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Meldung von Arzneimittel-Nebenwirkungen

Eine Nebenwirkung (NW) ist eine schädliche und unbeabsichtigte Reaktion auf ein Arzneimittel (synonym: Unerwünschte Arzneimittelwirkung = UAW). NW können bei einem bestimmungsgemäßen Gebrauch entsprechend der Fachinformation auftreten, aber auch bei Überdosierung, Fehlgebrauch, Missbrauch, bei Medikationsfehlern oder bei einer Anwendung außerhalb der zugelassenen Indikation („off-label-use“; 1). Die Angaben über die Häufigkeit von NW variieren, je nach untersuchter Population und den verwendeten Suchmethoden und Definitionen. Nach einem systematischen Review aus dem Jahr 2013 beträgt die Prävalenz von NW in der Hausarztmedizin in retrospektiven Studien 3,3%, in prospektiven Studien 9,6%, bei Kindern 1,4%, bei Erwachsenen 5,2% und bei älteren Menschen 16,1% (2).

Angehörige von Gesundheitsberufen sind in Deutschland und Österreich gesetzlich bzw. nach ihrer Berufsordnung verpflichtet, alle ihnen bekanntwerdenden NW – auch den Verdacht – an die zuständigen Stellen zu melden. Diese Meldungen dienen 1. der Aufdeckung bislang unbekannter und seltener NW; 2. der Erfassung von Sicherheitsproblemen mit neuen Arzneimitteln im klinischen Alltag; 3. der Überwachung bekannter Arzneimittel (Änderungen der Verordnungspraxis können über die Zeit zu Änderungen des Sicherheitsprofils führen) und 4. der Erfassung typischer Risiken durch Medikationsfehler, z.B. Verwechslung von Präparaten mit ähnlichen Namen (1). Die Gesamtheit der Maßnahmen zur Entdeckung, Erfassung, Bewertung und Vorbeugung von NW sowie anderen arzneimittelbezogenen Problemen, die bei der Anwendung von Arzneimitteln auftreten, wird als Pharmakovigilanz bezeichnet (3).

Aus dem Alltag und vielen Studien ist bekannt, dass der Verpflichtung, NW zu melden, zu selten nachgekommen wird. Ein systematisches Review kam zu dem Ergebnis, dass nur etwa eine von 20 NW gemeldet wird (4). Dieses „Underreporting“ schwächt die Pharmakovigilanz, denn sie ist wesentlich auf die Spontanmeldungen angewiesen, aus denen sich Risikosignale ergeben können. Um die Meldebereitschaft zu erhöhen, wurde in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen. Hierzu gehören niedrigschwellige und vereinfachte Meldemodalitäten, „Awareness“-Kampagnen der zuständigen nationalen Agenturen (in D: PEI, BfArM; in Ö: BASG/AGES), die EU-weite Öffnung der Meldemöglichkeit für Patienten im Jahr 2012 (5) und die Einführung des schwarzen Dreiecks auf den Verpackungen und Fachinformationen von Medikamenten, die unter einer besonderen Überwachung stehen. Das schwarze Dreieck (6; vgl. 16) kennzeichnet ab dem Jahr 2013 alle Medikamente mit neuen Wirkstoffen („new active substances“), Biologika, Arzneimittel, für die eine Sicherheitsstudie („post-authorisation safety study“) nach der Zulassung angeordnet wurde, sowie Arzneimittel, die unter besonderen Umständen zugelassen wurden („authorised under exceptional circumstances“). Derzeit tragen ca. 380 zentral in der EU zugelassene Medikamente ein schwarzes Dreieck, darunter auch die SARS-CoV-2-Vakzinen (6). Jedes ungewöhnliche Ereignis, das im Zusammenhang mit der Anwendung eines Arzneimittels mit schwarzem Dreieck auftritt, soll gemeldet werden.

Die Auswirkungen dieser Maßnahmen können im „Annual Report on EudraVigilance for the European Parliament, the Council and the Commission“ nachgelesen werden (7). Ab 2015 stiegen die Meldungen an EurdraVigilance aus dem europäischen Wirtschaftsraum (EWR) deutlich an: von ca. 350.000 Meldungen pro Jahr auf > 1 Mio. im Jahr 2018. In den 2 Jahren vor der Pandemie gingen die Meldungen aber wieder zurück: 2020 kamen 812.760 Meldungen aus dem Europäischen Wirtschaftraum. Dabei kam fast jede 5. Meldung direkt von Patienten (17,7%). In Österreich verlief die Entwicklung sehr ähnlich, mit einer Zunahme von rund 5.000 (2013) auf 10.000 (2019) und einem Rückgang auf 8.100 (2020). Hier kamen allerdings nur 5% der Meldungen direkt von Patienten, 82% von den Zulassungsinhabern und nur 13% direkt von Ärzten und Apothekern (8). In Deutschland (2020 ca. 83.000 Spontanmeldungen) lief die Entwicklung der Meldezahlen sehr ähnlich (9).

Wegen der raschen Entwicklung und Markteinführung der SARS-CoV-2-Vakzinen und der Aufrufe, alle NW zu melden, wird 2021 für die Pharmakovigilanz ein außergewöhnliches Jahr. Allein bei der österreichischen Medizinmarktaufsicht (BASG/AGES) gingen innerhalb der ersten 3 Monate bereits > 20.000 Meldungen über vermutete NW im Rahmen der SARS-CoV-2-Impfkampagne ein (10). Dies weist auf ein zentrales Problem des Spontanmeldesystems hin. Wenn bestimmte NW bekannt werden, dann häufen sich die Meldungen hierzu und das mit dem Medikament verbundene Risiko wird überschätzt. Andererseits bleiben seltene NW oft lange unerkannt, weil nicht konsequent gemeldet wird, und das Risiko eines Medikaments wird dadurch lange unterschätzt. Tab. 1 gibt einige Vorschläge, welche NW bevorzugt gemeldet werden sollten.

Um die Gründe für das „Underreporting“ von NW besser zu verstehen und das Wissen über die Auswirkungen des schwarzen Dreiecks auf die Melderate zu analysieren, haben Mitarbeiter der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) im Jahre 2017, also noch vor der Pandemie, eine nicht repräsentative Online-Umfrage durchgeführt (11). Die Befragung richtete sich an Angehörige von Gesundheitsberufen und Patienten bzw. ihre Betreuer. Diese wurden zufällig über Mailing-Listen von Patientenorganisationen und verschiedenen sozialen Medien angesprochen. Insgesamt antworteten 2.918 nicht repräsentative Personen. Von den Befragten waren 53% Angehörige von Gesundheitsberufen (13% Ärzte, 29% Pharmazeuten, 4% Pflegende, 6% andere Berufe); 39% waren Patienten oder ihre Betreuer und 7% andere interessierte Personen. Mindestens eine NW im Laufe ihres Lebens beobachtet oder selbst erlebt zu haben gaben 76% an, und 75% berichteten, schon einmal eine NW gemeldet zu haben.

Die Hälfte der Befragten hatte das schwarze Dreieck auf den Arzneimittelpackungen schon einmal bemerkt. Am besten war das Symbol bei Pharmazeuten bekannt (83%), am wenigsten bei Patienten (30%). Die genaue Bedeutung des schwarzen Dreiecks kannten 36% der Befragten, 10% verfügten über ein Halbwissen und 20% waren falsch informiert. So waren beispielsweise einige der Meinung, es kennzeichne Arzneimittel, die besonders nebenwirkungsreich sind, die Fahrtüchtigkeit beeinträchtigen oder besonders gelagert werden müssen. Ein Drittel gab an, gar nichts über das schwarze Dreieck zu wissen bzw. beantworteten die Frage nicht (11).

Als Gründe, warum eine beobachtete NW in der Vergangenheit nicht gemeldet wurde, nannten 35% „weil diese NW bereits bekannt war“, 18% „weil die NW nicht schwerwiegend war“ und 15% „weil ein kausaler Zusammenhang mit dem Arzneimittel unsicher war“. Weitere, häufig genannte strukturelle Gründe waren Zeitmangel und technische Probleme hinsichtlich der NW-Meldung. Als begünstigend für die Meldungen von NW wurden genannt: schwere und unbekannte NW, NW nach Biologika und Vakzinen sowie das schwarze Dreieck.

Diese Aussagen bestätigen Missverständnisse und Fehleinschätzungen, die seit Jahren bekannt sind (12, 13). Es ist offenbar noch nicht gelungen, diese auszuräumen. Die Pandemie und die Erfahrungen mit den SARS-CoV-2-Vakzinen könnten nun eine Chance sein, das Meldeverhalten nachhaltig zu verbessern. Das wäre auch deshalb wichtig, weil bei einer wachsenden Zahl neuer, häufig beschleunigt zugelassener Arzneimittel viele Fragen zur Sicherheit bei der Zulassung noch unbeantwortet sind und deshalb gründlich weiter analysiert werden müssen. Dies gilt vor allem für „Orphan drugs“, die vor der Markteinführung nur an wenigen Patienten getestet werden können, aber auch für Arzneimittel, die heutzutage immer häufiger im Rahmen beschleunigter Zulassungsverfahren zugelassen werden, z.B. bedingte Zulassung, Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen, beschleunigte Beurteilung, PRIME (= Priority Medicines).

Es gibt Argumente für und gegen diese beschleunigten Zulassungen. Aus unserer Sicht sind solche Verfahren nur dann akzeptabel, wenn zugleich die Pharmakovigilanz deutlich gestärkt wird. Wer sich für dieses wichtige Thema und aktuelle Sicherheitswarnungen besonders interessiert, dem möchten wir das viermal im Jahr erscheinende Bulletin zur Arzneimittelsicherheit von BfArM und PEI (14) und die Drug Safety Mail der AkdÄ empfehlen (15). Die aktuelle Ausgabe dieses Bulletins beschäftigt sich u.a. mit dem Thema „COVID-19-Impfstoffe – Pharmakovigilanzsysteme funktionieren“.

Fazit: Meldungen von Arzneimittel-Nebenwirkungen sind essenziell für die Pharmakovigilanz. Die große Bedeutung solcher Meldungen für die Nutzen-Risiko-Bewertung von Arzneimitteln zeigt sich gerade bei der Einführung der SARS-CoV-2-Vakzinen (vgl. 17). „Awareness“-Kampagnen, technische Erleichterungen beim Melden, die Öffnung der Meldesysteme für Patienten und die Kennzeichnung von Medikamenten-Verpackungen, die unter besonderer Überwachung stehen, mit einem schwarzen Dreieck haben in den letzten Jahren zu einer Zunahme der Nebenwirkungsmeldungen geführt. Diese positive Entwicklung muss unbedingt weiter gefördert werden, zumal bei einer wachsenden Zahl von „Orphan drugs“ sowie häufig beschleunigt zugelassener Arzneimittel viele Fragen zur Sicherheit bei der Zulassung noch unbeantwortet sind und besonders gründlich weiter analysiert werden müssen.

Literatur

  1. Leitfaden „Nebenwirkungen melden“ (1. Auflage). Link zur Quelle
  2. Taché, S.V., et al.: Ann. Pharmacother. 2011, 45, 977. Link zur Quelle
  3. https://www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/AVP/Artikel/201503/099h/index.php Link zur Quelle
  4. Hazell, L., und Shakir, S.A.W.: Drug Saf. 2006, 29, 385. Link zur Quelle
  5. https://www.aerztezeitung.de/Wirtschaft/Behoerden- vereinfachen-UAW-Meldung-228083.html Link zur Quelle
  6. https://www.ema.europa.eu/en/human-regulatory/ post-authorisation/pharmacovigilance/medicines-under -additional-monitoring/list-medicines-under- additional-monitoring Link zur Quelle
  7. 2020 Annual Report on EudraVigilance for the European Parliament, the Council and the Commission (europa.eu) Link zur Quelle
  8. https://www.basg.gv.at/ueber-uns/statistiken/arzneimittelsicherheit Link zur Quelle
  9. https://www.bfarm.de/SharedDocs/ Downloads/DE/Arzneimittel/ Pharmakovigilanz/Gremien/ RoutinesitzungPar63AMG/ 88Sitzung/pkt-2-1-1.pdf?__blob =publicationFile&v=2 Link zur Quelle
  10. https://science.orf.at/stories/3206228/ Link zur Quelle
  11. Januskiene, J., et al.: Pharmacoepidemiol Drug Saf. 2021, 30, 334. Link zur Quelle
  12. Göttler, M., et al.: Dtsch. Arztebl. 1999, 96, A-1704. Link zur Quelle
  13. Gahr, M., et al.: Dtsch. Arztebl 2016, 113, A-378. Link zur Quelle
  14. https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Pharmakovigilanz/Bulletin/_node.html Link zur Quelle
  15. https://www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/DSM/index.html Link zur Quelle
  16. AMB 2013, 47, 24. Link zur Quelle
  17. AMB 2021, 55, 07. Link zur Quelle

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