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Sepsis – Neues zur Definition, Nomenklatur und zum weiterhin unklaren Stellenwert der Glukokortikosteroide in der Therapie des septischen Schocks

Zusammenfassung: Definition und klinische Kriterien zur Sepsis und zum septischen Schock wurden 2016 von Experten international führender Fachgesellschaften auf der Basis einer systematischen Literaturanalyse und eines Delphi-Prozesses neu gefasst. Die Bezeichnungen „Systemic Inflammatory Response Syndrome“ (SIRS) und „schwere Sepsis“ wurden gestrichen. Die Diagnose „septischer Schock“ wurde präzisiert, indem nun zusätzlich zum Kreislaufversagen eine Erhöhung des Serumlaktats auf > 2 mmol/l gefordert wird. Die Änderungen berücksichtigen jetzt stärker pathophysiologische Aspekte und sollen helfen, Patienten genauer zu charakterisieren, u.a. um Studienergebnisse besser vergleichbar zu machen. Die nationalen (AWMF) und internationalen („Surviving Sepsis Campaign“) Leitlinien zur frühzeitigen Erkennung und Behandlung der Sepsis sind 2017 bzw. 2018 aktualisiert worden. Sie enthalten u.a. Empfehlungen zur „kalkulierten parenteralen Initialtherapie bakterieller Erkrankungen bei Erwachsenen“. Die Effektivität qualitätsverbessernder Maßnahmen in der Diagnostik und Therapie der Sepsis (z.B. nach Abnahme von Blutkulturen rasche erste Gabe einer breit wirksamen, evtl. auch kombinierten antimikrobiellen Therapie, Flüssigkeitszufuhr intravenös, ggf. Fokussanierung) gilt heute als etabliert. Demgegenüber ist der therapeutische Stellenwert der zusätzlichen Gabe von Glukokortikosteroiden weiterhin umstritten. Die Hypothese einer „relativen Nebenniereninsuffizienz“ bei Patienten mit Sepsis bzw. septischen Schock, die eine Behandlung mit Glukokortikosteroiden rechtfertigen würde, wird auch durch die Ergebnisse zweier aktueller klinischer Studien nicht bewiesen. In der internationalen Leitlinie zur Behandlung des septischen Schocks wird empfohlen, Hydrokortison (200 mg/d intravenös) nur dann zu verabreichen, wenn trotz adäquater Flüssigkeitssubstitution und Gabe von Vasopressoren keine hämodynamische Stabilität erreicht werden kann.

Die Sepsis ist definiert als eine lebensbedrohliche Organdysfunktion, hervorgerufen durch eine inadäquate Reaktion des Organismus auf eine Infektion – meist ausgelöst durch Bakterien oder Pilze, seltener durch Viren oder Parasiten (z.B. Malaria; 1, 2). Das akut lebensbedrohliche Krankheitsbild einer Sepsis stellt auch heute noch für den klinisch tätigen Arzt eine der größten Herausforderungen dar. Zur Sepsis kommt es, wenn durch die natürlichen Abwehrmechanismen bei den betroffenen Patienten eine lokale Begrenzung der Infektion nicht erreicht wird und Erreger und/oder ihre Toxine in die Blutbahn eindringen. Daher ist die alte Definition von Schottmüller aus dem Jahr 1914 (22) immer noch treffend: „Eine Sepsis liegt dann vor, wenn sich innerhalb des Körpers ein Herd gebildet hat, von dem kontinuierlich oder periodisch pathogene Bakterien in den Kreislauf gelangen und zwar derart, dass durch diese Invasion subjektive und objektive Krankheitserscheinungen ausgelöst werden“. Die hierdurch ausgelöste generalisierte Immunantwort zielt auf die Abtötung der eindringenden Infektionserreger ab, richtet sich jedoch nicht nur gegen die Erreger, sondern führt auch zu kollateralen Organ- und Gewebeschädigungen, die dann Organ- (z.B. von Niere, Leber, Lunge) bzw. Kreislaufversagen verursachen können (3). Zu den disponierenden Erkrankungen einer Sepsis gehören alle Formen der Abwehrschwäche, z.B. hämatologische Neoplasien, solide Tumoren, Diabetes mellitus, Nieren-/Lebererkrankungen, Polytraumen, Verbrennungen, Organ-/Stammzelltransplantationen (2). Lange Zeit wurden die große Gefährdung von Patienten aller Altersgruppen und die erhebliche ökonomische Belastung der Gesundheitssysteme durch Sepsis und ihre Folgen unterschätzt. Erst durch die vor allem von Intensivmedizinern vorangetriebene klinische und epidemiologische Forschung in den letzten beiden Jahrzehnten wurden die Dimension der Krankheitslast bei Sepsis und die Erfordernis, dass Sepsis als Notfall behandelt werden muss, immer deutlicher (3). Weit verbreitete Defizite wurden identifiziert, wie beispielsweise nicht rechtzeitiges Erkennen der Schwere der Erkrankung, inadäquate initiale Therapie mit Flüssigkeit und kalkulierte Antibiose mit Breitspektrum-Antibiotika, verzögerte operative Sanierung des Infektionsherds sowie zu spätes Hinzuziehen von Spezialisten (3-5). Dies führte dazu, dass zahlreiche Initiativen zur Qualitätsverbesserung gestartet wurden (vgl. 1-3, 5-7).

So hat eine Arbeitsgruppe, bestehend aus 19 Experten führender Fachgesellschaften (European Society of Intensive Care Medicine = ESCIM, Society of Clinical Care Medicine = SCCM), die Definition und Nomenklatur der Sepsis auf einer Konsensus-Konferenz 2016 überarbeitet und die klinischen Kriterien der Sepsis und des septischen Schocks in insgesamt drei Publikationen veröffentlicht (1, 6, 7). Die wesentlichen Änderungen hinsichtlich Definition und Nomenklatur der Sepsis sind in Tab. 1 zusammengefasst. Der Begriff „Systemic Inflammatory Response Syndrome“ (SIRS) wurde ebenso wie der Begriff „schwere Sepsis“ gestrichen. Die internationalen Leitlinien zur frühzeitigen Erkennung und Behandlung der Sepsis sind 2017 aktualisiert worden (5), und 2018 wurden im Kapitel 11 des Update zur „kalkulierten parenteralen Initialtherapie bakterieller Erkrankungen bei Erwachsenen“ Empfehlungen zur antimikrobiellen Therapie der Sepsis veröffentlicht (2). Auch Übersichtsarbeiten im Dtsch. Ärztebl. beschäftigten sich kürzlich mit der neuen Definition der Sepsis (4) und den weiter ansteigenden Sepsis-Fallzahlen sowie den durch Sepsis verursachten Todesfällen. Sie steigen in deutschen Krankenhäusern weiter an und sind deutlich höher als bisher angenommen (8).

Während die Effektivität qualitätsverbessernder Maßnahmen in der Diagnostik und Therapie der Sepsis (z.B. nach Abnahme von Blutkulturen rasche erste Gabe einer breit wirksamen, evtl. auch kombinierten antimikrobiellen Therapie, Flüssigkeitszufuhr intravenös, ggf. Fokussanierung) heute als etabliert gilt, ist der therapeutische Stellenwert der zusätzlichen Gabe von Glukokortikosteroiden weiterhin umstritten (9). Seit mehr als 50 Jahren wurde in zahlreichen Studien untersucht – darunter wenige randomisierte kontrollierte Studien (z.B. 19) mit eher geringen Patientenzahlen und einige systematische Übersichtsarbeiten bzw. Metaanalysen (z.B. 13, 14) – ob eine frühe Therapie mit Glukokortikosteroiden, meist Hydrokortison (HC = Kortisol, das wichtigste Hormon der Nebennierenrinde) in niedriger Dosis, die Prognose bei Sepsis bzw. bei septischem Schock verbessern kann (9, 10). Diese Untersuchungen haben keinen Nutzen von HC oder widersprüchliche Ergebnisse erbracht (Übersicht in 5). Deshalb wird auch in der internationalen Leitlinie zur Behandlung der Sepsis und des septischen Schocks empfohlen, HC (200 mg/d intravenös) nur dann zu verabreichen, wenn trotz adäquater Flüssigkeitssubstitution und Gabe von Vasopressoren keine hämodynamische Stabilität erreicht werden kann (5). Die Evidenz für diese Empfehlung ist allerdings gering. Grundsätzlich muss in dieser Situation aber berücksichtigt werden, dass eine Therapie mit Glukokortikosteroiden bei septischem Schock die Prognose infolge immunsupprimierender Wirkungen auch verschlechtern und Nebenwirkungen (Hyperglykämie, Hypernatriämie; vgl. 5) auslösen kann. Andererseits können Glukokortikosteroide bei einigen wenigen Infektionen, beispielweise schwerer Typhus, ZNS-Tbc, schwere Pneumocystis jirovecii-Pneumonie, das Überleben verbessern, sind jedoch bei anderen Infektionen, wie z.B. Listeriose, mit erhöhter Letalität assoziiert (23).

Aus endokrinologischer Sicht lassen sich diese Therapieversuche mit der Beobachtung begründen, dass Patienten mit hochgradiger Nebennierenrinden-Insuffizienz, die unter Alltagsbedingungen mit einer Basissubstitution von ca. 15-20 mg/d HC gut leben können, schon bei leichten fieberhaften Infekten in eine hypotensive „Addison-Krise“ geraten können, wenn nicht sofort die HC-Dosis deutlich erhöht wird (vgl. 11). Bei einem Teil der Patienten mit septischem Schock wird vermutet, dass sie eine „relative Nebenniereninsuffizienz“ haben, obwohl bei fast allen Patienten im septischen Schock das HC im Plasma im Vergleich mit Gesunden stark erhöht ist (12, 13).

Im N. Engl. J. Med. wurden jetzt erneut zwei umfangreiche randomisierte kontrollierte Studien zur Behandlung von Patienten mit septischem Schock mit „niedrig dosiertem“ HC oder Plazebo für 7 Tage (12) bzw. maximal 7 Tage (15) veröffentlicht. Die Patienten der klinischen Studie mit dem Akronym APROCCHSS (Activated PROtein C and Corticosteroids for Human Septic Shock; 12) erhielten zusätzlich während der Interventionsphase eine niedrige Dosis des Mineralokortikoids 9-alfa-Fluor-Kortisol (Fludrokortison = FC; Astonin H®) oral. Die Studie wurde in 34 französischen Krankenhäusern durchgeführt und mit Steuermitteln finanziert (CRICS-TRIGGERSEP Network). Begonnen wurde sie im September 2008, zunächst mit der zusätzlichen Verabreichung des aktivierten Protein C-Präparats Drotrecogin alfa (Xigris® oder Plazebo). Im Jahr 2011 wurde es vom pharmazeutischen Unternehmer nach anfänglich positiven Ergebnissen allerdings vom Markt genommen (vgl. 16). Eine Cochrane-Analyse hatte 2011 nämlich ergeben, dass die 28-Tage-Sterblichkeit von erwachsenen Patienten mit schwerer Sepsis nicht verringert (relatives Risiko = RR: 0,97), dagegen aber das Risiko von schweren Blutungen (RR: 1,47) signifikant erhöht wurde. Die Patienten in der APROCCHSS-Studie wurden deshalb ab Oktober 2011 nur noch mit HC und FC oder Plazebos behandelt (vgl. 10, 17).

In die doppelblinde, randomisierte kontrollierte Studie (12) mit faktoriellem (2×2)-Design wurden insgesamt 1.241 Patient(inn)en (66,6% Männer, mittleres Alter 66 Jahre) eingeschlossen. Sie mussten klinisch und/oder mikrobiologisch dokumentierte Infektionen mit einem SOFA-Score von 3 oder 4 (Skala von 0 bis 4; vgl. 25) haben und zur Aufrechterhaltung eines arteriellen Mitteldrucks von mindestens 65 mm Hg hohe Vasopressor-Dosen benötigen. Die Intervention begann nach der Randomisierung (alle 6 Stunden 50 mg HC als Bolus i.v. oder Plazebo) für 7 Tage plus täglich morgens 50 µg FC oder Plazebo. Primärer Endpunkt war die Letalität nach 90 Tagen. Hinsichtlich SOFA-Score und identifizierter Infektionsquellen waren die Gruppen Verum vs. Plazebo weitgehend identisch: Lunge 58% vs. 60%, Abdomen 11% vs. 12%, Harnwege 19% vs. 17%, positive Blutkulturen jeweils 36%, identifizierte pathogene Keime: 70% vs. 73%. In der Verumgruppe traten etwas mehr schwere Virusinfekte auf.

Ergebnisse: In der Gruppe HC plus FC (n = 614) waren nach 90 Tagen 264 (43,0%) Patienten gestorben, in der Plazebogruppe (n = 627) waren es 308 (49,1%); Das Relative Risiko betrug 0,88; 95%-Konfidenzintervall: 0,78-0,99; p = 0,03. Auch am Ende der Versorgung auf der Intensivstation (p = 0,04) und zum Zeitpunkt der Entlassung aus dem Krankenhaus (p = 0,02) war die Letalität in der Gruppe HC plus FC jeweils signifikant geringer als nach Plazebo. Ebenso war die Zahl der Tage mit Vasopressortherapie und die Zahl der Tage mit Organversagen in der Gruppe HC plus FC jeweils um 2 Tage geringer als nach Plazebo. Die Zahl schwerer Nebenwirkungen, die der Intervention zugeordnet werden könnten, waren bis auf häufigere Hyperglykämien in der Gruppe HC plus FC nicht unterschiedlich. Selbstverständlich wurden alle schweren Hyperglykämien mit Insulin behandelt. Vor Beginn der Intervention wurde in dieser Studie bei etwas mehr als der Hälfte der Patienten Blut für die Messung von HC im Plasma, basal und 30 und 60 Minuten nach Injektion von Cosyntropin® (= Synacthen® = synthetisches Adrenokortikotropin/ACTH) entnommen. HC war in beiden Gruppen basal mit ca. 39 µg/dl stark erhöht (verglichen mit Gesunden in Ruhe) und stieg in beiden Gruppen nach ACTH-Gabe auf maximal 49 bzw. 53 µg/dl an. Eine spätere Analyse ergab, dass bei einem Anstieg des HC nach ACTH-Injektion um < 9 µg/dl die Letalität in der Gruppe HC plus FC 50,4% betrug, in der Plazebogruppe 51%. Bei einem HC-Anstieg um > 9 µg/dl betrug die Letalität 34,9% bzw. 33,2%. Das Ergebnis des ACTH-Tests hatte also einen gewissen prädiktiven Wert hinsichtlich des Letalitätsrisikos, jedoch wurde die mit dem Testergebnis korrelierende Letalität nicht durch die Therapie mit HC plus FC beeinflusst. Das Ergebnis weicht von dem einer früheren Studie von Annane et al. (18) ab. In dieser war die Letalität der Patienten (Gruppe HC plus FC) mit einem HC-Anstieg nach ACTH um < 9 µg /dl signifikant geringer als nach Plazebo.

Die zweite, mehr pragmatische und ebenfalls durch Zuwendungen aus öffentlichen Mitteln finanzierte Studie mit dem Akronym ADRENAL wurde von Forschungsorganisationen in Australien, Neuseeland und Großbritannien initiiert und beteiligte 69 Zentren in 5 Ländern (15). Insgesamt wurden 3.658 Patient(inn)en (61% Männer, mittleres Alter 62,5 Jahre) randomisiert, die beatmet wurden und bei denen eine Infektion bewiesen oder hochgradig wahrscheinlich war. Sie erfüllten mindestens zwei von vier Kriterien für ein Systemisches Inflammatorisches Response-Syndrom (SIRS) und wurden seit mindestens 4 Stunden mit Vasopressoren oder inotropen Medikamenten behandelt. Die Verum-Gruppe (n = 1.832) erhielt für maximal 7 Tage eine Dauerinfusion mit 200 mg/d HC, die Plazebogruppe verblindet eine gleich aussehende Infusion des Lösungsmittels (200 ml). De facto wurde HC nur im Median 5,1 Tage (Interquartilsabstand: 2,7-6,8 Tage) und Plazebo im Median 5,6 Tage (Interquartilsabstand: 2,9-6,8 Tage) infundiert. Die verantwortlichen Ärzte durften offenbar das für die Randomisierung gewählte Protokoll verletzen, wenn sie es für dringend erforderlich hielten. So erhielten von Tag 1-14 nach Randomisierung 7,4% der HC-Patienten und 8,8% Patienten der Plazebogruppe unverblindet zusätzliche Einzelgaben von HC. In dieser Studie wurde HC im Plasma nicht gemessen. Primärer Endpunkt war die Zahl der Todesfälle in den beiden Gruppen bis zum Tag 90 nach Randomisierung. Identifizierte Infektionsquellen verteilten sich zwischen Verum und Plazebo wie folgt: Lunge 34% vs. 37%, Abdomen 26% vs. 25%, Harnwege 8% vs. 7%, „Blut“ jeweils 17%, Haut und Weichteile 7% vs. 6%.

Ergebnisse: In der HC-Gruppe (n = 1.832) waren nach 90 Tagen 511 Patienten gestorben (27,9%), in der Plazebogruppe (n = 1.826) waren es 526 (28,8%; Unterschied nicht signifikant). In den vorausgeplanten Auswertungen von sechs Untergruppen der Patienten fanden sich keine Unterschiede. Ähnlich wie in der APROCCHSS-Studie (12) verbesserte sich die Schock-Situation in der HC-Gruppe signifikant schneller und die initiale Beatmungsperiode war kürzer im Vergleich mit Plazebo. Insgesamt war aber die Zahl der Tage mit Beatmungspflichtigkeit nicht unterschiedlich. Die Ergebnisse der ADRENAL-Studie (15) sind weitgehend identisch mit denen der von der Europäischen Union geförderten und vor 10 Jahren veröffentlichten CORTICUS-Studie (19).

In einer umfangreichen systematischen Übersichtsarbeit der Cochrane Database von 2015 mit dem Titel „Corticosteroids for treating sepsis“ (13) werden folgende Fakten und Hypothesen zur möglichen Wirkungsweise von Glukokortikosteroiden und von relativem HC-Mangel genannt: (a) Effekte von HC auf die Entzündung über Produktion von Leukozyten, Zytokinen und Stickstoffmonoxid, (b) suppressiver Effekt von Zytokinen auf die ACTH-Sekretion und Hemmung des Effekts von ACTH auf die Nebennieren sowie (c) verminderter Effekt von HC auf Zielorgane wegen verminderter bzw. veränderter Steroidrezeptoren. Die oft stark erhöhte HC-Konzentration im Plasma sei zum Teil durch verminderte hepatische und renale Clearance von HC zu erklären. Wegen individuell unterschiedlicher Relevanz solcher Mechanismen sei es schwer, bei einzelnen Patienten die Wirksamkeit einer Behandlung mit HC vorauszusagen.

Endokrinologische Überlegungen zur Therapie mit HC bei septischem Schock: Bei Gesunden ist die HC-Konzentration im Plasma morgens ca. 6-22 µg/dl. Die Sekretionsrate gesunder Nebennieren beträgt ca. 10-20 mg/d. Die Gabe von 200 mg/d HC (wie in den beiden Studien) entspricht somit etwa dem 30-fachen der HC-Sekretionsrate von Gesunden und ist nicht „low dose“. Patienten mit septischem Schock haben meist eine stark erhöhte HC-Konzentration im Plasma, und viele haben auch eine relevante Hypoproteinämie. Dadurch ist die HC-Bindungskapazität geringer, so dass das „freie HC“, das den peripheren Geweben zur Verfügung steht, auch dadurch erhöht sein kann. Bei den meisten Patienten mit septischem Schock ist es deshalb nicht gerechtfertigt, eine relative Nebenniereninsuffzienz anzunehmen. HC hat neben seiner glukokortikoiden auch eine mineralokortikoide Wirkung. Beim Menschen haben 20 mg HC einen mineralokortikoiden Effekt von ca. 0,05 mg (50 µg) Aldosteron (20). Die Sekretionsrate von Aldosteron bei Gesunden ist sehr niedrig und beträgt etwa 0,1 mg (100 µg)/24 Stunden. Das synthetische Mineralokortikoid FC hat oral etwa die gleiche mineralokortikoide Wirkung wie die Sekretion der gleichen Menge Aldosteron. Die Infusion von 200 mg/d HC entspricht einer mineralokortikoiden Wirkung von ca. 500 µg Aldosteron bzw. 500 µg FC. Somit ist die Dosis von 50 µg FC, die in der besprochenen Studie (12) zusätzlich zu HC gegeben wurde, zu gering, als dass ein relevanter Effekt zu erwarten wäre.

Vor der Rekrutierung der hier besprochenen Studien wurden Sepsis-Patienten ausgeschlossen, bei denen eine anderweitige Indikation für die Behandlung mit Glukokortikosteroiden gegeben war oder die mit dem die HC-Synthese hemmenden Narkotikum Etomidat behandelt worden waren.

Im vergangenen Jahr erschien eine „Guideline for the diagnosis and management of critical illness related corticosteroid insufficiency (CIRCI)“ von 16 Intensivmedizinern und Endokrinologen (21). Man konnte sich nicht auf einen Test für die Diagnose von CIRCI einigen. Allenfalls sei ein basaler HC-Wert im Plasma von < 10 µg/dl oder ein Anstieg des Plasma-HC um < 9 µg/dl nach ACTH für die Vermutung einer CIRCI geeignet.

Die Ergebnisse der beiden aktuellen Publikationen (12, 15) werden in einem Editorial von einem Intensivmediziner der US National Institutes of Health kommentiert (9). Er kommt zu der Einschätzung, dass die Patienten aus APROCCHSS (12) offenbar wesentlich kränker waren als aus ADRENAL (15) und dass ein gewisser lebensrettender Effekt der HC-Therapie möglicherweise vom höheren Schweregrad der Sepsis abhängt. Das könne vielleicht das vergleichsweise etwas häufigere Überleben bei HC-Therapie in der ADRENAL-Studie (15) erklären. Die zusätzliche Therapie mit FC hält er für wirkungslos.

Literatur

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