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Arzneiverordnungs-Report 2019: „Patentgeschützte Arzneimittel sind die Kostentreiber“

Der Arzneiverordnungs-Report (AVR) 2019 wurde anlässlich einer Pressekonferenz des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) und der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) am 24. September 2019 in Berlin vorgestellt (1, 2). Auch 35 Jahre nach seinem erstmaligen Erscheinen vermittelt der AVR auf insgesamt 1.134 Seiten einen umfassenden und detaillierten Überblick über die Arzneimittelausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Er gilt deshalb weiterhin als Standardwerk für den deutschen Arzneimittelmarkt, da er unabhängige Informationen über die Arzneimittelverordnungen liefert und als wissenschaftlich fundierte Grundlage für den fachlichen Austausch zwischen Ärzten, Apothekern und Krankenkassen herangezogen werden kann. Auch 2019 widmet sich der AVR in insgesamt 47 Kapiteln der allgemeinen Verordnungs- und Marktentwicklung (8 Kapitel) sowie den unterschiedlichen Indikations- bzw. Wirkstoffgruppen (39 Kapitel) – von Hemmstoffen des Renin-Angiotensin-Systems bis hin zu zahnärztlichen Arzneiverordnungen (2). Seit 2016 berichtet der AVR auch ausführlich – aus Sicht der GKV – über Ziel, Funktionsweise und aktuelle Ergebnisse des AMNOG-Erstattungsbetragsverfahrens und widmet sich auch dessen aktuellen Herausforderungen (3). Erfreulich ist, dass inzwischen durch die Verhandlung von Erstattungsbeträgen ein Einsparvolumen von insgesamt 2,65 Mrd. € erwirtschaftet werden konnte.

Ergänzt wird der AVR wie jedes Jahr durch eine statistische Übersicht zu Arzneimittelausgaben, Arzneimittelumsatz und Nettokosten, die erstellt wurde von Mitarbeitern des WIdO (4), sowie durch ein ausführliches Stichwortverzeichnis.

Die Zahl der in Deutschland neu auf den Markt gebrachten Wirkstoffe (n = 37), die im Kapitel 3 des AVR besprochen werden, ist auch 2018 wieder leicht gegenüber 2017 (n = 34) gestiegen (5). Wie in den Vorjahren überwiegen die für onkologische bzw. hämatologische Indikationen und Gerinnungsstörungen zugelassenen Wirkstoffe (n = 13). Für drei der 2018 neu in den deutschen Markt gekommenen Wirkstoffe (Bictegravir + Emtricitabin + Tenofoviralafenamid/Biktarvy®; Burosumab/Crysvita®; Erenumab/Aimovig®; Inotersen/Tegsedi®) wird für das Jahr 2024 bereits ein Blockbuster-Status prognostiziert (6). Über Erenumab und Bictegravir + Emtricitabin + Tenofoviralafenamid haben wir bereits berichtet (6). Burosumab ist der erste monoklonale Antikörper gegen den Fibroblastenwachstumsfaktor 23, der als Orphan-Arzneimittel zur Behandlung von Kindern ab einem Jahr und Jugendlichen in der Skelettwachstumsphase mit X-chromosomaler Hypophosphatämie und röntgenologischem Nachweis einer Knochenerkrankung zugelassen wurde. Inotersen, ein Antisense-Oligonukleotid-Inhibitor, wurde ebenfalls als Orphan-Arzneimittel zur Behandlung der Polyneuropathie bei Patienten mit hereditärer Transthyretin-Amyloidose zugelassen (5). Bei fast einem Drittel der neuen Arzneimittel (12 von 37) – darunter 11 Orphan-Arzneimittel – war der Zusatznutzen vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) im Rahmen der (frühen) Nutzenbewertung als nicht quantifizierbar beurteilt worden (5). Nur für 4 neue Wirkstoffe – einen monoklonalen Antikörper zur Behandlung des nicht-kleinzelligen Lungenkarzinoms (Durvalumab/Imfinzi®) bzw. zur Prophylaxe der Migräne (Erenumab) und 2 Orphan-Arzneimittel zur Behandlung der zystischen Fibrose (Tezacaftor + Ivacaftor/Symkevi®) bzw. Polyneuropathie bei hereditärer Transthyretin-Amyloidose (Patisaran/Onpattro®) – wurde vom G-BA ein beträchtlicher Zusatznutzen konstatiert (5).

Im Folgenden werden einige wichtige Eckdaten aus dem AVR 2019 kurz vorgestellt. Die Arzneimittelausgaben der GKV sind auch 2018 wieder gestiegen und zwar um 3,2% auf 41,2 Mrd. € (7). Dabei entfielen auf den patentgeschützten Markt 19,8 Mrd. € und auf den restlichen Markt 23,1 Mrd. €. Das Motto der Pressekonferenz – „Patentgeschützte Arzneimittel sind die Kostentreiber“ – wird verständlich, wenn man weiß, dass sich der Apothekenumsatz je Verordnung in diesem Markt, der bei patentgeschützten Arzneimitteln nur einen vergleichsweise kleinen Versorgungsanteil von 6,4% aller Arzneimittelpackungen ausmacht, fast verdreifacht hat, und zwar von 163 € im Jahr 2008 auf 471 € im Jahr 2018 (1, 7). Verantwortlich hierfür ist die Hochpreispolitik der pharmazeutischen Unternehmer (pU). Dies verdeutlichen eindrucksvoll folgende Zahlen: Lagen die Preise der 20 teuersten Markteinführungen der letzten drei Jahre in 2008 noch zwischen 3.000 € und 23.000 €, so reicht die Spanne 2018 bereits von 10.000 € bis 320.000 €. Demgegenüber stieg im gleichen Zeitraum der Umsatz im Nicht-Patentmarkt je Verordnung nur von 29 € auf 37 € (1). Dieser eher moderate Umsatzanstieg zeigt an, dass die wesentlichen Steuerungsinstrumente, wie Festbeträge und Rabattverträge, im Nicht-Patentmarkt funktionieren.

Eine detaillierte Analyse der unterschiedlichen Segmente des Arzneimittelmarkts findet der Leser des AVR 2019 sowohl im Kapitel 1 („Arzneiverordnungen 2018 im Überblick“) als auch im Kapitel 6 („Der GKV-Arzneimittelmarkt 2018: Trends und Marktsegmente“; 7, 8). Auch 2018 war Adalimumab mit Nettokosten von 1.015,1 Mio. € das umsatzstärkste Arzneimittel, gefolgt von 2 direkt wirkenden oralen Antikoagulanzien (Rivaroxaban, Apixaban; 7). Es überrascht nicht, dass heute bereits ein Drittel der 30 führenden umsatzstärksten Arzneimittel Onkologika sind, und Lenalidomid – ursprünglich als Orphan-Arzneimittel zugelassen – in 2018 mit 475,3 Mio. € Nettokosten bereits an Position 4 der umsatzstärksten Arzneimittel steht (7). Onkologika, die nur 1,1% aller verordneten Arzneimittel des GKV-Arzneimittelmarkts ausmachen, verursachten in 2018 mit 7,0 Mrd. € und einem Umsatzanteil von 17,5% die höchsten Kosten für die GKV (9). Sie lagen damit deutlich höher als die Kosten der Immunsuppressiva (4,86 Mrd. €), Antidiabetika (2,40 Mrd. €) und Antithrombotika (2,32 Mrd. €; 1). Monoklonale Antikörper (2.636 Mio. €) und Proteinkinaseinhibitoren (1.710 Mio. €) waren 2018 die mit großem Abstand umsatzstärksten Onkologika (9).

Weitere Schwerpunkte im aktuellen AVR 2019 sind u.a. die in eigenständigen Kapiteln besprochenen „Orphan-Arzneimittel“ sowie „Biologika und Biosimilars“ (10, 11). Die Zahlen aus dem aktuellen AVR belegen erneut eindrucksvoll die Fehlentwicklungen bei den Orphan-Arzneimitteln, die von pU bereits seit längerem als sehr lukratives Geschäftsfeld entdeckt wurden (10, 12). Trotz des geringen Verordnungsvolumens (Anteil von 0,05% „Defined Daily Dose“/DDD an allen Tagesdosen für Patienten der GKV) haben sie 2018 Nettokosten von 3,66 Mrd. € verursacht und einen Anteil von 9,1% am gesamten GKV-Arzneimittelmarkt erreicht (10). Auch in diesem Sektor dominieren eindeutig die Onkologika (55% des DDD-Volumens), gefolgt von Arzneimitteln für pneumologische und hämatologische Indikationen. In zwei Kapiteln werden Biologika und Biosimilars ausführlich besprochen (11, 13). Biologika machen heute bereits etwa ein Drittel der neuen Arzneimittel aus und erreichten 2018 mit Nettokosten von 11,8 Mrd. € – bei einem relativ geringen Verordnungsanteil von 3,0% – einen Anteil von rund 29,5% des gesamten Arzneimittelmarkts (8, 11). Erfreulich ist, dass Biosimilars, von denen 2018 bereits 35 Arzneimittel zu 13 verschiedenen Wirkstoffen in Deutschland verfügbar waren, deutlich häufiger verordnet wurden als in den Jahren zuvor. Das durch die Verordnung von Biosimilars erzielbare Einsparpotenzial wurde jedoch bei weitem noch nicht erreicht. Angesichts der zunehmenden Bedeutung von Biologika und Biosimilars beschäftigt sich ein spezielles Kapitel den Biosimilars und vergleicht die unterschiedlichen Marktsteuerungsmaßnahmen in 15 europäischen Ländern mit denen in Deutschland (13). Diese Analyse, vorgenommen von Experten der Fakultät Wirtschaft und Management an der TU Berlin und der Gesundheit Österreich GmbH in Wien, errechnete an sechs untersuchten Wirkstoffen (Adalimumab, Etanercept, Infliximab, Pegfilgrastim, Rituximab, Trastuzumab) ein Einsparpotenzial von etwa 1.238 Mio. € bei konsequenter Anwendung von Marktsteuerungsinterventionen wie sog. „Preis-Link“-Maßnahmen (Preis des Biosimilars wird in Bezug zum Preis des Originalarzneimittels gesetzt und ein bestimmter Abschlag gewährt), Festbeträgen und Verordnungsvorgaben für Ärzte (13).

Die oben dargestellten Arzneimittelausgaben der GKV und die zu beobachtenden Trends wurden von den Verbänden der pU „Die forschenden Pharma-Unternehmen (vfa)“ und „Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V.“ (BPI) auch 2019 eher lapidar kommentiert. Der vfa sieht die „Arzneimittelausgaben im Plan“ und der BPI weist darauf hin, dass „die GKV-Ausgaben seit Jahren konstant bei rund einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes liegen“ (14, 15). Für eine intensive Beschäftigung – beispielsweise mit der Entwicklung der Ausgaben im Patentmarkt und den von Orphan-Arzneimitteln inzwischen erzielten Umsätzen – fehlte offensichtlich vfa und BPI die Zeit.

Literatur

  1. https://aok-bv.de/presse/pressemitteilungen/2019/index_22680.html Link zur Quelle
  2. Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2019. Springer-Verlag Berlin, 2019.
  3. Haas, A., et al.: Ergebnisse des AMNOG-Erstattungsverfahrens. In: Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2019. Springer-Verlag Berlin, 2019.
  4. Knecht, B., Lohmüller, J., Telschow, C.: Ergänzende statistische Übersicht. In: Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2019. Springer-Verlag Berlin, 2019.
  5. Fricke, U., Hein, L., Schwabe, U.: Neue Arzneimittel 2018. In: Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2019. Springer-Verlag Berlin, 2019.
  6. AMB 2018, 52, 65 Link zur Quelle . AMB 2019, 53, 46. Link zur Quelle
  7. Schwabe, U., Ludwig, W.-D., Paffrath, D., Klauber, J.: Arzneiverordnungen 2018 im Überblick. In: Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2019. Springer-Verlag Berlin, 2019.
  8. Lohmüller, J., Schröder, M., Telschow, C.: Der GKV-Arzneimittelmarkt 2018: Trends und Marktsegmente. In: Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2019. Springer-Verlag Berlin, 2019.
  9. Ludwig, W.-D., Schwabe, U.: Onkologika. In: Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2019. Springer-Verlag Berlin, 2019.
  10. Ludwig, W.-D., Schwabe, U.: Orphan-Arzneimittel. In: Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2019. Springer-Verlag Berlin, 2019.
  11. Dicheva-Radev, S., und Ludwig, W.-D.: Biologika und Biosimilars. In: Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2019. Springer-Verlag Berlin, 2019.
  12. AMB 2014, 48, 16DB01 Link zur Quelle . AMB 2016, 50, 62b. Link zur Quelle
  13. Vogler, S., et al.: Biosimilars in Deutschland und im europäischen Vergleich – Entwicklungen und Potenziale. In: Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2019. Springer-Verlag Berlin, 2019.
  14. https://www.vfa.de/de/suche?search=%22Arzneiverordnungsreport%22 Link zur Quelle
  15. https://www.bpi.de/de/nachrichten/detail/ gkv-arzneimittelausgaben-seit-jahren-konstant Link zur Quelle