler Angebote durch mangelnde Neutralität oder Transparentmachung der Qualität der angeführten Evidenz” (2).

Die mangelnde Neutralität fällt vielen Ärzten nicht mehr auf. Sie sind Teil des ”Medizinisch-industriellen Komplexes” geworden, wie man in den USA – analog zum ”Militärisch-industriellen Komplex” – das korruptionsträchtige Gesundheitswesen nannte. Das charakterisiert die Verzerrung des medizinisch Vernünftigen durch das kommerziell Interessante, wie sie in Forschung, Fortbildung und Versorgung gang und gäbe ist. Besser als innerhalb dieser Subkultur überblickt man offenbar von außen, wie massiv der Einfluß der Industrie auf den Medizinbetrieb ist, aber auch, wie subtil und unterschwellig die Mittel der Beeinflussung sein können. Die Öffentlichkeit ist durch die Presse sehr genau darüber informiert. Ein paar Schlagzeilen und Zitate: ”Pharmakonzerne ködern Mediziner” (”Financial Times Deutschland” vom 13.6.03.) – ”Die Ärzte im Visier der Industrie. Was Firmen alles tun, damit Mediziner ihre Medikamente bevorzugen” (”Kölner Stadtanzeiger” vom 9.10.01.) – ”Ärzte als Söldner der Pharmaindustrie: Den Kampf gegen die zweite Gesundheitsreform läßt sich der Hartmannbund von der Firma Schwarz mit 300000 Mark bezahlen” (”Die Zeit” vom 11.9.92) – ”Neben offenen Bestechungsversuchen gibt es einen großen Graubereich. Dabei geht es vor allem um die finanzielle Unterstützung von Fortbildungsveranstaltungen – bevorzugt in landschaftlich attraktiven Gegenden…” (”Stuttgarter Zeitung” vom 12.3.02.) – ”Eine Kollegin schrieb mir neulich, sie habe 200 EUR Aufwandsentschädigung von einer Pharmafirma angeboten bekommen – nur um bei einer von diesem Unternehmen veranstalteten Fortbildungsveranstaltung zuzuhören”, berichtete Dr. Frank Montgomery, Vorsitzender des ”Marburger Bundes”, der ”Berliner Zeitung” (22.3.02.).

Selbst Ärzte äußern sich also über dieses heikle Thema eher in der Laien- als in der Fachpresse. Kein Wunder, sind doch die meisten Ärzteblätter auf die Anzeigen der Pharmafirmen angewiesen. Deshalb bestehen in vielen Zeitschriften auch Teile des redaktionellen Textes aus mehr oder weniger gut maskiertem Marketing (3).

Als Ärztlicher Direktor des Klinikums Nürnberg publizierte der Onkologe Prof. Dr. Walter Gallmeier, der seit eh und je die Krebs-Überdiagnostik und -Übertherapie gegeißelt hatte, seine Kritik an der allzu engen Vernetzung von Ärzten und Arzneimittelfirmen im ”Spiegel” (1994, Nr. 25, S. 189). Er verdammt keineswegs jede Zusammenarbeit, wohl aber die Störung der ”kritischen Balance im Verhältnis Ärzte und Industrie” in Forschung und Fortbildung: ”Schlägt man einem ärztlichen Kreisverband eine Fortbildungsveranstaltung vor, so ist die erste Frage stets: Haben Sie einen Sponsor?”

Ein paar Jahre später kann ein Leitender Arzt einen kritischen Beitrag über das Pharma-Sponsoring auch in einem Fachblatt publizieren – im Deutschen Ärzteblatt (4). Unter dem Titel ”Wir dankbaren Ärzte” denkt der Baseler Hochschulpsychiater Prof. Dr. Asmus Finzen über ”Nähe und Abstand, Geben und Nehmen in Klinik, Forschung und Alltag” öffentlich nach. Am wenigsten riskant findet er die Nähe zur Industrie dann, wenn klare Verhältnisse herrschen, weil eine Firma offen zu einer produktbezogenen Veranstaltung einlädt.

Unentwirrbar wird das Knäuel aus Information und Marketing hingegen, wenn hochkarätige Wissenschaftler sprechen oder schreiben, die auf vielfältige Art mit Unternehmen verbunden sind, z.B. als Berater oder klinische Prüfer oder sogar als Besitzer von Firmenanteilen. ”Sie treten als ständige Referenten bei Firmensymposien auf, firmieren als Autoren von Publikationen, die Ghostwriter der Firmen schreiben, und setzen sich bei firmengesponserten Veranstaltungen für bestimmte Medikamente oder Geräte ein”, schreibt Finzen. Die Koryphäen sind jedoch meist von ihrer wissenschaftlichen Objektivität überzeugt und weisen den Verdacht der Käuflichkeit weit von sich (”Mietmäuler” nennt sie der ”Spiegel” in Nr. 33, 2003, S. 119). Wahrscheinlich – subjektiv – zu Recht, denn ihre wissenschaftliche Urteilskraft wird ja auf sehr subtile, fast unmerkliche Art beeinflußt. (Übrigens: Mietmäuler gibt es überall, auch im Medizinjournalismus).

Finzen bezieht sich durchweg auf ausländische Analysen, Studien und Publikationen. Das ist bezeichnend. In Deutschland sind die Verflechtungen zwischen Ärzteschaft und Industrie innerhalb des Gesundheitswesens meist noch ein Tabu; in anderen Ländern werden sie dagegen immer öfter thematisiert, sogar in wissenschaftlichen Untersuchungen. So wurde in Studien nachgewiesen, daß Ärzte sich sehr wohl beeinflussen lassen, auch wenn sie sich selbst für immun halten, und daß die Art der Forschungsfinanzierung die Ergebnisse moduliert. Klinikärzte, die Forschungsgelder von einer Firma erhalten bzw. aktiv oder passiv an gesponserter Fortbildung teilgenommen oder mit Arzneimittelvertretern gesprochen hatten, forderten in der Krankenhausapotheke eher deren neue Medikamente an (6).

Das British Medical Journal, das sich mit den Pharma-Verstrickungen von Ärzten immer wieder besonders intensiv auseinandersetzt, hat daraufhin sogar den Äskulapstab neu interpretiert: Ärzte und Arzneimittelfirmen seien ineinander verschlungen wie Schlange und Stab (6). Einige der dort referierten Ergebnisse einschlägiger Studien aus verschiedenen Ländern: Viele Ärzte behaupten, die Zuwendungen der Firmen hätten keinen Einfluß auf ihr Verhalten, obwohl das Gegenteil evident ist. Sie verordnen neue Präparate ohne nachgewiesene Vorteile gegenüber den vorhandenen, verschreiben weniger Generika und verursachen höhere Arzneimittelkosten. Die Zahl der Zuwendungen korreliert mit der Überzeugung, daß Pharmareferenten keinen Einfluß auf das eigene Verordnungsverhalten hätten.

Nach der Berufsordnung war es auch bisher schon: ”… nicht gestattet, für die Verordnung von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln von dem Hersteller oder Händler eine Vergütung oder wirtschaftliche Vergünstigungen zu fordern oder anzunehmen”. Die Berufsordnung gilt aber als Papiertiger. Sie wird von vielen Ärzten nicht einmal zur Kenntnis genommen. Fraglich also, ob die auf dem 106. Deutschen Ärztetag 2003 heiß umstrittene ”Verschärfung” irgendeinen Effekt hat. Für die Fortbildung gibt es ohnehin eine Ausnahmeregelung in § 33 ”Arzt und Industrie”. Absatz 4 lautet: ”Die Annahme von geldwerten Vorteilen in angemessener Höhe für die Teilnahme an wissenschaftlichen Fortbildungsveranstaltungen ist nicht berufswidrig. Der Vorteil ist unangemessen, wenn er die Kosten der Teilnahme (notwendige Reisekosten, Tagungsgebühren) des Arztes an der Fortbildungsveranstaltung übersteigt oder der Zweck der Fortbildung nicht im Vordergrund steht”. Ein Antrag, die Teilnahme an industriegesponserter Fortbildung für standeswidrig zu erklären, scheiterte, wie ähnliche schon auf früheren Ärztetagen. ”Fortbildung ohne Unterstützung der pharmazeutischen Industrie ist nicht möglich”, sagte Ingo Flenker, Vorsitzender der Berufsordnungsgremien der Bundesärztekammer.

Nun können Ärzte sich ihre Fortbildung zertifizieren lassen, aber nur solche Veranstaltungen, die von den Kammern akkreditiert wurden. Bundeseinheitliche Bewertungskriterien dafür hat der Ärztetag gebilligt. Zu den Bedingungen gehört auch, ”daß der Inhalt der Fortbildung nicht von den wirtschaftlichen Interessen der Industrie beeinflußt sein darf” (7). Sponsoring ohne Einflußnahme gilt nicht als Hindernis.

Der Ärztetag forderte die Bundesärztekammer sogar auf, ”sich bei der Politik gegen eine nicht sachgerechte Einschränkung von sinnvollem Industrie-Sponsoring auszusprechen”. In anderen Ländern hat der Staat tatsächlich schon eingegriffen, z.B. in den Niederlanden und in den USA. Als erster amerikanischer Bundesstaat verpflichtete Vermont alle Arzneimittelvertreter, sämtliche Zuwendungen an Ärzte über 25 Dollar zu melden. Ärzte und Pharmareferenten werden damit derselben Kategorie zugeordnet wie Politiker und Lobbyisten, deren finanzielle Beziehungen jedes Jahr öffentlich gemacht werden. Mehr als 15 andere US-Staaten ziehen ähnliche Gesetze in Erwägung, meldete die ”Washington Post” am 15.6.02.

Wie aber findet man Institutionen, die mit Sicherheit objektiv informieren? Selbst der WHO wurden ja schon allzu enge Beziehungen zur Industrie vorgeworfen. ”Wir von den Fachgesellschaften und Ärztekammern bieten werbungsfreie Fortbildung an”, sagte Dr. Frank Montgomery, Vorsitzender des Marburger Bundes, der ”Woche” (vom 7.9.01.). ”Die sehr sorgfältige und auch strenge Prüfung eingereichter Anträge auf Anerkennung von Fortbildungsveranstaltungen gibt den potentiellen Teilnehmern … Sicherheit, daß hier wirklich nur seriöse, wissenschaftlich gesicherte Fortbildungsinhalte angeboten werden, die weit von industriegesponserter Fortbildung mit Schnittchen entfernt sind”, schreibt Heyo Eckel, Vorsitzender des Deutschen Senats für ärztliche Fortbildung (8).

Ob die Ärzterepräsentanten das selber glauben? Eine der wenigen deutschen Studien zum Thema ergab: Von 54 internistischen Fortbildungsveranstaltungen in Nordrhein, die das Rheinische Ärzteblatt als von Kammer oder KV verantwortet angekündigt hatte, erwiesen sich zwei Drittel als Pharma-Fortbildung oder gar als Marketing (9). Selbst solche Landesärztekammern, die der Dominanz der Industrie sehr kritisch gegenüberstehen, verweigern gesponserten Veranstaltungen nur selten die Anerkennung für die Zertifizierung. In Berlin, wo die Kammer schon 1992 das ”Pharma-Netz der deutschen Ärzteschaft” analysierte (10), ist man stolz darauf, daß im Unterschied zu anderen Kammern nur etwa 30% der akkreditierten Veranstaltungen von der Industrie verantwortet oder gesponsert sind, wobei als Sponsoring schon Programmversand oder Buffet gilt. Die Ärztekammer Berlin versucht zumindest, eine gewisse Transparenz herzustellen. Die Mitglieder des Zertifizierungs-Beirats ihrer Fortbildungsakademie müssen ihre Beziehungen zur Industrie offenlegen, allerdings nur gegenüber der Kammer, die das vertraulich behandelt – während es in renommierten internationalen und auch einigen deutschen Fachzeitschriften guter Brauch ist, daß die Autoren ihr Verhältnis zur Industrie für die Leser transparent machen. ”Referenten bzw. Organisatoren und Moderatoren gesponserter Fortbildungen garantieren mit ihrer Unterschrift die firmen- und produktneutrale Darstellung der Fortbildungsinhalte” (11). So manchem Veranstalter ist diese Verpflichtung aber unbekannt, und in der Kammer glauben einige nicht, daß sie etwas bringt.

Überdies ist ja ein offenes Präparate-Marketing noch die harmloseste Form der ”Pharma-Fortbildung”. Die Regel ist die unauffällige Interessenkontamination der Fortbildung ebenso wie der Forschung, der Fachpresse des gesamten Medizinbetriebs. Das hat viel weiter reichende Effekte als die Verordnung zweifelhafter oder überteuerter Medikamente. Schon die klinische Forschung wird fehlgesteuert, weil sich Universitätskliniken von den Drittmitteln der Industrie abhängig machen. Finzen (4) spricht von ”Folgen für die Auswahl der Forschungsfelder, die Art der Publikation von Forschungsergebnissen, für das Selbstverständnis der medizinischen Fakultäten und die berufliche Sozialisation des Nachwuchses. Wer viel Zeit für die bezahlte Prüfung von neuen Arzneimitteln aufwendet, hat weniger Zeit für andere Projekte, beispielsweise für die Forschung über Ursachen von Krankheiten und deren Verlauf”.

Ähnliches beobachtet man bei Fachpresse und Fortbildung. Vernachlässigt wird all das, wozu man keine Medikamente oder Apparate braucht, etwa Prävention, Gesprächsführung, Hilfe zur Krankheitsbewältigung, Rehabilitation. Denn ”in der Medizin sind die biologische Seite der Krankheiten und kurative Verfahren kommerziell interessant und ausbeutungsfähig, die psychosoziale Seite der Krankheiten und präventive Maßnahmen werfen kaum kommerziellen Nutzen ab”, konstatieren v. Uexküll und Wesiack (12). Ärzte sind für die Industrie nur als Verordner und Gerätenutzer interessant, und die gesamte Medizin wird in eine bestimmte Richtung gedrängt. Was Eugen Bleuler (13) ”Udenotherapie” nannte – bei bestimmten Störungen nichts tun und auf die Selbstheilungskräfte vertrauen (ουδέν = griechisch: nichts) – zieht man gar nicht erst in Erwägung. Umgekehrt werden von der Medizinindustrie eigens Krankheiten erfunden oder hochstilisiert, um einen neuen Markt zu schaffen (14).

Alle Versuche, den Einfluß der Industrie durch Gesetze und Verordnungen, durch Kodices oder das Berufsrecht einzudämmen oder wenigstens transparent zu machen, erscheinen als bloßes Herumdoktern am Symptom (s.a. 15-17). Auch alle Versuche, die Hersteller zur Einzahlung von Fördermitteln in einen gemeinsamen ”Fortbildungspool” zu bewegen, scheitern immer wieder. Anfang September hat der 1. Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Manfred Richter-Reichhelm, einen solchen Pool erneut vorgeschlagen. Aber Sprecher der Industrie lehnten ihn sofort ab. Eine kausale Therapie der ärztlichen Fortbildung wäre möglich, folgte man dem Vorschlag des langjährigen Leiters der Wissenschaftsredaktion der ”Frankfurter Allgemeinen”. Reiner Flöhl schrieb dort (am 7.7.94.): ”Schließlich gehört die ganze ärztliche Fortbildung in die Hände der Mediziner, die natürlich auch für deren Kosten aufkommen müßten. Wenn es dabei gerecht zugehen soll, müßte die pharmazeutische Industrie die Arzneimittelpreise um jenen Betrag senken, den sie für die ärztliche Fortbildung aufwendet. Die Kassen könnten dann die Honorare der Ärzte entsprechend erhöhen. Doch dies ist eine Fiktion – wie so vieles im Gesundheitswesen”.

Literatur

  1. ALLHAT (= Antihypertensive and Lipid-Lowering Treatment to Prevent Heart Attack Trial): JAMA 2002, 288, 2981; s.a. AMB 2003, 37, 12.
  2. Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen: Gutachten 2000/2001, Band II, 1.1.3.1.
  3. AMB 1988, 22, 33.
  4. Finzen, A.: Dtsch. Ärztebl. 2002, 99, A 766.
  5. Chren, M.M., und Landefeld, C.S.: JAMA 1994, 271, 684.
  6. Moynihan, R.: Brit. Med. J. 2003, 326, 1189.
  7. Bundesärztekammer/Deutscher Ärztetag: Entschließungen des 106. Deutschen Ärztetages in Köln, 20.-23. Mai 2003.
  8. Interview mit Heyo Eckel: Dtsch. Ärztebl. 2001, 98, A 1310.
  9. Sawicki, P., et al.: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung und Qualitätssicherung 1999, 8, 569.
  10. Ärztekammer Berlin – Der Präsident: Das Pharma-Netz der deutschen Ärzteschaft. Dokumentation, September 1992.
  11. Bräutigam, K.: Berliner Ärzte 2003, 40 (5), 33.
  12. von Uexküll, Th., und Wesiack, W.: Theorie der Humanmedizin. Urban & Schwarzenberg, München, Wien, Baltimore 1998. 3. Aufl., S. 489.
  13. Bleuler, E.: Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung. Springer, Berlin, Heidelberg, New York 1975. 5. Aufl., S. 147.
  14. Blech, J.: Die Krankheitserfinder. S. Fischer, Frankfurt/Main 2003.
  15. AMB 2000, 34, 1.
  16. AMB 2001, 35, 9.
  17. AMB 2002, 36, 31b.