In vier einschlägigen Fachzeitschriften erschien zum Jahreswechsel zeitgleich eine gemeinsame Stellungnahme („Joint Opinion“) von vier großen internationalen kardiologischen Fachgesellschaften: European Society of Cardiology = ESC; American Heart Association = AHA; American College of Cardiology = ACC; World Heart Federation = WHF. Sie befasst sich mit den aktuellen Rahmenbedingungen und der Zukunft randomisierter klinischer Studien [1]. Wir möchten die kurze, drei Seiten umfassende, aber wichtige Publikation zusammenfassen.
Die Autoren weisen einleitend auf die bahnbrechende historische Bedeutung großer randomisierter kontrollierter Studien (RCT) für die Kardiologie hin. Studien zur Behandlung des akuten Myokardinfarkts, der Herzinsuffizienz sowie zur kardiovaskulären Prävention zählten ab den 1980er Jahren zu den ersten großen klinischen RCT überhaupt und lieferten wegweisende, bis heute gültige Erkenntnisse. Seither haben sich allerdings die Rahmenbedingungen für klinische Studien teils gravierend verändert:
- Auch wenn die kardiovaskuläre Sterblichkeit weltweit immer noch den Spitzenplatz belegt, sind als Folge verbesserter therapeutischer und präventiver Maßnahmen die Mortalitäts- und Morbiditätsraten deutlich gesunken. Das erzielte niedrigere absolute Grundrisiko für kardiovaskuläre Erkrankungen hat zur Folge, dass in entsprechenden RCT immer größere Teilnehmerzahlen nötig sind, um eine verlässlich hohe statistische Aussagekraft zu erreichen. Dies wird noch verstärkt dadurch, dass die von neuen Therapien zu erwartenden, zusätzlich günstigen Behandlungseffekte oft nur moderat sind.
- Besonders die Evaluierung präventiver Maßnahmen benötigt ausreichend Zeit, um ihre Wirkungen (oder die Unwirksamkeit) zu belegen. Als Beispiel führen die Autoren die Studien zu den Proproteinkonvertase Subtilisin/Kexin Typ 9(PCSK9)-Hemmern an mit der (zu) kurzen Nachbeobachtungszeit von nur 2 bis 3 Jahren (vgl. [2]).
- In den vergangenen Jahren wurden Planung und Durchführung von RCT stark reglementiert. Die 1996 erstmals publizierten Leitlinien („International Council for Harmonization Good Clinical Practice“ = ICH-GCP) etablierten wichtige Standards zum Schutz von Studienteilnehmern und zur Gewährleistung der Datenqualität. Mittlerweile werden diese nach Ansicht der Autoren der gemeinsamen Stellungnahme allerdings häufig überinterpretiert. Die Studienkosten werden dadurch unnötig hochgetrieben – auch als Folge des finanziellen Interesses externer kommerzieller Forschungsinstitute, die heutzutage bei größeren Studien üblicherweise mit der Planung und Durchführung der Studienabläufe beauftragt werden. Sie profitieren direkt z.B. von zusätzlichen, oft unnötigen Studienvisiten und anderen bürokratischen Abläufen.
Dieser Trend zu immer größeren, immer länger dauernden und immer aufwändigeren Studien ist mittlerweile für Industriesponsoren mitunter ein beträchtliches ökonomisches Hindernis. Umso mehr ist davon die Durchführung von solchen Studien betroffen, die keine oder nur geringe finanzielle Unterstützung finden, weil sie Erkrankungen (z.B. rheumatische Herzerkrankung, Morbus Chagas) in einkommensschwachen Bevölkerungen oder generische Arzneimittel oder mehrere Arzneimittel untersuchen, z.B. „Head-to-head“-Vergleich von Direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK). Auch hinsichtlich unterrepräsentierter Bevölkerungsgruppen und Diversität bestehen offene Fragen.
Die Autoren rufen daher zu einer „Neuerfindung“ der RCT in „globalem Maßstab“ auf und machen folgende Lösungsvorschläge:
- Vereinfachung der Studienprozesse: Die COVID-19-Pandemie habe gezeigt, dass sorgfältige RCTs auch rasch und mit deutlich vereinfachten Methoden (z.B. virtuelle Studienvisiten, Telemedizin) unter schwierigen Bedingungen durchgeführt werden können, indem man sich z.B. nur auf wesentliche Daten und Endpunkte beschränkt und – wo immer möglich – auf die heute ohnehin ubiquitär vorhandenen elektronischen Gesundheitsakten („Electronic Health Record“ = EHR) zurückgreift. Die Autoren weisen aber auch darauf hin, dass es sich ebenfalls in der Pandemie erwiesen habe, dass es schlimmer ist, kleine und schlecht gemachte Studien zu haben als gar keine.
- Vermehrte Nutzung von routinemäßig erfassten Patientendaten für die Durchführung von RCTs: Vor allem skandinavische Länder haben bereits eine lange Tradition umfassender systematischer bevölkerungsbasierter Register und daraus abgeleiteter (Beobachtungs-)Studien, so z.B. das schwedische kardiologische SWEDEHEART-Studienprogramm (z.B. [3]). Derzeit laufen Bestrebungen, nationale Register auf europäischer Ebene zusammenzuführen und die Voraussetzungen für prospektive, sogenannte „Randomisierte Registerstudien“ zu schaffen. Als Beispiel für solche RCTs neueren Typs verweisen wir auf die randomisierte Vergleichsstudie von Hydrochlorothiazid/Chlortalidon des Diuretic Comparison Project, das auf die US-amerikanische Veterans Affairs Datenbanken zurückgreift [4]. In vielen Ländern stehen einer solchen Verwendung von Patientendaten allerdings noch große datenschutzrechtliche und regulatorische Hürden entgegen.
- Gemeinschaftliche Überarbeitung der ICH-GCP-Leitlinien: Die Autoren unterstützen explizit den kürzlich von der „Good Clinical Trials Collaborative“ (GCTC) vorgestellten Leitfaden zur Durchführung von RCTs [5]. Die GCTC wurde von drei gemeinnützigen Organisationen („Wellcome Trust, Gates Foundation, African Academy of Sciences“) ins Leben gerufen, mit dem Ziel, Studiendaten rasch, sicher, ethisch sowie unabhängig von äußeren, z.B. sozioökonomischen, geographischen und ethnischen Rahmenbedingungen zu gewährleisten.
Wir befürworten die Ausführungen der vier kardiologischen Fachgesellschaften und auch die unterstützenswerten Vorschläge der GCTC. Die Bestrebungen, qualitativ gute klinische Studien mit einfacheren Mitteln sowie möglichst in bestehende Routinestrukturen der Gesundheitssysteme eingebettet und damit kostengünstiger durchzuführen, sind ein wichtiger erster Schritt in die richtige Richtung. Wir haben immer wieder auf das Dilemma mit den großen RCTs hingewiesen, die seit vielen Jahren de facto nur noch mit Unterstützung der pharmazeutischen Industrie finanzierbar sind. Aufgrund der damit verbundenen potenziellen Einflussnahme durch pharmazeutische Unternehmer sollte diese Förderung für alle Phasen einer klinischen Studie – von Planung des Studiendesigns bis zur Publikation – transparent und jederzeit auch nachträglich einer kritischen Überprüfung zugänglich sein. Dasselbe gilt für die den Studienergebnissen zugrundeliegenden Rohdaten. Auch diese sollten als Basis für eine offene Diskussion ohne bürokratische Hemmnisse mit der wissenschaftlichen Gemeinschaft geteilt werden können. Es bleibt zu hoffen, dass den wohlgemeinten Absichtserklärungen auch konkrete Schritte (auf internationaler Ebene) folgen. Dass von solchen „schlankeren“ Strukturen in erster Linie die Patienten und nicht wiederum die pharmazeutischen Unternehmer profitieren, wird wohl eine große Herausforderung sein.