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Die „Polypille“ für die kardiovaskuläre Primärprävention?

Erhöhter Blutdruck und erhöhtes LDL-Cholesterin sind bedeutsame Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen (KVE), die durch Arzneimittel günstig beeinflusst werden können (1, 2). Antihypertensiva und Statine senken nachweislich die Inzidenz von Herzinfarkt und Schlaganfall bei Menschen mit diesen Risikofaktoren (3, 4). Die positive Wirkung dieser Arzneimittel ist jedoch an ihre regelmäßige Einnahme gebunden, was häufig ein Problem ist. Multimedikation, Fehlinformationen, Unverträglichkeiten oder mangelnde Verfügbarkeit gefährden den Nutzen. Daher entstand vor fast 20 Jahren das Konzept der sog. „Polypille“. Darin werden in einer Tablette mehrere Wirkstoffe kombiniert. Das Prinzip der Polypille hat sich beispielsweise in der HIV-Therapie sehr bewährt (5). Zur Prävention von KVE gibt es in Deutschland zugelassene Fixkombinationen mit 3 Wirkstoffen (z.B. ASS plus Atorvastatin plus Ramipril). Während die Wirksamkeit für die einzelnen Wirkstoffe sehr gut belegt ist, fehlen Nachweise, dass eine Polypille zusätzliche Vorteile hinsichtlich Therapieadhärenz und Verhinderung von KVE bringt (6). Wir haben schon vor 16 Jahren über das Konzept berichtet und Studien gefordert, um diesen theoretischen Ansatz praktisch zu testen (7, 8).

Im Januar wurden nun im N. Engl. J. Med. die Ergebnisse der TIPS-3-Studie veröffentlicht, in der der Nutzen einer Polypille bei Personen ohne manifeste KVE, aber mit entsprechenden Risikofaktoren, geprüft wurde (9). Die randomisierte, kontrollierte und doppelt verblindete Studie wurde an 86 Zentren in Kanada und 8 Entwicklungs- oder Schwellenländern durchgeführt (Bangladesch, Indien, Indonesien, Malaysia, Philippinen, Tansania, Kolumbien und Tunesien) und aus Stiftungsgeldern des gemeinnützigen „Wellcome Trust“ finanziert. Die Polypille wurde von einem indischen Lizenznehmer produziert und zur Verfügung gestellt.

Studiendesign: In einem 2 x 2 x 2-faktoriellen Design erfolgten 3 Randomisierungen. Zunächst wurde eine Polypille mit 40 mg Simvastatin, 100 mg Atenolol, 25 mg Hydrochlorothiazid und 10 mg Ramipril gegen Plazebo getestet (primärer Endpunkt: KVE). Im zweiten Randomisierungsschritt wurde ASS 75 mg/d gegen Plazebo getestet (Endpunkte: KVE und Karzinome) und im dritten Schritt Vitamin D vs. Plazebo (Endpunkte: Frakturen und Stürze). Diese Auswertung ist jedoch nicht Gegenstand der Veröffentlichung.

Eingeschlossen wurden Männer > 50 Jahre und Frauen > 55 Jahre ohne bekannte KVE, aber mit einem mittleren bis hohen INTERHEART-Risiko-Score (10, 11). Dieser Score hat 8 Dimensionen (Alter, aktives oder passives Rauchen, Diabetes und/oder arterielle Hypertonie, Familienanamnese für KVE, Hüft-/Bauchumfang, psychosozialer Stress, körperliche Aktivität und Ernährungsgewohnheiten) und bildet ansteigend das Risiko für KVE auf einer Skala von 0 bis 48 Punkten ab. Der Score betrug bei den Probanden durchschnittlich 18 Punkte. 90% der Studienpatienten erhielten zuvor keine präventive Arzneimitteltherapie (s.u.). Die Autoren erwarteten eine KVE-Rate von 1,2% pro Jahr und eine Risikoreduktion durch die Polypille um 35%.

Die Polypille wurde zunächst in einer „Run-in-Phase“ über 3-4 Wochen von den Teilnehmern in halber Dosierung auf Verträglichkeit getestet („low dose polypill“). Wenn dies toleriert wurde und die Adhärenz ≥ 80% lag, wurde die volle Dosis verabreicht. Probanden mit Schwindel, Hypotonie oder Husten wurden mit der low-dose-Polypille weiterbehandelt oder erhielten eine Polypille ohne Ramipril.

Die Nachbeobachtung erfolgte nach 6 Wochen, 3, 6, 9 und 12 Monaten sowie alle weiteren 6 Monate bis zum geplanten Ende der Studie nach 5 Jahren. Bei jedem Besuch wurden die Vitalwerte erhoben und Blut abgenommen. Im primären Studienendpunkt wurden schwere KVE subsummiert: Schlaganfall, Myokardinfarkt, kardiovaskulärer Tod, Herzinsuffizienz, überlebter Herz-Kreislauf-Stillstand und arterielle Revaskularisationsbehandlung.

Ergebnisse: Von 7.793 gescreenten Patienten durchliefen zwischen 2012 bis 2017 insgesamt 7.534 die „Run-in-Phase“, und 5.713 wurden randomisiert. Ein Viertel wurden nicht eingeschlossen, meist wegen Nebenwirkungen (n = 715), fehlender Adhärenz (n = 560) oder letztlich nicht erteilter Einwilligung (n = 458). Die meisten Probanden stammten aus Indien (48%) und den Philippinen (30%). Das mittlere Alter lag bei knapp 64 Jahren, 53% waren Frauen, 83,8% der Teilnehmer hatten eine bekannte arterielle Hypertonie (systolischer RR im Mittel 144,5 mm Hg), aber nur 11% nahmen regelmäßig Antihypertensiva ein. 36,7% hatten erhöhte Nüchtern-Glukose-Werte (≥ 126 mg/dl) bzw. eine Vordiagnose Diabetes mellitus. Das LDL-Cholesterin lag bei Studienbeginn im Mittel bei 120,7 mg/dl; nur 0,1% erhielten einen Lipidsenker.

Fast alle Patienten (99,2%) konnten erstaunlicherweise bis zum Studienende nachverfolgt werden, im Mittel über 4,6 Jahre. Die Adhärenz zur Studienmedikation lag nach 2 Jahren bei 81% und nach 4 Jahren < 70% (mit Polypille 67,7%, mit Plazebo 69,4%). Rechnet man die in der „Run-in-Phase“ bereits wegen Adhärenzproblemen ausgeschlossenen Personen hinzu, dann erfüllt sich die mit der Polypille verknüpfte Hoffnung nach höherer Adhärenz also nicht: 42% Inadhärenz. Die Studienautoren hatten mit nur 20% Inadhärenz gerechnet. Als wichtigste Gründe nennen die Autoren fehlenden Nachschub der Polypille aufgrund von Lieferschwierigkeiten, regulatorische Hindernisse und Einschränkungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie.

Die Veränderungen bei Blutdruck, Herzfrequenz und Lipidwerten fielen geringer aus, als mit den verwendeten Dosierungen zu erwarten gewesen wäre. Bei der letzten Analyse lag die mittlere Herzfrequenz mit der Polypille um 4,6/min, der systolische RR um 5,8 mmHg und das LDL-Cholesterin um etwa 19 mg/dl niedriger als mit Plazebo.

Entsprechend lagen auch die klinischen Auswirkungen weit unter den Erwartungen. Der primäre Endpunkt trat in den 4,5 Jahren bei 126 Personen in der Polypill-Gruppe ein (4,4%) und bei 157 (5,5%) in der Plazebo-Gruppe (Hazard Ratio = HR: 0,79; 95%-Konfidenzintervall = CI: 0,63-1,00). An KVE starben 111 Personen in der Polypill- (3,9%) und 139 in der Plazebo-Gruppe (4,9%; HR: 0,79; CI: 0,61-1,01). Hieraus errechnet sich ein jährlicher Nutzen von 0,23% bzw. eine Number Needed to Treat (NNT) von 435.

Zu einem Studienabbruch wegen unerwünschter Ereignisse kam es in der Polypill-Gruppe bei 5,4% vs. 3,9% in der Plazebo-Gruppe, meist wegen Schwindel oder Hypotension (2,7% vs. 1,1%) oder Husten (1,1% vs. 0,6%). Muskelschmerzen oder -schwäche spielten übrigens kaum eine Rolle (0,5% in beiden Gruppen).

Der ASS-Vergleich verlief, wie in der Primärprävention von KVE eigentlich nicht anders zu erwarten, ebenfalls enttäuschend (vgl. 12). Durch die ASS-Einnahme konnten KVE nicht signifikant reduziert werden (4,1% vs. 4,7%; HR: 0,86; CI: 0,67-1,10), und auch Todesfälle oder neu aufgetretene Karzinome wurden nur nicht signifikant reduziert. Über die Diskussion möglicher karzinompräventiver Effekte von ASS haben wir 2012 berichtet (13). Immerhin wurden nicht vermehrt Komplikationen unter ASS beobachtet: Es gab eine ähnliche Zahl starker und leichterer Blutungen sowie von Dyspepsie und Magengeschwüren.

Für die Kombination Polypille plus ASS ergab sich eine Ereignisquote für den primären Endpunkt von 4,1% im Vergleich zu 5,8% unter Doppel-Plazebo (HR: 0,69; CI: 0,50-0,97), also kein zusätzlicher Nutzen.

In einem begleitenden Editorial (14) wird noch auf die PolyIran-Studie (15) verwiesen, die ein ähnliches Design hatte und 2019 publiziert wurde. Die dort an 6.838 Personen in der Primär- und Sekundärprävention getestete Polypille beinhaltete 81 mg ASS, 20 mg Atorvastatin, 12,5 mg Hydrochlorothiazid und 5 mg Enalapril oder 40 mg Valsartan. In dieser Studie wurde gegenüber Plazebo eine Risikoreduktion für KVE von 2,9% über 5 Jahre beobachtet (8,8% vs. 5,9%; HR: 0,66; CI: 0,55-0,80). Der größere Effekt von 0,58% pro Jahr (NNT: 172) könnte ethnische oder organisatorische Gründe haben oder einfach daran liegen, dass das Grundrisiko der Studienteilnehmer höher war (11% Sekundärprävention; 15). Vielleicht trägt das Weglassen des Betablockers in der iranischen Polypille auch zu einer besseren Akzeptanz bzw. Verträglichkeit bei.

Die Kommentatoren sehen jedenfalls das Konzept der Polypille zur Prävention von KVE in ärmeren Ländern als bestätigt an und plädieren für die Aufnahme in die „Best-buys“-Liste der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Vorbeugung und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten (16). Andere Strategien, wie die umfassende Regulierung des Tabakkonsums, Verbesserung von Lebensmittelqualität oder Kampagnen zur Förderung einer gesunden, nachhaltigen Ernährung und regelmäßiger körperlicher Aktivität müssten zwar bevorzugt umgesetzt werden; dies sei jedoch weniger realistisch als eine Polypille. Allerdings müssten Hersteller, Händler und Behörden auch eine kontinuierliche und erschwingliche Versorgung mit qualitativ guten Arzneimitteln sicherstellen.

Fazit: In einer großen Multizenterstudie, überwiegend in Entwicklungs- und Schwellenländern, reduzierte eine Polypille mit einer fixen Kombination aus 3 Antihypertensiva (Ramipril, Atenolol, Hydrochlorothiazid) plus Simvastatin bei bis zu Studienbeginn weitgehend unbehandelten Personen ohne Vorgeschichte mit Herzinfarkt oder Schlaganfall, aber mit erhöhtem kardiovaskulärem Risiko (Primärprävention) kardiovaskuläre Ereignisse, um 1,1% über 4,6 Jahre im Vergleich zu Plazebo. Dieser Effekt war deutlich geringer als erwartet, wahrscheinlich weil das Grundrisiko der Studienpatienten nicht sehr hoch war und vielleicht auch, weil sich die Adhärenz zur Studienmedikation mit 68% enttäuschend gering erwies. Eine solche Polypille zur kardiovaskulären Prävention ist möglicherweise eine Option für Menschen in Regionen mit unzureichender medizinischer Versorgung. Bei der Kombination sollte auf gut verträgliche Wirkstoffe und Dosierungen geachtet werden. Die Polypille kommt nach unserer Einschätzung in Ländern mit geregeltem Zugang zu Arzneimitteln und ärztlicher Versorgung kaum in Frage, nicht zuletzt, weil unter den Dogmen der vielen Grenzwerte immer wieder die Dosierungen nachjustiert werden müssten.

Redaktionsschluss: 6.4.2021

Literatur

  1. GBD = Global Burden of Disease Study 2017: Lancet 2018, 392, 1923. Link zur Quelle
  2. Yusuf, S., et al. (PURE = Prospective Urban Rural Epidemiology): Lancet 2020, 395, 795. Link zur Quelle
  3. Lewington, S., et al. (PSC = Prospective Studies Collaboration): Lancet 2002, 360, 1903. Link zur Quelle
  4. Yusuf, S., et al. (INTERHEART): Lancet 2004, 364, 937. Link zur Quelle
  5. AMB 2012, 46, 60. Link zur Quelle
  6. https://www.kbv.de/media/sp/WirkstoffAktuell_2-2020_Polypillen.pdf Link zur Quelle
  7. Wald, N.J., und Law, M.R.: BMJ 2003, 326, 1419. Link zur Quelle
  8. AMB 2004, 38, 68a Link zur Quelle . AMB 2005, 39, 62b. Link zur Quelle
  9. Yusuf, S., et al. (TIPS-3 = The International Polycap Study-3): N. Engl. J. Med. 2021, 384, 216. Link zur Quelle
  10. McGorrian, C., et al. (INTERHEART): Eur. Heart J. 2011, 32, 581. Link zur Quelle
  11. Joseph, P., et al. (PURE = Prospective Urban Rural Epidemiology): Heart 2018, 104, 581. Link zur Quelle
  12. AMB 2018, 52, 73. Link zur Quelle
  13. AMB 2012, 46, 36. Link zur Quelle
  14. Huffmann, M.D., und Patel, A.: N. Engl. J. Med. 2021, 384, 288. Link zur Quelle
  15. Roshandel, G., et al. (PolyIran study): Lancet 2019, 394, 672. Link zur Quelle
  16. https://apps.who.int/iris/handle/10665/259232 Link zur Quelle