„Das Wissen um die Sicherheit von Arzneimitteln zum Zeitpunkt ihrer Markteinführung ist begrenzt. Spezifische Risiken eines neuen Wirkstoffs oder einer neuen Kombination etablierter Wirkstoffe oder auch nur einer neuen Darreichungsform in der breiten ärztlichen Anwendung, beispielweise für bestimmte Patientengruppen, zeigen sich manchmal erst Jahre nach der Zulassung des Arzneimittels“. Diese Aussage steht am Beginn eines informativen Artikels des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu „Nebenwirkungsmeldungen in Deutschland: Aktuelles und Hintergründe“ [1]. Der Artikel bezieht sich nicht nur auf Arzneimittel, sondern angesichts der beeindruckenden Geschwindigkeit bei der Entwicklung von Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 – bereits 6 Monate nach Sequenzierung von SARS-CoV-2 wurden neuartige Impfstoffe gegen dieses Virus in frühen Phasen klinischer Studien untersucht [2] – auch auf die inzwischen von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) zugelassenen 5 Impfstoffe. Früher beanspruchten Entwicklung und Herstellung von Impfstoffen bzw. Untersuchungen der Wirksamkeit und Sicherheit neuer Impfstoffe in der Regel 3 bis 9 Jahre.
Wir haben deshalb bereits in unserer Übersicht „Zur Entwicklung genetischer Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 – technologische Ansätze sowie klinische Risiken als Folge verkürzter Prüfphasen“ [3] auf die Probleme hingewiesen, seltene bzw. verzögert auftretende Nebenwirkungen rechtzeitig und noch vor Zulassung dieser Impfstoffe zu entdecken. Diese Probleme werden auch deutlich im aktuellen Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) anhand der aktuellen Zahlen zur Impfkampagne in Deutschland vom 27.12.2020 bis zum 31.12.2021 [4]. Während im Rahmen der randomisierten kontrollierten Studien meist 20.000-40.000 Personen den jeweiligen Impfstoff bzw. ein Plazebo erhielten, wurden allein in Deutschland im Zeitraum vom 27.12.2020 bis zum 30.12.2021 laut Angaben des PEI 148.760.720 Impfungen durchgeführt, davon mit Abstand die meisten mit Comirnaty® (110.533.639), 21.912.123 mit Spikevax®, 12.738.494 mit Vaxzevria® und 3.576.464 mit COVID-19 Vaccine Janssen [4]. Deshalb ist die Pharmakovigilanz gerade im aktuellen Pandemiegeschehen besonders wichtig, um anhand der wissenschaftlichen Literatur, der Ergebnisse klinischer Studien und der Meldung von Verdachtsfällen von Nebenwirkungen nach Impfung die Sicherheit der Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 kontinuierlich zu überwachen [1]. Im aktuellen Sicherheitsbericht des PEI lag die Melderate hinsichtlich Verdachtsfällen von Nebenwirkungen bspw. nach Impfung mit den beiden mRNA-Impfstoffen für Comirnaty® bei 1,3 pro 1.000 Impfungen und für Spikevax® bei 1,9 pro 1.000 Impfungen; darunter befanden sich als schwerwiegend klassifizierte Fallmeldungen 0,2 pro 1.000 Impfungen nach Comirnaty® bzw. 0,1 pro 1.000 Impfungen nach Spikevax® [4].
Die Datenlage hinsichtlich sehr seltener Nebenwirkungen, Risiken in der Langzeitanwendung, Arzneimitteltherapiesicherheit sowie Wechselwirkungen oder spezieller Risiken für bestimmte Personengruppen (z.B. Schwangere, Kinder oder ältere Personen) ist zum Zeitpunkt der Zulassung trotz des positiven Nutzen-Risiko-Verhältnisses von neuen Wirk- bzw. Impfstoffen meist sehr begrenzt [1]. Deshalb werden Berichte über mögliche Nebenwirkungen dringend benötigt, sowohl von geimpften Personen bzw. von Patienten, die mit antiviralen Wirkstoffen gegen SARS-CoV-2 behandelt wurden, als auch von Angehörigen der Heilberufe aus ihrer täglichen Praxis.
Unter einer Nebenwirkung versteht man laut Arzneimittelgesetz (AMG § 4 Abs. 13) jede schädliche und unbeabsichtigte Reaktion auf ein Arzneimittel, und zwar unabhängig von den Vorgaben der Produktinformationen [5]. Somit gelten auch schädliche Reaktionen am Patienten als Nebenwirkung, die im Zusammenhang mit Medikationsfehlern oder „Off-Label“-Anwendung auftreten bzw. auf den nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch zurückzuführen sind. Von besonderem Interesse sind dabei schwerwiegende, unbekannte (in der Produktinformation in Art, Ausmaß oder Häufigkeit nicht beschriebene) Reaktionen auf einen Wirk- oder Impfstoff [1]. Die in Deutschland für die Meldung von Nebenwirkungen von Humanarzneimitteln bzw. Impfstoffen zuständigen Behörden sind das BfArM (Arzneimittel) und das PEI, das zuständig ist bei Anwendung von „Sera, Impfstoffen, Blut- und Gewebezubereitungen, Geweben, Allergenen, Arzneimitteln für neuartige Therapien („Advanced Therapy Medicinal Products“ = ATMP) und gentechnisch hergestellten Blutbestandteilen [1].
In Deutschland gibt es für die Angehörigen der Heilberufe (z.B. Ärzte und Apotheker) keine Verpflichtung nach AMG, Nebenwirkungen zu melden. Die Pflicht zur Meldung ergibt sich aber aus ihrer jeweiligen Berufsordnung und der Adressat dieser Meldungen ist die Arzneimittelkommission der jeweiligen Kammer, d.h. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) bzw. der Deutschen Apotheker (AMK; [1]). In Österreich sind dagegen alle Angehörige von Gesundheitsberufen, genannt werden „Ärzte und Ärztinnen, Zahnärzte und Zahnärztinnen, Dentisten und Dentistinnen, Hebammen, Apotheker und Apothekerinnen, Drogisten und Drogistinnen sowie Gewerbetreibende, die gemäß der Gewerbeordnung 1994 zur Herstellung von Arzneimitteln oder zum Großhandel mit Arzneimitteln berechtigt sind“ gemäß AMG und Pharmakovigilanzverordnung verpflichtet, alle in Österreich auftretenden Nebenwirkungen an das BASG zu melden. Zuständig ist das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG; https://nebenwirkung.basg.gv.at/).
Nach Verabreichung von Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 sind Meldungen von besonderem Interesse, die sich auf die nicht in der Produktinformation aufgeführten Nebenwirkungen beziehen, insbesondere wenn sie schwerwiegend sind, ebenso wie natürlich schwerwiegende, bereits in der Produktinformation erwähnte Nebenwirkungen [6]. Darüber hinaus besteht nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) in Deutschland die Verpflichtung, beim Verdacht einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Verdacht auf Impfkomplikation) diese zu melden, und zwar direkt an das PEI [7]. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, dass geimpfte Personen vermutete Nebenwirkungen nach Impfung dem PEI oder dem Hersteller des Impfstoffs melden.
Im Zusammenhang mit den inzwischen zur Vermeidung schwerer Verläufe von COVID-19 zugelassenen neutralisierenden monoklonalen Antikörpern [8] sowie antiviralen Wirkstoffen [9] sollten ebenfalls nicht nur schwerwiegende, unbekannte (in der Produktinformation hinsichtlich Art, Ausmaß oder Häufigkeit nicht beschriebene) Nebenwirkungen gemeldet werden, sondern auch bereits bekannte, nicht schwerwiegende Nebenwirkungen, da sie mitunter die Therapieadhärenz der Patienten beeinträchtigen können [1].
Nicht gemeldet werden sollten dagegen solche Symptome/Erkrankungen, denen offensichtlich eine andere Ursache als die Impfung gegen SARS-CoV-2 bzw. medikamentöse Behandlung von COVID-19 zugrunde liegt.
Weitere ausführliche Informationen zur Meldung von Nebenwirkungen finden sich in einem von der AkdÄ veröffentlichten Leitfaden für Ärzte mit dem Titel „Nebenwirkungen melden“ [6] sowie in einem Artikel der Deutschen Apotheker Zeitung (DAZ) zum Thema: „Nebenwirkung erkannt, was nun?“ [10].
Im Fazit des Artikels zu den Nebenwirkungsmeldungen [1] wird darauf hingewiesen, „dass das aktuelle Pandemiegeschehen einen Einfluss auf die Meldebereitschaft nicht vakzinassoziierter Nebenwirkungsfälle durch Angehörige der Heilberufe zu haben scheint, der sich in einem signifikanten Rückgang der Meldezahlen dieser Gruppe im Jahr 2021 äußert“. Deshalb appelliert das BfArM zu Recht an die Angehörigen der Heilberufe, auch trotz der aktuellen Arbeitsbelastung Verdachtsfälle von Nebenwirkungen weiterhin zu melden, auch zu Arzneimitteln, die nicht im Fokus der Pandemie stehen.