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Nochmals Inkretinmimetika: Vorsicht bei diabetischer Retinopathie [CME]

In unserer letzten Ausgabe haben wir ausführlich über die Therapie [1], aber auch über Missbrauch [2] von Semaglutid, einem Glucagon-like-peptide-1-Rezeptor-Agonisten (GLP1-A; = Inkretinmimetikum), zur Gewichtsreduktion berichtet und auch die ganz überwiegend gastrointestinalen Nebenwirkungen dieser Wirkstoffgruppe erwähnt: Übelkeit, Erbrechen, Durchfälle; seltener Gallenblasen- sowie Gallenwegserkrankungen, erhöhte Werte der Pankreas-Amylase und -Lipase. Über Gallenwegserkrankungen als Nebenwirkungen von GLP1-A haben wir im vergangenen Jahr auch in einem eigenen Artikel berichtet [3].

In früheren Studien zur blutzuckersenkenden Wirkung von GLP1-A (vgl. SUSTAIN-6; [4]) gab es außerdem Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für Komplikationen einer diabetischen Retinopathie (DR), wie Glaskörperblutung, Erblindung, Bedarf an Photokoagulation oder intravitrealer Arzneimittelapplikation, besonders bei bereits zu Therapiebeginn bestehender DR. Aktuell wurden nun die Ergebnisse einer Metaanalyse publiziert, in der dieser paradox erscheinende Effekt näher untersucht wurde [5]. Es wurden sieben GLP1-A-Studien mit kardiovaskulären Endpunkten bei Diabetes mellitus Typ 2 mit insgesamt 56.004 Patienten (vorbestehende DR-Prävalenz 9%-31%) analysiert sowie weitere elf Studien zu Semaglutid mit insgesamt 11.894 Patienten, davon sechs Studien mit oraler und fünf Studien mit subkutaner Applikation. Keine dieser Studien war speziell auf die Erfassung ophthalmologischer Endpunkte ausgelegt.

Ergebnisse: Für die Klasse der GLP1-A konnte zwar insgesamt kein erhöhtes Risiko für DR-Komplikationen nachgewiesen werden (Relative Rate = RR: 1,09; 95%-Konfidenzintervall = CI: 0,925-1,289; p = 0,30), jedoch für subkutan injiziertes Semaglutid (RR: 1,73; CI: 1,10-2,71; p = 0,02). Der kombinierte kardiovaskuläre Endpunkt („Major adverse cardiovascular events“ = MACE, einschließlich Gesamtsterblichkeit und kardiovaskulärer Sterblichkeit) wurde signifikant reduziert (p ≤ 0,001). Eine Meta-Regressionsanalyse ergab, dass die Senkung des HbA1c-Werts erwartungsgemäß mit der MACE-Reduktion korrelierte (p = 0,014), gleichzeitig aber auch mit einer Progredienz der DR (p = 0,076). Die Autoren errechnen für die gesamte Klasse der GLP1-A eine „Number needed to treat“ (NNT) von 77 für MACE und eine „Number needed to harm“ (NNH) von 1.000 für DR; für Semaglutid liegen die entsprechenden Werte bei NNT = 43 bzw. NNH = 77.

In der separaten Analyse der elf Semaglutid-Studien zeigte sich eine besonders starke Korrelation mit einer erhöhten DR-Komplikationsrate für Semaglutid, welches länger als ein Jahr subkutan injiziert wurde (p = 0,022), sowie in der Subgruppe mit einer HbA1c-Senkung von > 1% (p = 0,016), jedoch keine Korrelation mit Semaglutid bei oraler Einnahme. 

Diskussion: Der Nutzen einer antidiabetischen Behandlung mit GLP1-A hinsichtlich des kardiovaskulären Risikos überwiegt statistisch deutlich das Risiko für DR. Das individuelle Risiko ist jedoch abhängig vom ophthalmologischen Ausgangsbefund. Die Autoren empfehlen daher bei Einleitung sowie regelmäßig (z.B. jährlich) im Verlauf einer GLP1-A-Therapie augenärztliche Kontrollen zur Beurteilung des individuellen Risikos für eine DR bzw. eine Verschlechterung der DR. In der Gebrauchsinformation von Semaglutid wird im Falle einer „potenziell instabilen“ DR von der Anwendung abgeraten.

Der Mechanismus dieser potenziell schwerwiegenden Nebenwirkung ist unklar. Eine vorübergehende und reversible Verschlechterung einer DR wurde auch in anderen Diabetesstudien bei intensiver Blutzuckersenkung beobachtet. Ein (zusätzlicher) direkter toxischer Effekt der GLP1-A kann jedoch nicht ausgeschlossen werden und muss – auch wegen der Verordnungszahlen – rasch in weiteren Studien geklärt werden. In Deutschland wurden im Jahr 2021 insgesamt 178,6 Mio. DDD GLP1-A verordnet [6]. Davon entfielen auf Dulaglutid 100,5 Mio. DDD (+42,1% gegenüber 2020), auf Semaglutid 46,3 Mio. DDD (+195,7%) und auf Liraglutid 27,3 Mio. DDD (-15,0%).

Die laufende FOCUS-Studie [7] plant, 1.500 Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 und DR einzuschließen und den Effekt von Semaglutid vs. Plazebo auf die DR im Langzeitverlauf (5 Jahre) mit einer speziellen ophthalmologischen Nachbeobachtung zu evaluieren. Erste Ergebnisse werden für 2027 erwartet.

Fazit

Eine antidiabetische Therapie mit Glucagon-like-peptide-1-Agonisten (GLP1-A) – insbesondere eine subkutane Therapie mit Semaglutid über mehr als ein Jahr – ist nach den Ergebnissen einer aktuellen Metaanalyse paradoxerweise mit einem (gering) erhöhten Risiko für eine Verschlechterung einer vorbestehenden diabetischen Retinopathie verbunden. Patienten sollten bei Einleitung sowie während einer solchen Therapie hinsichtlich des Vorhandenseins bzw. Schweregrads einer diabetischen Retinopathie ophthalmologisch begutachtet werden. Bei einer bereits bestehenden ausgeprägten Retinopathie sollte die Therapie mit GLP1-A zurückhaltend erwogen werden.

Literatur

  1. AMB 2023, 57, 05. (Link zur Quelle)
  2. AMB 2023, 57, 08DB01. (Link zur Quelle)
  3. AMB 2022, 56, 27. (Link zur Quelle)
  4. Marso, (Link zur Quelle)
  5. Albert, S.G., et al.: Diabetes Metab. Syndr. 2022, 17, 102696. (Link zur Quelle)
  6. Freichel, M., und Klinge, A.: Diabetes mellitus. In: Ludwig, W.-D. Mühlbauer, B., Seifert, R. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2022. Springer-Verlag Berlin, erscheint im März 2023.
  7. FOCUS (A research study to look at how semaglutide compared to placebo affects diabetic eye disease in people with type 2 diabetes): (Link zur Quelle)