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Leserbrief: Behandlung von Long COVID- und Post-COVID-Syndrom

Frage von Dr. P. aus S.: >> Ich bin Hausarzt und momentan viel mit (Post-)COVID konfrontiert. Was kann evidenzbasiert gesagt werden über die Wirksamkeit von Mastzell-Stabilisatoren und Vitamin C bei Post-COVID-Zuständen und was zu Ivabradin beim posturalen Tachykardie-Syndrom (POTS)? Dies wird in patientengeführten Selbsthilfegruppen momentan heiß diskutiert, bei Kollegen und Kolleginnen aber nicht. <<

Antwort: >> Halten die Symptome nach COVID-19 länger als 4 Wochen an, wird von einem „Long COVID“ und bei Persistenz der Symptome von > 12 Wochen von einem „Post-COVID-Syndrom“ gesprochen [1]. Long COVID bezeichnet nur die lange Dauer der Symptome, denn bei den meisten Patienten ist Virus nicht mehr nachweisbar. Ausnahmen gibt es bei immunsupprimierten Patienten, wie beispielsweise unter Therapie mit Rituximab. Die Diagnose ist schwierig, denn sie kann derzeit weder durch eine einzelne Laboruntersuchung noch durch einen klinischen Algorithmus objektiviert werden. Auch sind die Beschwerden von Long/Post-COVID vielfältig, und wahrscheinlich müssen mehrere Typen unterschieden werden, z.B. „Post-Intensive-Care-Syndrome“ (PICS), Patienten mit spezifischen Folgeerkrankungen (kardiovaskulär, kognitiv, psychisch) oder mit einem Erschöpfungs(Fatigue)-Syndrom mit oder ohne Dyspnoe oder einem Schmerzsyndrom. Derartige Phänomene sind übrigens auch von anderen Infektionserkrankungen bekannt, z.B. Infektiöse Mononukleose, Herpes, Influenza, Rickettsiose und Borreliose. Die Ursachen von Long/Post-COVID-Zuständen sind ebenfalls noch ungeklärt. Diskutiert werden u.a. eine Persistenz des Virus bzw. von Virusbestandteilen, ein anhaltender Endothelschaden mit gestörter Mikrozirkulation oder eine chronische Immundysregulation mit persistierender Inflammation, Autoimmunität und Fehlfunktion des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems [1].

Das posturale Tachykardie-Syndrom (POTS) ist eine Sonderform der orthostatischen Dysregulation. Es wird auch vermehrt nach COVID-19 beobachtet und kann zu den kardiovaskulären Folgeerkrankungen der Infektion gezählt werden. Das POTS ist definiert als unangemessen starker und anhaltender Anstieg der Herzfrequenz nach dem Aufstehen ohne pathologischen Blutdruckabfall. Oft wird das POTS von Fatigue, Hyperventilation oder Kopfschmerzen begleitet. Bei etwa der Hälfte der Betroffenen findet sich ein zeitlicher Zusammenhang mit einer viralen Infektion.

Evidenz-basierte medikamentöse Interventionen beim Long/Post-COVID-Syndrom sind uns nicht bekannt. Zurzeit werden viele medikamentöse Behandlungsansätze geprüft. In der Datenbank registrierter klinischer Studien sind deutlich > 100 interventionelle Studien angemeldet, davon rund 40 mit Medikamenten [2]. Unter diesen sind auch einige mit einem antientzündlichen Ansatz; es finden sich aber auch alte Bekannte darunter wie Hydroxychloroquin oder die Allzweckwaffe Vitamin D (s. Tab. 1).

Der therapeutische Ansatz „Mastzell-Stabilisation“ basiert auf der Hyperinflammations-Hypothese. Bei Betroffenen mit Long/Post-COVID-Syndrom finden sich nämlich oft erhöhte Blutspiegel von Zytokinen: Interferone, Interleukine (IL-1, IL-6, IL-8) und Tumornekrosefaktor (TNF). Einige Autoren sehen Parallelen zu den Symptomen beim sog. „Mastzell-Aktivierungssyndrom“ (MCAS), einer ebenfalls kausal und diagnostisch sehr schwer zu fassenden Störung des Immunsystems. Die sog. „Mastzell-Stabilisatoren“ werden beim Asthma bronchiale und in der Allergologie eingesetzt sowie beim MCAS. Wichtigste Vertreter sind die Cromoglicinsäure oder Nedocromil (sog. „Cromone“), außerdem werden viele weitere Wirkstoffe zu diesem Zweck eingesetzt, wie Antihistaminika (Loratadin, Desloratadin, Ketotifen), Interleukin-Inhibitoren z.B. (Mepolizumab), Anti-IgE-Antikörper (Omalizumab) oder Quercetin. Auch Supplementen von Vitamin D, C, K2, dem Fettsäureamid Palmitoylethanolamid (PEA), dem Pflanzenfarbstoff Quercetin oder Boswellia (Familie der Balsambaum-Gewächse) werden Mastzell-stabilisierende Wirkungen zugeschrieben. Einige dieser Substanzen werden in Studien bei Long/Post-COVID-Syndrom getestet (s. Tab. 1). Verlässliche Ergebnisse mit Patienten-relevanten Endpunkten liegen derzeit (Oktober 2022) nicht vor. Insofern handelt es sich beim Einsatz von Mastzell-Stabilisatoren und Vitamin C um eine derzeit evidenzfreie Behandlung, die in erster Linie auf Hypothesen beruht.

Ivabradin ist zugelassen für die Behandlung der chronischen Angina pectoris und der chronischen Herzinsuffizienz, jeweils bei erwachsenen Patienten im Sinusrhythmus mit einer Herzfrequenz ≥ 70 bzw. 75/min als Alternative zu Betablockern oder in Kombination mit diesen [3]. In mehreren Fallserien wird über eine Senkung der Herzfrequenz und symptomatische Besserung bei mehr als der Hälfte der Patienten mit POTS berichtet. Es gibt sogar eine kleine randomisierte Studie mit 22 Patienten (21 Frauen, mittleres Alter 33 Jahre) mit einem POTS und erhöhten Katecholamin-Spiegeln (sog. „hyperadrenerges POTS“), die doppelblind und „crossover“ Ivabradin oder Plazebo erhielten. Die Ivabradin-Dosis wurde auf eine Herzfrequenz < 70/min titriert. Die Patienten berichteten über signifikante Verbesserungen ihrer Lebensqualität und sozialen Funktionen unter Ivabradin [4]. Diese Ergebnisse sollten durch größere Studien überprüft werden. Von einem Colonel der „Uniformed Services University of the Health Sciences“ wurde eine randomisierte kontrollierte Studie bei der Indikation POTS nach COVID angemeldet (Akronym COVIVA, Status: „not yet recruiting“). <<

Literatur

  1. AWMF: 020-027l_S1_Post_COVID_Long_COVID_2022-08.pdf (Link zur Quelle)
  2. https://clinicaltrials.gov/ (Suchbegriff: Long COVID, Long COVID19; Zugriff am 9.10.2022). (Link zur Quelle)
  3. EPAR Procoralan, INN-ivabradine. https://www.ema.europa.eu/en/documents/product-information/procoralan-epar-product-information_de.pdf. (Zugriff am 9.10.2022). (Link zur Quelle)
  4. Taub, P.R., et al.: J. Am. Coll. Cardiol. 2021, 77, 861. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0735109720381316?via%3Dihub (Link zur Quelle)