Neue Erkenntnisse zur Pathogenese der HIV-Infektion bzw. zur Replikationsdynamik des HIV im menschlichen Immunsystem haben ebenso wie die Verfahren zur quantitativen Bestimmung von HIV-RNA im Plasma und der Gewebekultur („Viral load“) im Laufe der letzten zwei Jahre die Therapiestrategien bei HIV-Infektion und AIDS grundlegend beeinflußt. Parallel hierzu erweist sich die Entwicklung neuer Substanzen und deren Einsatz in der Behandlung der HIV-Infektion als vielversprechend. Vor allem die Protease-Inhibitoren kündigen ein Paradigmenwechsel in der Therapie HIV/AIDS an.
Die bisherige Vorstellung, daß sich das HIV bei symptomlosen Infizierten über lange Jahre in einem Stadium der virologischen Latenz befindet, wurde durch Ho, D.D., et al. (1, 2) widerlegt. Auch in der Phase der klinischen Latenz besteht ein individuell hoher „Turn over“ von Viren in Plasma und Gewebe. Bei einer Halbwertzeit von 0,3 Tagen im Plasma bzw. 0,9 Tagen intrazellulär wurden bis zu 10 Milliarden neue Viruskopien/d nachgewiesen. Dieser enormen Replikationsrate des Virus kann sich das kompromittierte Immunsystem durch Aktivierung jahrelang entgegenstellen; die klinische Symptomfreiheit entspricht jedoch keineswegs einer mikrobiologischen Latenz des HIV.
Während bisher die CD4-ZelIzahl als entscheidender Parameter zur Beurteilung der Progression der HIV-Erkrankung und auch zum Therapiemonitoring angesehen wurde, ergibt sich unter Verwendung der HIV-Polymerase-Ketten-Reaktion (HIV-PCR) mit dem sogenannten Viral load (Bestimmung der Virusbeladung im Blut oder Gewebe) ein weiterer prognostischer Parameter. Mellors, J.W., et al. (3) konnten in einer beeindruckenden Arbeit zeigen, daß – relativ unabhängig von der CD4-ZeIlzahI – HIV-Patienten mit einem Viral load > 36000 RNA-Kopien/ml in 68% innerhalb der folgenden fünf Jahre an AIDS erkrankten, hingegen nur 5% der Patienten mit einem Viral load < 10 900/ml. Die Autoren mehrerer Studien favorisierten die Bestimmung des Viral load gegenüber der CD4-Zellzahl als überlegenen prognostischen Parameter und als Therapiemarker bei der HIV-Infektion. Als therapeutisches Ziel wird die Reduktion der Viruskopien möglichst unter die Nachweisgrenze postuliert. Die CD4-ZeIIzahI ist jedoch weiterhin von Bedeutung bei der Entscheidung über prophylaktische Maßnahmen. Die Entwicklung sogenannter Protease-Inhibitoren hat das Spektrum der zur Behandlung von HIV/AIDS zur Verfügung stehenden Substanzen erweitert und in Verbindung mit den bekannten Reverse-Transkriptase-Hemmern (z.B. Zidovudin = Retrovir) zu einer deutlichen Verbesserung der Therapie der HIV-Infektion geführt. Von grundlegendem Wert ist hierbei die Arbeit von Collier, A.C., et al. (4), die im Rahmen einer doppeltblinden, randomisierten Multizenterstudie bei Patienten mit fortgeschrittener HIV-Erkrankung die Sicherheit und Effektivität von Saquinavir (Invirase) untersuchte (ACTG Protokoll 229). Diese Studie verglich bei insgesamt 297 vorbehandelten (median 27 Monate lang) Patienten über einen Zeitraum von 24 Wochen (eine Verlängerung über 12 bis 32 Wochen unter Beibehaltung des Designs war möglich) die Wirkung von Saquinavir in Kombination mit einem (Zidovudin) oder zwei (Zidovudin, Zalcitabin = Hivid) Nukleosidanaloga gegenüber einem Kombinationsschema mit Zidovudin und Zalcitabin. Unter Berücksichtigung von CD4-Zellzahl sowie virologischen Daten (virale RNA, quantitative HIV-Bestimmung in der Kultur) erwies sich die Dreifachkombination mit Saquinavir der herkömmlichen Therapie mit zwei Nukleosidanaloga bzw. der Kombination Zidovudin plus Saquinavir überlegen. So lagen z.B. nach 24 Wochen 70% der Patienten mit Dreifachkombination über dem CD4-Ausgangswert, verglichen mit 63% in der Saquinavir/Zidovudin-Gruppe und 45% in der Zalcitabin/Zidovudin-Gruppe. Dieser Effekt war auch noch nach 48 Wochen statistisch signifikant. Unter Verwendung zweier Meßverfahren (bDNA und Reverse-Transkriptase-PCR-Assay) war die Dreifachkombination sowohl im Ausmaß wie auch in der Dauer der Virus-Suppression den Zweifachkombinationen signifikant überlegen. Die Kombination Saquinavir/Zidovudin war hinsichtlich der Virus-Suppression am wenigsten wirksam; nach 12 bis 16 Wochen war der Viral load zum Ausgangspunkt zurückgekehrt. Insgesamt kam es bei 19 Patienten (6%) zu einem Therapieabbruch wegen Nebenwirkungen (Müdigkeit, Diarrhö, Neutropenie u.a.), bei weiteren 33 Patienten (11%) konnten ein oder mehrere Symptome beobachtet werden, die therapieassoziiert erschienen. Bei 16% (n = 48) führten ausgeprägte Veränderungen der Laborwerte (Neutropenie, Erhöhung der CK) zu einer Dosisreduktion der Studienmedikation. Überraschenderweise ergab sich zwischen den Studienarmen kein signifikanter Unterschied hinsichtlich klinischer Nebenwirkungen oder laborchemischer Abweichungen. Insgesamt 17 Patienten entwickelten eine AIDS-definierende Erkrankung oder starben. Zwischen den Studienarmen zeigten sich auch hier keine signifikanten Differenzen (Dreifachkombination: 3, Saquinavir/Zidovudin: 8, Zidovudin/Zalcitabin: 6). Aufgrund des Fehlens klinischer Endpunkte in dieser Studie war eine Aussage zur Lebenszeit oder zur verzögerten Progression zu AIDS nicht möglich. Angesichts der positiven Korrelation zwischen niedrigen HIV-RNA-Titern im Blut und reduziertem Risiko der Krankheitsprogression darf jedoch ein Einfluß auf klinische Endpunkte erwartet werden. Den Protease-Inhibitoren liegt das Wirkprinzip zugrunde, durch nachhaltige Störung der Proteinsynthese des HIV beim Ausschleusen aus der Zelle nicht-infektiöse Virus-partikel entstehen zu lassen. Daneben wird die Aktivität der Reversen Transkriptase reduziert. Wie Collier, A.C., et al. konnten inzwischen auch andere Studiengruppen belegen, daß die Kombination von einem oder zwei Nukleosidanaloga mit einem Protease-Hemmer bei 40 bis 90% der Patienten den Viral load über 24 Wochen unterhalb der (derzeit möglichen) Nachweisgrenze halten kann. Neben Saquinavir stehen derzeit mit Ritonavir (Norvir) und Indinavir (Crixivan) zwei weitere, inzwischen zugelassene Protease-lnhibitoren zur Verfügung. Indinavir zeigte sich hierbei als potentester Wirkstoff in der Gruppe der Protease-Inhibitoren (5, 6, 8, 9). Ebenso wie bei den Nukleosidanaloga ist auch bei den Protease-Inhibitoren die Gefahr einer Resistenzentwicklung hoch. Gegenüber den anderen beiden Vertretern dieser Substanzklasse hat Saquinavir allerdings den Vorteil, daß bisher noch kaum kreuzresistente Mutanten bekannt geworden sind (7). Die geringe Bioverfügbarkeit von Saquinavir sowie Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten schränken seinen Gebrauch ein. An einer verbesserten Formulierung wird derzeit gearbeitet. Wenngleich bislang noch keine Langzeitbeobachtungen zum Suppressionseffekt von Kombinationstherapien mit Protease-Inhibitoren vorliegen, so unterstreichen die bisherigen Ergebnisse doch eine neue Therapieoption bei fortgeschrittener HIV-Infektion. In der Diskussion um Therapiebeginn und -wechsel ist festzustellen, daß bei fortgeschrittener HIV-Erkrankung und Vorbehandlung mit Nukleosidanaloga eine Kombinationstherapie mit Protease-Inhibitoren angezeigt ist. Aufgrund der schnellen Resistenzentwicklung sind diese jedoch immer mit Nukleosidanaloga zu kombinieren. Zur Frühtherapie mit Protease-Inhibitoren bzw. zur früh eingesetzten Dreifachkombination (bei CD4-Zellen > 500/µl) existieren derzeit noch wenig gesicherte Daten. Bei CD4-Zahlen < 500/µl und einem Viral load < 30 000/ml ist einer Zweifach-Therapie mit zwei Nukleosidanaloga Vorrang zu geben (10). Sollte sich darunter keine befriedigende Virusreduktion einstellen, ist die Dreifachtherapie eine Option. Das theoretische Konzept der frühzeitigen und vollständigen Virussuppression im Organismus spricht jedoch für die weitere Evaluierung der Dreifachkombination mit NukleosidanaIoga und Protease-Inhibitoren. Literatur
1. Ho, D.D., et al.: Nature 1995, 373, 123.
2. Wei, X., et al.: Nature 1995, 373, 117.
3. Mellors, J.W., et al.: Science 1996, 272, 1167.
4. Collier, A.C., et al.: N. Engl. J. Med. 1996, 334, 1011.
5. Gulick, R., et al.: Potent and sustained antiviral activity of indinavir, zidovudine and lamivudine. 11th International Conference on Aids, Vancouver 1996.
6. Lipsky, J.J.: Lancet 1996, 348, 800.
7. Schapiro, J.M., et al.: Ann. Intern. Med. 1996, 124, 1039.
8. Danner, S.A., et al.: N. Engl. J. Med. 1995, 333, 1528.
9. Markomitz, M., et al.: N. Engl. J. Med. 1995, 333, 1534.
10. Carpenter, C.C., et al.: JAMA 1996, 276, 146.