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Arzneimittel- und Therapiesicherheit: Die fehlende Stimme der Patienten

Unter dieser Überschrift beschäftigt sich Ethan Basch vom Memorial Sloan-Kettering Cancer Center New York im N. Engl. J. Med. (1) mit der nach seiner Ansicht zunehmenden Notwendigkeit, Patienten in den Prozess der Pharmakovigilanz einzubinden. Er ist davon überzeugt, dass ohne solche Informationen aus erster Hand das Wissen über Arzneimittel- und Therapiesicherheit sehr lückenhaft ist.

Basch stellt die These auf, dass unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) von den Ärzten und Behörden mit den ihnen gegenwärtig zur Verfügung stehenden Instrumenten viel zu spät oder gar nicht erkannt und in ihrer Häufigkeit erheblich unterschätzt werden. Die UAW, die in den Fachinformationen zugelassener Arzneimittel genannt werden, sind unter Studienbedingungen an sehr selektierten Studienpatienten beobachtet und von Prüfärzten bzw. pharmazeutischen Herstellern interpretiert und gefiltert worden.

Als typisches Beispiel für solch ein Filtern wird die Entwicklung von Atemnot unter einer bestimmten Krebstherapie genannt. Sie kann als UAW des Arzneimittels auftreten. Die behandelnden Ärzte tendieren jedoch häufig dazu, die Atemnot eher als Symptom der Grunderkrankung zu interpretieren, und folgerichtig erscheint sie dann auch nicht in UAW-Statistiken. Basch konstatiert „eine zunehmende Gewissheit darüber, dass Ärzte die von ihren Patienten gegebenen Berichte über UAW fehlinterpretieren, missverstehen und den Schwergrad systematisch herunterspielen”.

In der so genannten „real world” erweisen sich zugelassene Medikamente dann nicht selten als wesentlich gefährlicher als nach der klinischen Prüfung angenommen. Prominente Beispiele für Marktrücknahmen nach der Zulassung wegen zu spät erkannter Risiken sind: Cerivastatin = Lipobay®, Rofecoxib = Vioxx®, Aprotinin = Trasylol®, Rimonabant = Accomplia® u.a. (2, 3).

Wie sehr die ärztliche Wahrnehmung zur Verträglichkeit von Therapien und zum Gesundheitszustand ihrer Patienten von der eigenen Wahrnehmung der Patienten abweicht, zeigt das Ergebnis einer Befragung am Memorial Sloan-Kettering Cancer Center. Darin wurden 467 Krebspatienten bei über 4000 Visiten 25 Monate lang jeweils gebeten, detailliert über ihre Symptome und ihren Allgemeinzustand während einer Krebstherapie zu berichten, standardisiert mit Hilfe von sechs CTCAE*-Symptomen (Common Terminology Criteria for Adverse Events) und dem Karnofsky-Index. Hieraus ergab sich eine sehr detaillierte Längsbeobachtungsstudie. Die gewonnen Angaben wurden mit dem von Ärzten und Pflegekräften notierten Status in den Krankenakten verglichen. Es fanden sich dabei erhebliche Unterschiede (s. Tab. 1). Viele der abgefragten und nicht berichteten Symptome sind zumindest teilweise auf die Arzneimitteltherapie zurückzuführen.

Als Alternative, die Verträglichkeit von Therapien valide zu beurteilen, schlägt der Autor vor, die Patienten direkt einzubeziehen. Patienten sollten, von Ärzten ungefiltert, über Veränderungen in ihrem Wohlbefinden während einer Therapie berichten können. Dies ließe sich beispielsweise mit einer „Symptom-Datenbank” realisieren. Mit Hilfe von Standards und moderner Datenbank-Technologien könnten diese Daten so ausgewertet werden, dass Unverträglichkeiten wesentlich schneller auffallen. Auch einem möglichem Missbrauch, z.B. durch falsche Eingaben zur gezielten Diskreditierung eines Arzneimittels, könne vorgebeugt werden. Am Memorial Sloan-Kettering Cancer Center New York kommt solch eine Datenbank bereits zum Einsatz (PRO-CTCAE; 4).

Schon während der klinischen Prüfung von Arzneimitteln erhielten auf diese Weise die Hersteller und die Zulassungsbehörden Informationen aus erster Hand. Bislang verfügen sie nur über die ärztlich vorgefilterten Informationen aus den „case report forms”. Auch nach der Zulassung sollte dieser Überwachungsprozess weitergeführt und Beobachtungskohorten eingerichtet werden. Diese Kohorten sollen regelmäßig online über ihr Befinden berichten, im Dienste der Arzneimittel- und Therapiesicherheit.

Fazit: Die Verträglichkeit einer Therapie kann ohne Informationen aus erster Hand, d.h. von den Patienten selbst, nicht hinreichend beurteilt werden. Sowohl in der Phase der klinischen Prüfung eines Arzneimittels bzw. Medizinprodukts als auch nach deren Zulassung sollten häufiger standardisierte Patientenbefragungen über Verträglichkeit und Sicherheit durchgeführt werden.

Literatur

  1. Basch, E.: N. Engl. J. Med. 2010, 362, 865. Link zur Quelle
  2. AMB 2001, 35, 70 Link zur Quelle ; AMB 2004, 38, 73a Link zur Quelle ; AMB 2008, 42, 15a Link zur Quelle ; AMB 2008, 42, 92b. Link zur Quelle
  3. Giacomini, K., et al.: Nature 2007, 446, 975. Link zur Quelle
  4. http://outcomes.cancer.gov/tools/pro-ctcae.html Link zur Quelle

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