Die antithrombotische Pharmakotherapie ist neben der perkutanen Koronarintervention (PCI) einer der beiden Grundpfeiler in der Behandlung des Akuten Koronarsyndroms (ACS). Sie besteht in der Akutphase aus einem Heparin und einer dualen Antiplättchentherapie (DAPT) mit Azetylsalizylsäure (ASS) plus einem P2Y12-Inhibitor; diese DAPT wird für zwölf Monate fortgeführt. In den vergangenen Jahren haben Ticagrelor und Prasugrel den „alten“ P2Y12-Inhibitor Clopidogrel in der ACS-Therapie abgelöst, bei elektiver PCI einer stabilen Koronarstenose allerdings nicht. Dies gründet auf den beiden Zulassungsstudien PLATO (Ticagrelor vs. Clopidogrel) und TRITON-TIMI-38 (Prasugrel vs. Clopidogrel), über die wir bereits ausführlich berichtet haben (1, 2). Ein direkter Kopf-an-Kopf-Vergleich Ticagrelor vs. Prasugrel stand bislang aus. Dieser wurde nun mit der ISAR-REACT-5-Studie aus dem Deutschen Herzzentrum München auf dem Jahreskongress der Europäischen Kardiologischen Gesellschaft vorgelegt und zeitgleich im N. Engl. J. Med publiziert (3). Die Studie wurde nicht von pharmazeutischen Unternehmern gesponsert.
Methodik: Es wurden von 2013-2018 insgesamt 4.018 ACS-Patienten aus 21 deutschen und 2 italienischen Zentren mit geplanter PCI 1:1 nicht verblindet („open label“) randomisiert für eine Behandlung mit Ticagrelor oder Prasugrel. Die Wirkstoffe wurden gemäß der Gebrauchsinformation verabreicht:
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Bei Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI) Vorbehandlung mit Ticagrelor-Loading-Dosis 180 mg unmittelbar nach klinischer Diagnosestellung; Prasugrel-Loading-Dosis 60 mg erst nach Durchführung der diagnostischen Koronarangiografie;
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Bei ST-Hebungsinfarkt (STEMI): beide Wirkstoffe unmittelbar nach klinischer Diagnosestellung;
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Erhaltungsdosen für 12 Monate zusätzlich zu ASS: Ticagrelor zweimal 90 mg/d; Prasugrel einmal 10 mg/;
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Bei Alter ≥ 75 Jahre oder Gewicht < 60 kg einmal 5 mg/d. Der kombinierte primäre Endpunkt bestand aus Tod, Myokardinfarkt und Schlaganfall nach einer Nachbeobachtungszeit von einem Jahr. Sekundärer Sicherheitsendpunkt war die Häufigkeit schwerer Blutungen.
Ergebnisse: Von den 4.018 Patienten hatten 41% einen STEMI, 46,2% einen NSTEMI und 12,7% eine instabile Angina pectoris. Mit PCI wurden 84,1% der Patienten behandelt, mit aortokoronarer Bypass-Operation 2,1%, die übrigen konservativ. Der kombinierte primäre Endpunkt trat im Gesamtkollektiv bei 9,3% der Patienten unter Ticagrelor auf vs. 6,9% unter Prasugrel (s. Tab. 1). Die Ergebnisse für die Einzelkomponenten sind ebenfalls in Tab. 1 aufgeführt. Die Blutungsraten unterschieden sich nicht signifikant. In den konservativ bzw. mit Bypass-Operation behandelten Subgruppen war der Unterschied beim primären Endpunkt nicht signifikant.
Diskussion und Interpretation: Für das überraschende und viel diskutierte Ergebnis von ISAR-REACT 5 – eine signifikante Überlegenheit der Wirkung von Prasugrel gegenüber Ticagrelor ohne Unterschiede in den Blutungsraten – gibt es keine schlüssige Erklärung. Aus mehreren Gründen wurde von Fachleuten eher ein gegenteiliges Ergebnis erwartet:
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In früheren NSTEMI-Studien hatte Prasugrel teilweise wenig überzeugt (im Vergleich zu Clopidogrel höhere Blutungsraten bei NSTEMI-Vorbehandlung (4); TRILOGY ACS: kein Unterschied bei konservativ behandeltem NSTEMI (5), während Ticagrelor in analogen Vergleichen (PLATO) bessere Ergebnisse gezeigt hatte (2).
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Prasugrel ist im Gegensatz zu Ticagrelor ein Prodrug mit späterem Wirkungseintritt. Durch den späteren Verabreichungszeitpunkt bei NSTEMI (erst nach der diagnostischen Koronarangiografie, d.h. vor Beginn der eigentlichen PCI) wäre ein Nachteil von Prasugrel zu erwarten.
Auch die ISAR-REACT-5-Autoren hatten daher eigentlich einen Vorteil von Ticagrelor gegenüber Prasugrel erwartet.
Ein wichtiger Aspekt in der ISAR-REACT-5-Studie ist, dass nicht nur zwei unterschiedliche Wirkstoffe verglichen wurden, sondern auch bei heterogenen Erkrankungen (NSTEMI, STEMI) eine „one-size-fits-all“-Strategie (Ticagrelor) gegen eine individualisierte Therapiestrategie (Prasugrel: differenziert nach STEMI/NSTEMI, Alter, Gewicht). Manche Kritiker merken an, dass ein 1:1-Vergleich der beiden Wirkstoffe deshalb nur eingeschränkt möglich sei. Auch die fehlende Verblindung und die Tatsache, dass die Nachbeobachtungen telefonisch erfolgten, wurden kritisch angemerkt. Im Allgemeinen wird ISAR-REACT 5 aber in Fachkreisen als sehr wichtige „real-world“-Studie mit unerwartetem und für die klinische Praxis bedenkenswertem Ergebnis angesehen.
Derzeit haben beide Wirkstoffe in den Leitlinien der europäischen und US-amerikanischen Fachgesellschaften eine Klasse-1-Empfehlung. Jedoch gibt es von Zentrum zu Zentrum und auch von Land zu Land beträchtliche Unterschiede, welcher der beiden P2Y12-Inhibitoren bevorzugt wird.
Grundsätzlich bietet Prasugrel einige Vorteile gegenüber Ticagrelor:
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Wegen seiner längeren Halbwertszeit und der Irreversibilität der Thrombozytenhemmung muss Prasugrel im Gegensatz zu Ticagrelor nur einmal täglich eingenommen werden – möglicherweise ein Vorteil hinsichtlich der Adhärenz.
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Das chemisch mit Adenosin verwandte Ticagrelor verursacht – neben dem mit beiden Wirkstoffen verbundenen erhöhten Blutungsrisiko – nicht selten ein Gefühl von Luftnot und kann Bradykardien auslösen.
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Ein potenzieller Vorteil des späteren Prasugrel-Loadings ist, dass im Falle einer notwendigen Bypass-Operation darauf verzichtet und damit das peripoperative Blutungsrisiko reduziert werden kann.
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Ticagrelor sollte nicht mit starken CYP3A4-Inhibitoren kombiniert werden (z.B. Makrolid-Antibiotika oder „-azol“-Antimykotika).
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Der Patentschutz für Prasugrel (Efient®) ist bereits abgelaufen, und seit Anfang 2018 gibt es Prasugrel-Generika. Für das zwei Jahre später zugelassene Ticagrelor (Brilique®) läuft der Patentschutz noch.
In ISAR-REACT 5 wurde die Therapie mit Ticagrelor signifikant häufiger (15,2% vs. 12,5%; p = 0,03) und früher (nach 84 vs. 109 Tagen; p = 0,01) abgebrochen als die Therapie mit Prasugrel; Therapieabbrüche waren insgesamt aber seltener als in ähnlichen Studien (um 20%).
Zu beachten sind die jeweiligen Kontraindikationen: Prasugrel sollte nicht eingenommen werden bei jeder Art von zerebraler Ischämie (Schlaganfall, TIA) in der Vorgeschichte, Ticagrelor nicht bei intrakraniellen Blutungen in der Anamnese. Bei Gerinnungsstörungen, aktiven Blutungen und schwerer Leberfunktionsstörung sind beide Substanzen kontraindiziert.
Wie wir kürzlich berichtet haben, kann bei schlechter Ticagrelor-Verträglichkeit ohne Nachteile bei der Wirksamkeit auf Clopidogrel gewechselt werden (6). In Anbetracht der ISAR-REACT-5-Daten wäre in dieser Situation möglicherweise eine Umstellung auf Prasugrel zu bevorzugen. Eine generelle Bevorzugung von Prasugrel im ACS-Management oder eine Empfehlung für eine Umstellung von Ticagrelor auf Prasugrel bei Patienten, die eine DAPT mit Ticagrelor gut vertragen, erscheint uns in Anbetracht der vorhandenen Diskrepanzen zu großen kontrollierten randomisierten Studien aber (noch) nicht angebracht. Dafür müssen die ISAR-REACT-5-Ergebnisse durch weitere Studien bestätigt werden.
Die von den Untersuchern initiierte ISAR-REACT-5-Studie zeigt jedenfalls, wie wichtig Kopf-an-Kopf-Vergleiche von Wirkstoffen sind, auch wenn die Hersteller oft kein Interesse daran haben.
Fazit: Die industrieunabhängige ISAR-REACT-5-Studie fand einen signifikanten Vorteil von Prasugrel gegenüber Ticagrelor bei der Behandlung des Akuten Koronarsyndroms mit einer geringeren Myokardinfarktrate nach 12 Monaten. Dieses Ergebnis ist unerwartet und teils diskrepant zu den Ergebnissen bisheriger großer Studien. Prasugrel hat potenziell einige Vorzüge gegenüber Ticagrelor: einmal tägliche Einnahme, altersabhängige Dosierung, bessere Verträglichkeit, weniger Wechselwirkungen, bei NSTEMI Einnahme nach der Koronarangiografie, Generikum verfügbar. Zunächst sollten aber die ISAR-REACT-5-Ergebnisse in neuen Studien bestätigt werden.
Literatur
- AMB 2008, 42, 05. Link zur Quelle
- AMB 2010, 44, 19. Link zur Quelle
- Schüpke, S., et al. (ISAR-REACT 5 = Intracoronary Stenting and Antithrombotic Regimen: Rapid Early Action for Coronary Treatment 5): N. Engl. J. Med. 2019, 381, 1524. Link zur Quelle
- Montalescot, G., et al. (ACCOAST = A Commparsion of prasugrel at the time of percutaneous COronary intervention or As pretreatment at the time of diagnosis in patients with non ST Elevation): N. Engl. J. Med. 2013, 369, 999. Link zur Quelle . Vgl. AMB 2013, 47, 76. Link zur Quelle
- Roe, M.T., et al. (TRILOGY ACS = TaRgeted platelet Inhibition to cLarify the Optimal strateGy to medicallY manage Acute Coronary Syndromes): N. Engl. J. Med. 2012, 367, 1297. Link zur Quelle. Vgl. AMB 2012, 46, 81 Link zur Quelle . AMB 2013, 47, 76. Link zur Quelle
- AMB 2018, 52, 01. Link zur Quelle