Nach dem Cannabisgesetz steht nun ein weiteres Gesetzesvorhaben aus dem Hause Lauterbach an, welches von wenigen Lobbygruppen gefeiert und von fast allen Vertretern der rationalen und evidenzbasierten Medizin mit Kopfschütteln kommentiert wird. Es geht um eine Änderung des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches mit dem putzigen Arbeitstitel „Gesundes-Herz-Gesetz“ (GHG), welches am 28.8.2024 vom Bundeskabinett beschlossen wurde [1]. Der Bundesgesundheitsminister orakelt, dass durch dieses Gesetz „die Lebenserwartung und die Lebensqualität in Deutschland deutlich“ verbessert werden kann.
In dem Ende August vom Bundeskabinett verabschiedeten 65-seitigen Gesetzentwurf wird konstatiert, dass Deutschland hinsichtlich der Lebenserwartung der Bevölkerung unter der von vielen anderen westeuropäischen Ländern liegt, obwohl es mehr Geld wie kein anderes Land in Europa für Gesundheit ausgibt. Der Grund hierfür sei in der vergleichsweise hohen kardiovaskulären Sterblichkeit zu finden. Ziel des GHG sei es, „durch ein Bündel an Maßnahmen die Früherkennung und die Versorgung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Deutschland zu verbessern und dadurch die Herz-Kreislauf-Gesundheit in der Bevölkerung zu stärken“.
Wer nun denkt, dass das BMG beabsichtigt die im Argen liegende Verhältnisprävention zu verbessern und z.B. die Produktion und den Verkauf von gesundheitsschädlichen Lebensmitteln einschränken, ein Werbeverbot und weitere Zugangserschwernisse für Suchtmittel durchzusetzen oder den Sport und die Gesundheitskompetenz in allen Altersstufen zu fördern, der irrt. Solche Begriffe tauchen in dem Gesetzentwurf gar nicht oder nur am Rande auf. Es wird im dem Gesetzentwurf nur allgemein formuliert: „den modifizierbaren Lebensstilfaktoren (..) soll auch weiterhin (..) insbesondere durch eine Stärkung der Bewegungsförderung und der Förderung einer gesunden und nachhaltigen Ernährung begegnet werden“.
Nach den Vorstellungen des BMG soll die Herz-Kreislauf-Gesundheit der Deutschen durch 5 Maßnahmen verbessert werden:
- durch ein Nationales Früherkennungsprogramm, also ein Screening ohne Anlass auf:
1a. familiäre Fettstoffwechselerkrankungen (aufgeführt wird nur LDL-Cholesterin) bei Kindern und Jugendlichen, im Rahmen der U- und J-Untersuchung durch die Kinderärzte);
1b. ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko (Quantifizierung des 10-Jahres-Risikos) bei allen Erwachsenen im Alter von 25, 35 und 50 Jahren durch eine erweiterte Gesundenuntersuchung (GU) bei ihren Hausärzten.
Die Versicherten sollen durch die gesetzlichen Krankenkassen „niedrigschwellig“ zu diesen Vorsorgeuntersuchungen eingeladen werden. Die genauen Inhalte dieser GU und die anzuwendenden Risikorechner sollen im Weiteren durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) festgelegt werden;
- durch ein „Disease Management Programm“ (DMP) für Personen mit hohem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Krankenkassen werden verpflichtet, Verträge mit ihren Versicherten hierzu mit den Leistungserbringern zu schließen. Der G-BA wird beauftragt, ein solches DMP auszuarbeiten;
- durch einen gesetzlichen Anspruch auf Versorgung mit Lipidsenkern und Stärkung der Verordnungsfähigkeit von Statinen „auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse und medizinischer Leitlinien“. „Das Nähere, insbesondere die Höhe der Ereignisrate, ab der ein Einsatz von Lipidsenkern medizinisch zweckmäßig ist, regelt der G-BA“;
- durch eine sog. „erweiterte Beratung in Apotheken“ mit Messungen zu kardiovaskulären Risikofaktoren (Diabetes mellitus, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen oder Adipositas) alle 12 Monate. Zudem sollen in den Apotheken „Kurzinterventionen“ zur Prävention tabakassoziierter Erkrankungen durchgeführt werden. Die Details soll die Bundesapothekerkammer auf der Grundlage anerkannter wissenschaftlicher Standards erarbeiten. Für diese neue pharmazeutische Dienstleistung sollen die Versicherten von ihren Krankenkassen Gutscheine erhalten;
- durch eine verbesserte Unterstützung bei der Tabakentwöhnung mit Anspruch auf Versorgung mit entsprechenden Arzneimitteln (bislang nur alle 3 Jahre erstattungsfähig und Beschränkung auf schwere Tabakabhängigkeit).
Als Beleg für die Wirksamkeit eines solchen bevölkerungsweiten Screenings wird das britische „NHS Health Check Programm“ angeführt [2]. Dort werden seit 2009 140.899 gesunde Erwachsene zwischen 40-74 Jahre alle 5 Jahre zu einem Gesundheitscheck beim Hausarzt eingeladen. Die Auswertungen derer, die das Angebot angenommen haben (68%), zeigte in der Interventionsgruppe (n = 48.602) innerhalb von 2 Jahren eine Zunahme der Diagnoserate von arterieller Hypertonie (+6%), Hypercholesterinämie (+11%), chronischen Nieren- (+15%) und Fettlebererkrankungen (+17%) sowie nach durchschnittlich 9,2 Jahren Nachbeobachtung eine Reduktion der Gesamtmortalität (4,1% vs. 5,3%). Unerwähnt bleibt in den Erörterungen zum GHG, dass bei der Primärprävention mit Arzneimitteln sehr hohe „Number Needed to Treat“-Werte bestehen (vgl. [3]) und durch Screeningprogramme auch Schäden entstehen können, wie Überdiagnostik, Übertherapie, Krankheits-„Labelling“ und psychische Belastungen.
Der im Juni veröffentlichte Referentenentwurf [4] des GHG sah in einigen Teilen noch anders aus, und es war darin die Absicht des Ministeriums zu erkennen, mehr Personen in Deutschland frühzeitig mit Statinen zu versorgen. Die Art der Risikoeinschätzung (SCORE2- bzw. SCORE2-OP-Risikorechner der Europäischen Kardiologischen Gesellschaft) und der Intervention (Atorva- oder Rosuvastatin) wurden in dem Entwurf vorgegeben. Besonders bemerkenswert war die offensichtliche Nichtbeteiligung unabhängiger wissenschaftlicher Institutionen und des G-BA, der in Deutschland gesetzlich beauftragt ist, auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse Leistungsansprüche zu bestimmen. Der Entwurf ähnelte in Teilen den Zielen und Argumenten einer kardiologischen Lobbygruppe, die sich „Nationale Herzallianz“ nennt und von der pharmazeutischen Industrie gesponsert wird [5], [6].
Das GHG erntete zu Recht sehr viel Kritik. Auf der Webseite des Ministeriums sind knapp 90 Stellungnahmen von wissenschaftlichen Fachgesellschaften, Selbsthilfegruppen, Krankenkassen und vielen Interessenverbänden veröffentlicht [7]. Kernpunkte der Kritik waren die unzureichende Evidenz für den Nutzen vieler der geplanten Maßnahmen, die mangelnde Beteiligung der für eine Nutzen-Risiko-Bewertung geeigneten unabhängigen Institutionen sowie die fehlende Transparenz hinsichtlich der Berater des Ministeriums in dieser Angelegenheit und deren Interessenkonflikte.
Von Seiten der Pädiatrie wurde bemängelt, dass ein derzeit laufendes Verfahren des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zu Nutzen und möglichen Schäden eines Screenings auf Fettstoffwechselstörungen bei Kindern nicht berücksichtigt werden sollte [8]. Das IQWiG wies darauf hin, dass die Evidenz für den Nutzen einer Statin-Verordnung zur Primärprävention im Alter zwischen 40 und 50 Jahren äußerst fraglich und für noch jüngere Menschen praktisch nicht vorhanden ist (familiäre Hypercholesterinämie ausgenommen). Zudem zweifelt das IQWiG an, dass durch die geplanten schriftlichen Einladungen überhaupt die Zielgruppe erreicht wird. Derartige Angebote würden vorrangig von Personen genutzt, die ohnehin häufiger ärztliche Kontakte haben. Auch seien die vom Ministerium vorgelegten Berechnungen zu den möglichen Kostenersparnissen ungeeignet und „aussagelos“ [8]. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) lehnte den Referentenentwurf in toto ab, da dieser nicht im Einklang stehe mit Prinzipien der evidenzbasierten Medizin. Mittel der Solidargemeinschaft würden für Partikularinteressen eingesetzt und nicht den Interessen der Versicherten und der Gesellschaft dienen [9].
Der nun vom Kabinett verabschiedete Gesetzentwurf reagiert auf die starke Kritik und erscheint inhaltlich ausgereifter als der Referentenentwurf. Die Inhalte des Screenings und die Art der Intervention (z.B. die LDL-Grenzwerte für Statin-Verordnungen) sollen vom G-BA festgelegt werden und bei der Risikobewertung wird nun immerhin auch ein anderer Risikorechner erwähnt (arriba). Andererseits wurde die spezielle Wirkstoffgruppe Statine überwiegend durch „Lipidsenker“ ersetzt, wie vom Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) vorgeschlagen [10]. Dies öffnet die Tür weit für die Anwendung anderer Medikamente, deren Nutzen für die Prävention weit weniger gut belegt ist (vgl. [11]).
Der Vorsitzende des G-BA sieht in einer ersten Stellungnahme die Gefahr einer „Staatsmedizin“ nun deutlich gemindert [12]. Bedauerlich sei jedoch, dass der Kabinettsbeschluss der Verhaltens- und Verhältnisprävention weiterhin nicht die Bedeutung beimisst, die ihr zukommen sollte und den Schwerpunkt auf (nicht evidenzbasierte) Früherkennung und Medikamenteneinnahmen legt. Und der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin benennt die Perspektive: „Gesundes Leben darf kein Luxus sein. Gesundes Verhalten muss einfacher und billiger, ungesundes teurer werden“ [13].