Die Reperfusions-Therapie beim akuten Myokardinfarkt ist nach wie vor ein umstrittenes Thema. Wir hatten uns bereits 1995 ausführlich damit beschäftigt (AMB 1995, 29, 57 und 65). Kürzlich veröffentlichte die offizielle Zeitschrift der Ärztekammer Berlin einen lesenswerten Diskussionsbeitrag von K.-P. Schüren (1). Die Argumente für und gegen verschiedene Behandlungsverfahren und die neuen Entwicklungen werden hier mit einigen ergänzenden Anmerkungen wiedergegeben.
Die Positionen lassen sich in zwei Lager teilen: Das eine bevorzugt eine frühe invasive Strategie (primäre, perkutane, transluminale Koronarangioplastie = PTCA), das andere eine primär medikamentöse Therapie (primäre Thrombolyse). Wer über ein Herzkatheter-Labor mit PTCA-Möglichkeit verfügt, wird in aller Regel für die frühe invasive Strategie sprechen, wer diese Methode nicht parat hat, wird zwangsläufig die thrombolytische Therapie in den Vordergrund stellen.
In Deutschland ist derzeit davon auszugehen, daß etwa 35% der Patienten mit akutem Myokardinfarkt bereits vor Erreichen des Krankenhauses sterben (Plötzlicher Herztod; 2). Insgesamt etwa 127000 Patienten gelangen jährlich mit der Diagnose „akuter Myokardinfarkt“ ins Krankenhaus; diese Zahl hat übrigens eine sinkende Tendenz (3). Von diesen Patienten erhalten etwa 45% eine Reperfusions-Therapie. Mehr als die Hälfte aller Infarktpatienten kommt also aus irgendwelchen Gründen für eine Reperfusion nicht in Frage. Die Diskussion um die Akuttherapie beim Myokardinfarkt betrifft also jährlich knapp 58000 Patienten. Nach dem MIR-Register, in das 217 deutsche Kliniken die Daten ihrer Infarktpatienten eingeben, entfallen heute etwa 25% der Reperfusions-Therapien auf primäre Koronar-Dilatation und ca. 75% auf Thrombolyse (4). Von 100 Infarktpatienten erhalten in Deutschland also derzeit 29 eine Reperfusions-Therapie, davon 21 eine Thrombolyse und 8 eine PTCA. Dies ist im internationalen Vergleich, sowohl was die Reperfusions-Therapie insgesamt aber auch was die Katheterinterventionen anbelangt, viel.
Trotz dieser vergleichsweise häufigen Reperfusions-Behandlung fehlt außerhalb von klinischen Studien bislang ein epidemiologischer Nachweis, daß sich die Prognose der Myokardinfarktpatienten in Deutschland insgesamt verbessert hat. Nach den MONICA-Daten hat sie sich tendenziell zwischen 1985-87 und 1992-94 sogar verschlechtert (Krankenhaussterblichkeit in der Region Augsburg von 16% auf 17% und in den neuen Bundesländern von 11% auf 16% gestiegen). Das hat sicherlich viele Gründe und zeigt, daß die Bekämpfung des Myokardinfarkts mehrere Dimensionen hat und daß das Streitthema Akut-PTCA oder Thrombolyse wahrscheinlich für die Gesamtheit gar nicht so entscheidend ist.
Leider wird die Diskussion um die bessere Akuttherapie, nicht immer fair geführt. Die invasiv tätigen Kardiologen werfen dem konservativen Lager vor, ihre Patienten nicht nach besten Möglichkeiten zu behandeln. Die Fortschritte in der Kathetertechnik (primäre Stent-Implantation) und der adjuvanten Pharmakotherapie (GP-IIb/IIIa-Blocker) haben in den Studien der letzten 5 Jahre zu einer deutlichen Abnahme der 30-Tage-Sterblichkeit (2-3%) und damit zu Vorteilen gegenüber der Thrombolyse-Therapie (6-7%) geführt. Der Vergleich mit den Daten der MONICA-Studie (16%-17% Krankenhaussterblichkeit!) zeigt übrigens, wie weit die Studienergebnisse von der Wirklichkeit entfernt sind.
Mancherorts wird unter Hinweis auf die Studien nun sogar die Forderung erhoben, die frühe Behandlung der Myokardinfarkt-Patienten ausschließlich auf PTCA-Zentren zu konzentrieren. Krankenhäuser ohne Katheterbereitschaft werden als nicht ausreichend qualifiziert angesehen, denn nur die Herzkatheterzentren könnten schnell und umfassend die Behandlung durchführen. Dieses Konzept wird den Krankenkassen und den Politikern auch als besonders kostengünstig angepriesen. In Deutschland, dem Land mit der höchsten „Herzkatheterplatz-Dichte“ in Europa, setzt sich diese Argumentation, getragen von den Meinungsbildnern in den Großkrankenhäusern, mehr und mehr durch (5).
Für das Konzept der Thrombolyse als Erstversorgung beim akuten Myokardinfarkt spricht, daß sie überall, wohnortnah und deshalb mit dem geringsten Zeitverlust durchgeführt werden kann. Die mediane Zeit zwischen Beginn der Symptome und Aufnahme im Krankenhaus beträgt in Deutschland 3,25 Stunden (4). Legt man nun das Konzept einer primären Koronardilatation zu Grunde, dann muß zu dieser Zeit die Zeitspanne von der Aufnahme im Krankenhaus bis zum Moment der Ballondilatation („Door to balloon“) hinzugerechnet werden; sie hängt stark von der Krankenhauslogistik und von der Tageszeit ab. In den größeren Studien betrug die Door-to-balloon-Zeit idealerweise eine Stunde; in praxi ist sie deutlich länger, besonders nachts oder wenn der Patient erst noch in ein anderes Haus mit Katheterbereitschaft verlegt werden muß. Das bedeutet, daß der Gefäßverschluß mindestens weitere 90-120 Minuten lang besteht, ohne daß eine spezifische Therapie eingeleitet wird. In dieser Zeit sind durch eine thrombolytische Therapie bereits 70% der Infarktgefäße wieder eröffnet. Darf man einem Patienten diese Chance vorenthalten?
Fortschritte bei der Akut-PTCA: In den meisten kardiologischen Zentren in Deutschland wird nach Aussage ihrer Vertreter die Akut-PTCA heute bevorzugt, weil sich im Infarktgefäß „TIMI-3-Flußraten“ (unbeeinträchtigter Kontrastmittelfluß nach Rekanalisation) bei 85-90% der Patienten erzielen lassen. Dieser TIMI-3-Fluß korreliert mit einer besseren Prognose. Außerdem können Konstellationen mit hohem Risiko, z.B. Hauptstamm-Stenosen, sofort erkannt werden. Weitere Vorteile werden darin gesehen, daß die dem Thrombus zugrunde liegende Stenose sofort beseitigt wird und die Gefahr einer intrazerebralen Blutung geringer ist als bei der thrombolytischen Behandlung.
Die Gefährlichkeit der akuten Intervention besteht darin, daß die Dilatation in einem aktiven Entzündungs- und Gerinnungsprozeß stattfindet, also ein zusätzliches Trauma entsteht. Dies hat in der Vergangenheit zu hohen Komplikationsraten geführt (thrombotischer Verschluß, Dissektion) mit vielen Re-Interventionen und Notfall-ACVB-Operationen. Durch den regelmäßigen Einsatz von Stents und GP-IIb/IIIa-Blockern konnte (in den Studien) sowohl die Häufigkeit früher Komplikationen als auch spätere Restenosen vermindert werden (s. Tab. 1).
Fortschritte bei der Thrombolyse: Auch bei den Thrombolytika hat es seit unserer letzten Übersicht einige Weiterentwicklungen gegeben. So sind nach den klassischen Thrombolysemitteln Streptokinase (SK = Kabikinase, Streptase) und Alteplase (tPA = Actilyse) mehrere Substanzen bis zur Marktreife entwickelt worden. Durch Veränderungen an der Proteinstruktur haben diese „Designer-Thrombolytika“ eine längere Halbwertszeit und eine höhere Gerinnsel-Affinität erhalten. Reteplase (rPA = Rapilysin) wird im Doppelbolus verabreicht und ist in Europa zugelassen. Saruplase (uPA), Lanoteplase und TNK-tPA werden als Einzelbolus gegeben, was die Handhabung sehr vereinfacht. Obwohl mit diesen neueren Thrombolytika die Gefäße schneller eröffnet werden als mit dem „Goldstandard“ Alteplase, nahm in den Studien die Krankenhaussterblichkeit nicht ab (s. Tab. 2). Dies liegt wahrscheinlich daran, daß es nach der primär erfolgreichen Auflösung des Thrombus zur erneuten Thrombosierung kommt (bei 5-15% der Patienten). Eine weitere mögliche Erklärung ist, daß die fibrinspezifischen Thrombolytika die sehr plättchenreichen Gerinnsel nur unvollständig auflösen und die Blutplättchen – trotz Gabe von Azetylsalizylsäure (ASS) – als „Gerinnungsmotor“ aktiv bleiben. Aus diesen Überlegungen heraus werden die Thrombolytika zunehmend mit starken Plättchenhemmern, wie z.B. GP-IIb/IIIa-Blockern (Abciximab = ReoPro, Tirofiban = Aggrastat, Eptifibatid = Integrilin u.a.; s. AMB 1999, 33, 33), mit Hirudinen oder niedermolekularen Heparinen kombiniert. Während die Hirudine die in sie gesetzten Erwartungen als Adjuvans nicht erfüllen konnten, scheinen die GP-IIb/IIIa-Blocker erfolgversprechende Kombinationspartner zu sein. Sie erhöhen als Partner niedrig dosierter Thrombolytika die Wiedereröffnungsrate und -Geschwindigkeit, was sich auch in den klinischen Endpunkten widerspiegelt (Tab. 2). Diese positiven Daten sind jedoch nur in kleineren Pilotstudien gewonnen worden, die zudem nur unvollständig publiziert sind. Die Ergebnisse der noch laufenden GUSTO-IV-Studie (Abciximab/tPA) werden Klarheit bringen und für die Thrombolyse-Therapie richtungsweisend sein.
Direkter Vergleich von Thrombolyse mit Akut-PTCA: Nach den Verbesserungen in der Thrombolyse- und Kathetertechnik in den vergangenen 5 Jahren ist klar, daß es keine Studie gibt, die das jeweils aktuell beste Behandlungsregime vergleicht. Prospektive randomisierte Studien zur Fragestellung Thrombolyse versus PTCA sind rar und älteren Datums. 10 entsprechende Studien liegen einer viel zitierten Metaanalyse von Weaver et al. zugrunde (18). Sie umfaßt insgesamt 2606 Patienten mit akutem Myokardinfarkt. Mit Ausnahme der GUSTO-IIb-Substudie, deren Anteil nahezu die Hälfte der analysierten Patienten ausmacht, ist die Aussage der anderen 9 Einzelstudien durch geringe Patientenzahlen limitiert. In 6 der 10 Studien, darunter auch GUSTO IIb, fand sich kein Unterschied in der Krankenhaussterblichkeit zwischen Thrombolyse- und PTCA-Gruppe. Lediglich 4 Studien, darunter 2 der selben Autorengruppe (19, 20), ergaben nach primärer Angioplastie eine jeweils deutlich geringere Krankenhausletalität. In einer Studie beschränkte sich die Abnahme der Todefälle nach primärer PTCA im Vergleich zur tPA-Thrombolyse auf Patienten im Alter über 65 Jahre (21). Synoptisch wurde in der Metaanalyse von Weaver et al. bei den PTCA-Patienten mit 4,4% eine signifikant geringere Krankenhaussterblichkeit ermittelt als bei den Thrombolyse-Patienten mit 6,5%. Auch die kumulative Häufigkeit von Tod und nicht tödlichem Reinfarkt war in der Angioplastie-Gruppe (7,2%) geringer als in der Thrombolyse-Gruppe (11,9%).
In allen 4 Einzelstudien, in denen sich die primäre Angioplastie der Thrombolyse-Behandlung als überlegen erwies, fallen die ungewöhnlich niedrige Krankenhaussterblichkeit und die geringe Zeit zwischen Beginn der Symptome und Beginn der Thrombolyse bzw. Angioplastie auf. Die Erklärung für den ungewöhnlich günstigen Verlauf liegt demnach nicht nur in der Qualifikation der beteiligten kardiologischen Hochleistungszentren und in einem effektiven organisatorischen Ablauf, sondern auch in einer hohen Selektion der Patienten und in einer möglichen Verfälschung durch das zwangsläufig offene Studiendesign. Bemerkenswert ist zudem, daß 3 der 4 Pro-PTCA-Studien unizentrisch waren. Patienteneinschluß, Durchführung der primären Angioplastie und Auswertung der Ergebnisse erfolgten jeweils durch dasselbe, ausschließlich interventionell orientierte Ärzteteam. Damit sind alle Bedingungen für eine mögliche subjektive Verfälschung gegeben.
Eine unabdingbare Voraussetzung für verbindliche Aussagen einer vergleichenden Therapiestudie ist eine statistisch ausreichende Patientenzahl. Diese Voraussetzung wird bislang nur von der multizentrischen GUSTO-IIb-Studie erfüllt. Es fand sich innerhalb von 30 Tagen nach dem Myokardinfarkt nur ein nicht signifikanter Vorteil für die Akut-PTCA gegenüber der Thrombolyse-Therapie (Tab. 1). Lediglich der Unterschied im kombinierten Endpunkt Tod + Reinfarkt + Schlaganfall überschritt die Signifikanzgrenze. Nach 6 Monaten war auch dieser Unterschied nicht mehr vorhanden.
Ein klarer Nachteil der Thrombolyse-Behandlung ist das potentiell erhöhte Blutungsrisiko. Es erfordert eine sorgfältige Identifizierung von Kontraindikationen, die in 10-15% zu erwarten sind. Bei Berücksichtigung solcher Kontraindikationen treten schwerwiegende Blutungen selten auf. So lag die Inzidenz intrazerebraler Blutungen in der GUSTO-I-Studie bei über 41000 Patienten bei nur 0,6% (22).
Eine weitere Möglichkeit, PTCA und Thrombolyse zu vergleichen, bieten Register. Diese sind trotz vieler zu bedenkender Einschränkungen in mancher Hinsicht doch lebensnäher als die Daten der vergleichenden Studien mit meist sehr ausgewählten Patienten und Ärzten. So existiert in den USA das MITI- (Myocardial Infarction Triage and Intervention; 23) und das NRMI-Register (National Registry of Myocardial Infarction; 24), in Deutschland ein Register der ALKK (Arbeitsgemeinschaft leitender Krankenhaus-Kardiologen; 25). In den amerikanischen Registern war die Krankenhaussterblichkeit bei den Patienten mit primärer PTCA und denen mit primärer Thrombolyse-Therapie identisch (Tab. 3). In MITI ergab sich auch in den folgenden Jahren nach dem Infarkt kein Überlebensvorteil durch die PTCA. Es fiel jedoch auf, daß bei den Thrombolyse-Patienten in der Folge weniger Koronarangiographien (19% vs. 28% nach 3 Jahren) und Ballondilatationen (6,6% vs. 9%) durchgeführt wurden. Auch in Frankreich zeigte eine prospektive Registrierung von Infarktpatienten keinen signifikanten Unterschied zwischen PTCA und Thrombolyse-Therapie hinsichtlich der Ein-Jahres-Überlebensrate (85,5% vs. 89,5%; 26). Nur die in Deutschland durchgeführte prospektive Studie ergab nach primärer PTCA mit 4,3% eine deutlich niedrigere Krankenhaussterblichkeit als nach Thrombolyse-Therapie mit 10,3%. Einige gravierende methodische Mängel machen jedoch die Aussage dieser Studie hinfällig (25).
Eine Situation, bei der sich die PTCA der Thrombolyse-Behandlung als überlegen gezeigt hat, ist der kardiogene Schock. Bei 7-10% der Patienten führt der akute Myokardinfarkt zum kardiogenen Schock mit der extrem hohen Sterblichkeit von 70-80%. In der SHOCK-Studie (27) an 302 Patienten konnte durch PTCA und Not-ACVB die Sterblichkeit auf 47% gesenkt werden. Ein bemerkenswerter Befund dieser Studie war auch, daß die Sterblichkeit nur bei Patienten unter 75 Jahren gesenkt werden konnte; oberhalb von 75 Jahren führte die Früh-Intervention sogar zu einer höheren Sterblichkeit (75%).
Mangelnde Verordnung von Betarezeptoren-Blockern: Der konsequente Einsatz von ASS und Beta-Blockern verbessert die Prognose beim akutem Myokardinfarkt. Amerikas 60 „beste Krankenhäuser“ hatten im Vergleich zu 766 apparativ und personell vergleichbar ausgestatten Häusern 1994/95 eine geringere 30-Tage-Sterblichkeit (14,7% vs. 17,6%). Mit Hilfe einer risikoadjustierenden Multivarianzanalyse ließ sich errechnen, daß dieser Unterschied neben demographischen Unterschieden in erster Linie auf dem Mehrgebrauch von Beta-Blockern (63% vs. 47%) und ASS (91% vs. 82%) beruht, nicht aber auf dem Einsatz von primärer Angioplastie (9,8% vs. 8,6%) oder Thrombolyse (12,6% vs. 16,5%; 28). Vergleichbare Erhebungen zur Infarkttherapie in Deutschland (4) zeigen, daß in der Akutphase bei 90% der Patienten ASS und bei 54% Beta-Blocker verabreicht werden. Es kann also auch in Deutschland, zumindest was die Verordnung von Beta-Blockern angeht, noch eine Verbesserung der Prognose erreicht werden.
Fortschritte bei der Sekundärprophylaxe: Eine konsequente Sekundärprophylaxe ist die beste Möglichkeit, erneute kardiovaskuläre Ereignisse zu minimieren. Bis auf wenige Patientengruppen ist eine Verbesserung der Prognose durch PTCA oder ACVB-Operation nicht zu erwarten; es handelt sich nur um eine Verbesserung der „Lebensqualität“, quasi um „palliative Kardiologie“ (29). Dagegen haben mehrere Studien z.T. eindrucksvoll nachgewiesen, welch günstige Effekte durch eine Umstellung der Ernährung (fettarme, mediterrane Kost) und des Lebensstils (Gewichtsreduktion, Beendigung des Rauchens, körperliche Aktivität, psychosoziale Interventionen) und durch Medikamente (Lipidsenker, ACE-Hemmer) zu erzielen sind (vgl. AMB 1999, 33, 73 und 74). Trotzdem wird Infarktpatienten ein solches Programm viel zu selten angeboten, sei es aus Mangel an Wissen, aus Mangel an Interesse, aus Mangel an Möglichkeiten oder auch fehlender Honorierung. Wenn Ärzten und Versicherungsträgern die Gesundheit ihrer Patienten wirklich am Herzen liegt, dann müßten sie viel mehr diese Bereiche statt die Großgeräte-Kardiologie fördern. Denn nicht durch die stetige Weiterentwicklung der Herzkatheter-Technologie, sondern durch den personalaufwendigen Kampf gegen Rauchen, Hyperlipidämie, Hypertonie, Übergewicht, körperliche Trägheit u.a. werden Inzidenz und Folgen der Koronaren Herzkrankheit zu senken sein.
Schlußfolgerungen, Kritik, Vorschläge: Unter Berücksichtigung aller Argumente darf die Frage nach der idealen Behandlung beim akuten Myokardinfarkt nicht auf den Streit PTCA oder Thrombolyse reduziert werden. Vielmehr geht es darum, ein integrierendes Versorgungssystem bereitzustellen. Dieses sollte unter den jeweils gegebenen Bedingungen eine schnellst mögliche Reperfusion der verschlossenen Koronararterie ermöglichen, die wesentlichen Akutkomplikationen beim Myokardinfarkt auffangen und eine Sekundärprophylaxe bereitstellen.
Die Behauptung, die Akut-PTCA sei der Goldstandard der Infarktbehandlung, kann mit den vorliegenden Daten nicht belegt werden. Bis auf wenige Ausnahmen bringt die primäre PTCA im Vergleich zur Thrombolysetherapie keinen Nutzen hinsichtlich der Sterblichkeit, Reinfarktrate, Entwicklung einer postinfarziellen Herzinsuffizienz und Kosten. Daher sind auch regionale Planungen zur Einrichtung großer Interventionszentren teure und fahrlässige Experimente. Das Vorgehen vieler kardiologischer Zentren, nahezu jeden Patienten mit akutem Infarkt mit PTCA zu behandeln, ist bei den wenigen gesicherten Indikationen nicht zu verstehen. Die Kritik betrifft auch die Kostenträger, die offenbar ohne ausreichende Sachkenntnis den enormen finanziellen Aufwand des 24-Stunden-Bereitschaftsdienstes, der für die ständige Verfügbarkeit der Akutinterventionen erforderlich ist, bislang widerstandslos hinnehmen. Sie müßten anerkennen und honorieren, daß sich eine Verbesserung der Prognose beim Herzinfarkt nicht auf mechanische Katheterinterventionen beschränkt, sondern ganz entscheidend von präventiven Maßnahmen und medikamentösen Entwicklungen abhängt.
Zu einem effizienten Versorgungssystem gehört auch die rasche Alarmierung des Notarztes. Die Bevölkerung muß also über Infarktsymptome und den schnellsten Alarmierungsweg informiert werden. Die Notärzte müssen die Entscheidung über die schnellst mögliche Reperfusionsstrategie vor Ort treffen können. In den meisten Fällen wird die Thrombolyse-Therapie vor Ort, d.h. vor Erreichen des Krankenhauses, die erste Wahl bleiben, weil der Transport in die nächste Klinik meist länger als 30 Minuten dauert und die dortige „Door-to-needle-“ oder „Door-to-balloon“-Zeit für den Notarzt schwer abzuschätzen ist. Wenn die Entscheidung für eine akute PTCA fällt, sollte sichergestellt sein, daß diese ohne Verzögerung, d.h. innerhalb von etwa 60 Minuten nach Ankunft in der Klinik durchgeführt wird. Jede Verzögerung mindert die Chancen des Patienten. Bei Kontraindikationen für eine Thrombolyse, bei besonders gefährlichen Infarkten (Vorderwandinfarkt mit kardiogenem Schock) oder bei Versagen der Thrombolyse-Therapie bei großen Infarkten (ST-Strecken-Monitoring) sollte eine Akut-PTCA mit Stent-Einlage und Gabe eines GP-IIb/IIIa-Blockers erfolgen. Das bedeutet, daß solche Ausnahme-Patienten entweder primär in ein Haus mit 24-Stunden-Katheterdienst gefahren werden müssen oder sekundär dorthin zu verlegen sind.
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