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Medikamentöse Therapie der Multiplen Sklerose: Verbessern Postmarketing-Studien die Evidenz für die krankheitsmodifizierende Wirksamkeit?

Seit über 20 Jahren werden Interferon beta-1a und -1b (vgl. 1) sowie Glatirameracetat (vgl. 2) zur Behandlung der Multiplen Sklerose mit schubförmig-remittierendem Verlauf (relapsing-remitting multiple sclerosis = RRMS) eingesetzt. Seitdem erhielten zahlreiche weitere Wirkstoffe von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) eine Zulassung für diese Indikation. Die Therapie der MS ist dadurch erheblich komplexer geworden, wobei die relative Wirksamkeit der zur Verfügung stehenden Medikamente kontrovers diskutiert wird (vgl. 1-4). Zudem gibt es bisher nur wenige Belege dafür, dass die Progression der Behinderung medikamentös verzögert werden kann (5). Eine aktuelle Studie aus Italien hat die den Zulassungen zugrunde liegende Evidenz und die Frage untersucht, ob Postmarketing-Studien dazu beitragen, die Erkenntnislücken zu schließen (6).

Die Studie befasst sich mit 8 Wirkstoffen, die von der EMA seit der Einführung von Interferon beta-1a und -1b und Glatirameracetat bis Juli 2017 zugelassen wurden: Alemtuzumab (vgl. 7), Daclizumab (vgl. 8), Dimethylfumarat (vgl. 9), Fampridin (vgl. 10), Fingolimod (vgl. 11), Peginterferon beta-1a, Natalizumab (vgl. 12), Teriflunomid (vgl. 13). Bis auf Fampridin, das für die symptomatische Verbesserung der Gehfähigkeit bei MS zugelassen ist, handelt es sich um Arzneimittel, die krankheitsmodifizierend wirksam sind. Bei allen Wirkstoffen hatte die EMA zum Zeitpunkt der Zulassung Kenntnislücken hinsichtlich des Wirksamkeit-Risiko-Profils festgestellt.

Es wurden 16 für die Zulassung relevante („pivotal“) klinische Studien analysiert, die zur Zulassung der 8 Wirkstoffe geführt hatten. In 5 dieser Studien erfolgte ein Vergleich mit einem aktiven Wirkstoff, in allen Fällen war dies Interferon beta-1a. Dagegen wurde in 11 von 16 Studien der neue Wirkstoff mit Plazebo verglichen. Die Studiendauer betrug bei 6 Studien ein Jahr oder kürzer und nur in 2 Studien mehr als 2 Jahre. Als primärer Studienendpunkt wurde in mehr als zwei Dritteln der Studien die jährliche Schubrate festgelegt. Neben der Schubrate berücksichtigten nur 2 von 16 Studien zusätzlich die Progression der Behinderung als primären – und patientenrelevanten – Endpunkt.

Zudem konnten über eine umfangreiche Literaturrecherche 52 randomisierte, kontrollierte Studien identifiziert werden – vor allem zu Fampridin, Fingolimod, Teriflunomid, Dimethylfumarat –, die nach der Zulassung der 7 neuen Wirkstoffe zur Behandlung der MS durchgeführt worden waren. Für weniger als die Hälfte dieser Studien (n = 24) lagen Ergebnisse vor. Bei den anderen 28 Studien war die Rekrutierung von Patienten noch nicht abgeschlossen oder aber es lagen nach Abschluss der Rekrutierung bzw. Beendigung der Studie noch keine Ergebnisse vor. Wie bei den Zulassungsstudien waren auch etwa zwei Drittel der Postmarketing-Studien plazebokontrolliert. Eine Minderheit (17%) verglich den neuen Wirkstoff mit den etablierten Wirkstoffen Interferon beta-1a und -1b bzw. Glatirameracetat. Nur eine Studie verglich die Wirksamkeit von zwei neuen Wirkstoffen miteinander (Natalizumab versus Fingolimod), wurde aber von dem pharmazeutischen Unternehmer aus „Geschäfts-Gründen“ vorzeitig beendet. Zwei weitere, bisher nicht abgeschlossene Studien vergleichen Dimethylfumarat mit Rituximab und eine Studie Natalizumab mit Mitoxantron. Lediglich eine publizierte Postmarketing-Studie untersuchte die Progression der Behinderung als primären Endpunkt und nur 2 Studien die MS-Therapeutika bei progressiven Formen der MS: Fingolimod bei primär progressiver MS (14) und Natalizumab bei sekundär progressiver MS (15).

Die Autoren der italienischen Analyse kritisieren, dass die Mehrzahl der Zulassungs- und Postmarketing-Studien für neue Wirkstoffe zur Behandlung der MS einen Plazebo-Arm verwendet und somit einem Teil der Patienten eine wirksame Therapie vorenthalten wird (6, 16). Dies verstößt aus ihrer (und auch aus unserer) Sicht gegen die Deklaration von Helsinki (17). Zudem werden die zum Zeitpunkt der Zulassung neuer MS-Wirkstoffe häufig noch offenen Fragen auch durch Postmarketing-Studien nicht oder erst relativ spät beantwortet. Die Ergebnisse vieler klinischer Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit neuer Wirkstoffe zur Behandlung der MS sind nur eingeschränkt auf die Routineversorgung übertragbar (18). Benötigt werden deshalb dringend – wie beispielsweise auch in der Onkologie – klinische Studien nach der Zulassung, die medikamentöse Therapiealternativen direkt („head-to-head“) vergleichen, dabei patientenrelevante Endpunkte, aber auch die Sicherheit weiter untersuchen (sog. „comparative effectiveness research“; 19, 20). Auch ist bisher unklar, ob die zugelassenen Wirkstoffe die Langzeit-Prognose bei MS tatsächlich verbessern (21). Künftig müssten Studien daher nicht nur die jährliche Schubrate, sondern auch verstärkt die Progression der Behinderung als wichtigen (primären) Endpunkt berücksichtigen, wie es auch die aktuelle Guideline der EMA für klinische Studien zur medikamentösen Behandlung der MS fordert (22). Um diese für Ärzte, Patienten und Entscheidungsträger im Gesundheitswesen wichtigen Fragen zu beantworten, schlagen die Autoren der Analyse sogenannte „pragmatische“ und Industrie-unabhängige Studien vor (23).

Fazit: Zur medikamentösen Therapie der Multiplen Sklerose stehen mehrere Wirkstoffe mit unterschiedlichen Wirkmechanismen zur Verfügung. Es fehlen jedoch vergleichende Studien, so dass der jeweilige therapeutische Stellenwert eines Wirkstoffs und eventuelle spezielle Indikationen weiterhin unklar sind.

Literatur

  1. AMB 2001, 35, 63b Link zur Quelle . AMB 1999, 33, 13b Link zur Quelle . AMB 1998, 32, 09. Link zur Quelle
  2. AMB 2004, 38, 01 Link zur Quelle . AMB 2003, 37, 01 Link zur Quelle . AMB 1998, 32, 09. Link zur Quelle
  3. Thompson, A.J., et al.: Lancet 2018, 391, 1622. Link zur Quelle
  4. Montalban, X., et al.: Eur. J. Neurol. 2018, 25, 215. Link zur Quelle . Erratum: Eur. J. Neurol. 2018, 25, 605.
  5. Tramacere, I., et al.: Cochrane Database Syst. Rev. 2015, Sep 18;(9):CD011381. Link zur Quelle
  6. Gerardi, C., et al.: Neurology 2018, 90, 964. Link zur Quelle
  7. AMB 2013, 47, 77 Link zur Quelle . AMB 2012, 46, 67. Link zur Quelle
  8. AMB 2018, 52, 44. Link zur Quelle
  9. AMB 2014, 48, 96. Link zur Quelle
  10. AMB 2012, 46, 72a. Link zur Quelle
  11. AMB 2010, 44, 41 Link zur Quelle. AMB 2010, 44, 80b. Link zur Quelle
  12. AMB 2006, 40, 51. Link zur Quelle
  13. AMB 2011, 45, 91. Link zur Quelle
  14. Lublin, F., et al. (INFORMS): Lancet 2016, 387, 1075. Link zur Quelle . Erratum: Lancet 2017, 389, 254.
  15. Kapoor, R., et al. (ASCEND): Lancet Neurol. 2018, 17, 405. Link zur Quelle
  16. Garattini, S., et al.: Eur. J. Clin. Pharmakol. 2013, 69, 711. Link zur Quelle
  17. World Medical Association, Deklaration von Helsinki: Link zur Quelle
  18. http://aok-bv.de/… Link zur Quelle
  19. Witt, C., et al.: Dtsch. Arztebl. 2011, 108, 2468. Link zur Quelle
  20. Auricchio, F., et al.: Expert Opin. Drug Saf. 2017, 16, 1359. Link zur Quelle
  21. Scolding, N., et al.: Pract. Neurol. 2015, 15, 273. Link zur Quelle
  22. http://www.ema.europa.eu/… Link zur Quelle
  23. Ford, I., und Norrie, J.: N. Engl. J. Med. 2016, 375, 454. Link zur Quelle