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„Sick Day Rules“ bei Therapie mit SGLT2-Inhibitoren: Auch für Nicht-Diabetiker? [CME]

Die Zahl der Patienten, die unter einer Dauertherapie mit einem „Sodium-glucose Cotransporter-2“-Inhibitor (SGLT2-I) stehen, hat in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Dies ist in erster Linie bei den ursprünglich ausschließlich als Antidiabetika zugelassenen Wirkstoffen Empagliflozin (Empa) und Dapagliflozin (Dapa) Folge der Indikationsausweitungen auf die chronische Herzinsuffizienz (Empa, Dapa) und die chronische Niereninsuffizienz (Da), nachdem sich in Studien hier in gewissen Konstellationen Überlebensvorteile gezeigt hatten. Wir haben dazu mehrfach berichtet (z.B. [1]). Ganz aktuell wurde in den USA mit dem dualen SGLT1/2-I Sotagliflozin ein weiterer Arzneistoff aus dieser Gruppe zur Behandlung von Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus Typ 2 und Niereninsuffizienz neu zugelassen ([2]; Anm.: In der EU war Sotagliflozin bereits von 2019 bis 2021 zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 1 zugelassen – siehe unten; sollte es in der EU zu einer erneuten Zulassung von Sotagliflozin für die oben genannten Indikationen kommen, werden wir darüber berichten). Andere SGLT2-I sind weiterhin nur für die Diabetesbehandlung zugelassen: z.B. in der EU: Canagliflozin, Ertugliflozin; in den USA: Bexagliflozin; in Japan: Tofogliflozin, Ipragliflozin.

Eine aktuell in JAMA Cardiology publizierte retrospektive Kohortenstudie an > 49.000 Patienten mit Herzinsuffizienz aus den Jahren 2021/2022 kommt zu dem Schluss, dass in den USA bei leitliniengerechter Behandlung fünfmal mehr Patienten mit einem SGLT2-I hätten versorgt werden müssen als es in der Praxis der Fall war [3]. Auch wenn die Zahlen auf europäische Länder nicht direkt übertragbar sind, ist wohl auch hierzulande noch über Jahre mit einem weiteren Anstieg der Verschreibungszahlen für unterschiedliche SGLT2-I zu rechnen.

SGLT2-I sind im Allgemeinen gut verträglich; dennoch gibt es ernst zu nehmende Risiken bzw. Nebenwirkungen. Über diese haben wir teilweise gesondert informiert [4][5]. Durch die zunehmende Zahl der Patienten unter SGLT2-I-Therapie geraten diese wieder vermehrt in den Fokus des Interesses:

  • Urogenitale Infektionen (Harnwegsinfektion; Vulvovaginitis, Balanitis, meist durch Candida albicans): häufig (≥ 1/100) bis sehr häufig (≥ 1/10);
  • Atypische diabetische Ketoazidose [4] – siehe unten;
  • Fournier-Gangrän (perineale nekrotisierende Fasziitis): selten, aber schwerwiegend [5];
  • Darüber hinaus sind folgende potenzielle Arzneimittelinteraktionen zu beachten: Schleifen- und Thiazid-Diuretika: gesteigerte Diurese mit Dehydratationsrisiko; Insulin, Insulin-Analoga und insulinotrope Antidiabetika (Sulfonylharnstoffe, Gliptine, Inkretinmimetika): erhöhtes Hypoglykämierisiko.

Die diabetische Ketoazidose (DKA) ist eigentlich eine typische Komplikation beim Diabetes mellitus Typ 1 (DMT1) und eine Folge des Insulinmangels mit Hyperglykämie. SGLT2-I können eine DKA jedoch auch bei Diabetes mellitus Typ 2 (DMT2) auslösen. Meist ist diese mit normalen oder nur gering erhöhten Blutzuckerspiegeln verbunden (sogenannte atypische oder euglykämische Ketoazidose), was zu einer (zu) späten Diagnose führen kann, zumal die ersten Symptome unspezifisch sind: Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen. Im weiteren Verlauf kommt es zu tiefer und rascher Atmung als Zeichen der respiratorischen Kompensation der metabolischen Azidose (Kussmaul-Atmung) sowie im Spätstadium zum lebensbedrohlichen Vollbild des ketoazidotischen Komas.

Für das Auftreten einer euglykämischen DKA (euDKA) unter Therapie mit einem SGLT2-I sind unterschiedliche Auslöser und Risikofaktoren bekannt:

  • Akute Erkrankungen oder operative Eingriffe;
  • Dehydratation;
  • Fasten: kalorien-/kohlenhydratarme Diät, ketogene Diät;
  • BMI < 27 kg/m2;
  • Übermäßiger Alkohol- oder Drogenkonsum;
  • bei zusätzlicher Insulintherapie: suboptimale Insulindosierung, schlechte Therapie-Adhärenz;
  • DKA in der Vergangenheit.

Das Risiko für eine euDKA ist besonders hoch bei Patienten mit DMT1. Die EU-Zulassungen von Dapa [6] und Sotagliflozin (vgl. [7]) für DMT1 wurden deshalb 2021 bzw. 2022 zurückgezogen. Andere SGLT2-I waren zur Behandlung des DMT1 nie zugelassen.

Von unterschiedlichen Stellen gibt es Empfehlungen zur Prävention von euDKA für Diabetiker, die unter einer SGLT2-I-Dauertherapie stehen (z.B. [8][9]). Zu diesen „Sick Day Rules“ – also Regeln, die im Krankheitsfall eingehalten werden sollen – zählen unter anderem folgende Maßnahmen:

  • Vermeidbare Auslöser (s.o.) vermeiden!
  • SGLT2-I 3 bis 5 Tage vor geplanten operativen Eingriffen absetzen!

Im Falle einer akuten Erkrankung – insbesondere bei reduzierter Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr:

  • SGLT2-I absetzen! Insulintherapie beibehalten, ggf. Dosis adaptieren!
  • Soweit möglich, ausreichend trinken und essen!
  • Bestimmte andere Antidiabetika und Arzneimittel (z.B. Diuretika, NSAID) ebenfalls pausieren!
  • Engmaschige Kontrollen von BZ und Keton!

Bei Symptomen einer euDKA (s.o.):

  • Sofort ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen!

Für Patienten gibt es diese Empfehlungen auch in vereinfachter Form als „Sick Day Rules Cards“, die im Kreditkartenformat mitgeführt werden können. Eine deutschsprachige Variante einer solchen Karte findet sich auf der Website der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) und kann dort heruntergeladen bzw. gegen Entgelt als Plastikkarte bestellt werden [10].

Diese wichtigen Verhaltensregeln gelten für Diabetiker. Das euDKA-Risiko ist allerdings beim DMT2 bedeutend geringer als beim DMT1 [6], der (s.o.) deshalb keine Indikation mehr für SGLT2-I ist. Eine große bevölkerungsbasierte Kohortenstudie an über 208.000 Patienten mit DMT2-Patienten aus Kanada und dem UK bestätigte das geringe euDKA-Risiko. Es war unter SGLT2-I aber etwa dreimal so hoch wie für Gliptine, allerdings auf einem niedrigen absoluten Niveau von 2,03 Fällen pro 1.000 Patientenjahre [11].

Bei Nicht-Diabetikern, die SGLT2-I ausschließlich zur Behandlung einer Herz- oder Niereninsuffizienz einnehmen, ist das Risiko für eine euDKA wohl noch geringer: So zeigte sich in den beiden großen Studien zu Dapa [12] und Empa [13] bei Herzinsuffizienz mit reduzierter Auswurffraktion – in denen der Anteil von Nicht-Diabetikern um 50% bzw. 60% lag – insgesamt nur ein sehr geringes Ketoazidoserisiko von 0,1% in den Verum-Gruppen (Nachbeobachtung 18 bzw. 16 Monate); in den Plazebo-Gruppen lag dieses bei 0,0% bzw. < 0,1%. In der Dapa-Studie traten alle drei Ketoazidosen bei Diabetikern auf; die Empa-Studie gibt dazu keine Information. In der Literatur finden sich lediglich anekdotische und eher vage Einzelfallberichte zu Ketoazidosen bei Nicht-Diabetikern (z.B. [14][15]; beide in einer postoperativen Situation).

Es ist somit fraglich, ob die genannten Vorsichtsmaßnahmen bei Nicht-Diabetikern in gleichem Maße anzuwenden sind wie bei Diabetikern. Möglicherweise ist das kardiale Risiko durch ein allzu großzügiges Absetzen von SGLT2-I bei herzinsuffizienten Nicht-Diabetikern im akuten Krankheitsfall oder perioperativ sogar höher als das gefürchtete Risiko für eine Ketoazidose. Anästhesiologische Fachgesellschaften empfehlen derzeit für Diabetiker unter SGLT2-I ein Absetzen für 3 bis 5 Tage präoperativ, lassen aber das Vorgehen bei Nicht-Diabetikern wegen unzureichender Evidenz noch offen (z.B. [16]). Sowohl für das perioperative Management als auch für akute Erkrankungen („Sick Days“) wären jedoch differenzierte Handlungsempfehlungen für Diabetiker und Nicht-Diabetiker unter Berücksichtigung der oben genannten zusätzlichen Risikofaktoren sinnvoll und wichtig. Dies sollte dringend in Studien geklärt werden.

Fazit

Diabetiker haben unter Therapie mit SGLT2-Inhibitoren ein geringes, aber im Vergleich zu anderen Antidiabetika deutlich höheres Risiko für eine atypische euglykämische Ketoazidose. Sie wird oft spät erkannt und kann lebensbedrohlich verlaufen. Es existieren für Diabetiker klare und wichtige Empfehlungen zur Vermeidung von Risikosituationen und Kriterien zum Pausieren von SGLT2-Inhibitoren („Sick Day Rules“). Ob diese aber übertragbar sind auf die rasch wachsende Zahl nicht-diabetischer Patienten, die SGLT2-Inhibitoren wegen der „neuen“ Indikationen Herzinsuffizienz oder Niereninsuffizienz einnehmen, ist derzeit unklar. Bisherige Studiendaten deuten darauf hin, dass die Gefahr einer Ketoazidose unter SGLT2-Inhibitoren bei Patienten mit niedrigem Risiko (Nicht-Diabetiker oder Abwesenheit anderer bekannter Risikofaktoren) gering ist. Noch ist unklar, in welchen Situationen eine Unterbrechung der Therapie nicht erforderlich ist.

Literatur

  1. AMB 2021, 55, 65. AMB 2021, 55, 81. AMB 2022, 56, 71. (Link zur Quelle)
  2. https://www.medscape.com/viewarticle/992518 (Zugriff 3.6.2023). (Link zur Quelle)
  3. Pierce, J.B., et al.: JAMA Cardiol. Online-Publikation 22.5.2023: (Link zur Quelle)
  4. AMB 2017, 51, 07a. (Link zur Quelle)
  5. AMB 2019, 53, 79a. (Link zur Quelle)
  6. AMB 2021, 55, 95. (Link zur Quelle)
  7. AMB 2019, 43, 43. (Link zur Quelle)
  8. https://www.akdae.de/arzneimittelsicherheit/bekanntgaben/newsdetail/atypische-diabetische-ketoazidosen-im-zusammenhang-mit-sglt-2-hemmern-gliflozine-aus-der-uaw-datenbank (Zugriff 3.6.2023). (Link zur Quelle)
  9. https://www.dchft.nhs.uk/wp-content/uploads/2022/02/Sick-Day-Rules-for-people-with-Type-2-Diabetes.pdf (Zugriff 3.6.2023) (Link zur Quelle)
  10. https://www.sgedssed.ch/diabetologie/sick-day-rules-card (Zugriff 3.6.2023) (Link zur Quelle)
  11. Douros, A., et al.: Ann. Intern. Med. 2020, 173, 417. (Link zur Quelle)
  12. McMurray, J.J.V., et al. (DAPA-HF = DAPAgliflozin and prevention of adverse-outcomes in Heart Failure): N. Engl. J. Med. 2019, 381, 1995. https://www.nejm.org/doi/10.1056/NEJMoa1911303?url_ver=Z39.88-2003&rfr_id=ori:rid:crossref.org&rfr_dat=cr_pub%20%200pubmed. AMB 2019, 53, 83. (Link zur Quelle)
  13. Packer, M., et al. (EMPEROR-Reduced = EMPagliflozin outcome tRial in Patients with chrOnic heaRt failure with Reduced ejection fraction): N. Engl. J. Med. 2020, 383, 1413. https://www.nejm.org/doi/10.1056/NEJMoa2022190?url_ver=Z39.88-2003&rfr_id=ori:rid:crossref.org&rfr_dat=cr_pub%20%200pubmed. AMB 2021, 55, 81. (Link zur Quelle)
  14. Seki, H., et al.: A A Pract. 2022, 16, e01570. (Link zur Quelle)
  15. Cha, B.M., et al.: Transplant. Proc. 2021, 53, 2636. (Link zur Quelle)
  16. Kietaibl, A.-T., et al.: Wien. Klin. Wochenschr. 2023, 135 (Suppl. 1), 256. (Link zur Quelle)