Dr. W. aus K. schreibt: >> Ich bin Internist und Geriater. Viele meiner Patienten haben ein sehr hohes Risiko für schwere Verläufe bei COVID-19. Seit Längerem beschäftigt mich das MATH+ Behandlungsprotokoll der Front Line COVID-19 Critical Care Alliance (FLCCCA). Krankenhäuser in den USA, die das Protokoll anwenden, erzielen damit angeblich eine Letalität von nur 5-6% gegenüber den sonst angegebenen 15-30%. Das Protokoll verwendet u.a. das Antiparasitikum Ivermectin. Seit einigen Wochen wird dieser Wirkstoff überall stark propagiert. Es wird eine Metaanalyse vorgelegt, die den Nutzen in allen Phasen von COVID-19 beweisen soll, von der Prophylaxe bis zum Long-COVID-Syndrom. Ivermectin wird aber weder in den führenden Journalen noch von den deutschen Fachgesellschaften erwähnt. Werden hier unbequeme Daten unterdrückt, und was ist von dieser Therapie zu halten? >>
Antwort: >> Wir haben mehrfach über verschiedene Hoffnungsträger zur Behandlung von COVID-19 berichtet (1). Bislang hat uns nur Dexamethason überzeugt (2). Wiederholt haben wir davor gewarnt, theoretische pharmakologische Konzepte und vorläufige Forschungsergebnisse, die auf Preprint-Servern und ohne „Peer review“ veröffentlicht werden, als evidenzbasierte Ergebnisse anzusehen. Meist ist die Halbwertszeit solcher Meldungen kurz. Uns haben zahlreiche Anfragen zu Ivermectin (Ive) erreicht. Beispielhaft zeigen sie, wie wichtig es ist, auf Herkunft und Validität derartiger Informationen zu achten.
Ive ist eine Weiterentwicklung von Avermectin, ein von Erdbakterien der Gattung Streptomyces produziertes Antibiotikum, welches pharmakologisch zu den Makrolidantibiotika gezählt wird. Es hat eine große Bedeutung bei der Behandlung tropischer Infektionen (vgl. 3). Für die Entdeckung und Weiterentwicklung von Avermectin bzw. Ive haben William Campbell und Satoshi Ōmura 2015 den Nobelpreis für Medizin erhalten (4). Ive ist nicht teuer und steht auf der „Essential drug list“ der WHO (5). Es ist in oraler Formulierung für die Indikationen gastrointestinale Strongyloidiasis (Zwergfadenwurm-Infektion), lymphatische Filariose (Elefantiasis durch Wuchereria bancrofti) und Skabies (Krätze) zugelassen sowie in topischer Form zur Behandlung entzündlicher Läsionen bei (papulopustulöser) Rosazea (6). Darüber hinaus ist Ive von der FDA zur Therapie der Onchozerkose (Flussblindheit) zugelassen.
Auf der Suche nach zugelassenen Arzneimitteln, die auch bei COVID-19 wirksam sind („drug repurposing“), haben Forscher aus Australien im Juni 2020 in-vitro-Daten veröffentlicht, wonach eine einmalige Zugabe von Ive innerhalb von 48 Stunden die Zahl der Viren in einer Zellkultur 5.000-fach reduziert (7). In der Folge wurde eine Vielzahl klinischer Studien mit Ive bei COVID-19 begonnen, v.a. in warmen Ländern wie Ägypten, Argentinien, Bangladesch, Indien, Iran, Irak und Brasilien. Auf clinicaltrials.gov sind derzeit 57 Studien angemeldet, 18 davon haben den Status „completed“ (8). Keines dieser Studienergebnisse ist bislang in Pubmed® publiziert; die meisten liegen auf Preprint-Servern ohne ein „Peer review“. Die Studien sind sehr heterogen. Die Indikationen für Ive umfassen die Prophylaxe von COVID-19, die ambulante Behandlung in frühen Krankheitsphasen, die Therapie stationärer Patienten und die Behandlung des Post-COVID-Syndroms. Oft werden Therapiecocktails mit gleich mehreren Wirkstoffen und Nahrungsergänzungsmitteln verabreicht (z.B. mit Ribavirin, Doxycyclin oder Carrageen aus Rotalgen), und die Vergleichstherapien reichen von einer Standard-Behandlung über Plazebo bis hin zu diversen Therapien (Azithromycin, Hydroxychloroquin u.v.m). Ive wird oral oder als Nasenspray angewendet, und die Zahl der in den Studien eingeschlossenen Patienten reicht von 24 bis 400. Es herrscht derzeit somit ein großes Durcheinander mit erheblichen Unsicherheiten, die eine valide und systematische Bewertung nicht ermöglichen.
Die von Ihnen genannte FLCCCA hat sich im März 2020 gegründet und ist ein Zusammenschluss mehrerer Intensivmediziner mit dem Ziel, möglichst schnell effektive Behandlungsprotokolle gegen COVID-19 zu finden. Das von der FLCCCA vorgeschlagene MATH+ Protokoll wird bei stationär behandelten COVID-19-Erkrankten mit Atemproblemen angewendet und ist lediglich als Studienprotokoll publiziert (9). Es umfasst 10 verschiedene Wirkstoffe: Methylprednisolon i.v., Heparin s.c., hochdosierte Vitamine (C, B1, D), Atorvastatin, Melatonin, Zink, Famotidin und Ive (0,2 mg/kg an Tag 1 und 3). Die Gruppe gibt an, dass an den beiden Krankenhäusern in Houston/Texas und Norfolk/Virginia, die das MATH+ Protokoll regelmäßig anwenden, eine wesentlich geringere 28-Tage-Mortalität bei COVID-19 besteht als sonst auf der Welt.
MATH+ ist eine Erweiterung des sog. HAT-Protokolls (Hydrokortison, Ascorbinsäure und Thiamin), welches ebenfalls von der FLCCCA propagiert wird. Diese Behandlung wurde zuletzt in einer multizentrischen, randomisierten, plazebokontrollierten Studie an 205 Patienten mit septischem Schock geprüft und hat keinen Überlebensvorteil gegen Plazebo ergeben (vgl. 10). Das hält die führenden Köpfe der FLCCCA (Pierre Kory, Joseph Varon und Paul Marik) jedoch nicht davon ab, weiter die Werbetrommel für ihre Therapieansätze zu rühren, zuletzt vermehrt für MATH+. Dabei wird auch gerne hemdsärmelig argumentiert. So äußert Marik am 6.1.2021 gegenüber MedPage Today, dass man sich in einer Notsituation nicht in den Elfenbeinturm der Wissenschaft zurückziehen darf. Man sehe tagtäglich am Krankenbett, dass Ive wirksam und sicher ist. Deshalb seien plazebokontrollierte Studien unethisch (11). Im Dezember 2020 hat die FLCCCA eine nicht systematische Übersichtsarbeit über unzählige präklinische und einige klinische Studien mit Ive bei COVID-19 ins Netz gestellt, die seither millionenfach heruntergeladen wurde (12). Nach unserer Recherche wurde sie bislang von keiner einzigen Zeitschrift mit „Peer review“ angenommen und ist auch nicht in PubMed gelistet. Wir denken nicht, dass hier unbequeme Wahrheiten unterdrückt werden (warum auch?), sondern dass dies vielmehr auf die mangelnde Qualität des Reviews zurückzuführen ist.
Seit dem 27.12.2020 kursiert in den sozialen Medien nun auch noch ein Videoclip, in dem der klinische Pharmakologe Andrew Hill aus Liverpool eine Metaanalyse von 11 randomisierten und kontrollierten Studien mit Ive bei insgesamt 1.456 Studienteilnehmern präsentiert. In den Behandlungsarmen mit Ive beträgt die Mortalität demnach 5% (8 von 573) und in den Kontrollgruppen 17% (44 von 510). Er errechnet einen potenziellen Überlebensvorteil durch Ive von 83% (13). Richtigerweise benennt er aber viele inhaltliche und formale Einschränkungen in diesen Studien und verweist auf größere RCT, die in den nächsten Wochen hinzukommen werden. Bisher (Stand 7.2.2021) sind von diesen aber noch keine Ergebnisse publiziert. Auch das COVID-19 Treatment Panel der National Institutes of Health der USA (NIH) hat sich zuletzt am 14.1.2021 mit Ive befasst (14). Es kam zu dem Schluss, dass es derzeit nicht genügend Daten gibt, um sich für oder gegen die Behandlung mit Ive bei COVID-19 auszusprechen. Die meisten Studien seien mangelhaft oder unvollständig publiziert und wiesen teilweise erhebliche methodische Mängel auf, die mit einem hohen Risiko für Verzerrungen einhergehen (vgl. 15). Das ist auch unser Eindruck.
Zu den Nebenwirkungen von Ive zählen u.a. Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, transiente Eosinophilie, Leberfunktionsstörungen einschließlich akuter Hepatitis, Hyperbilirubinämie und Hämaturie. Von einer Anwendung bei COVID-19 außerhalb klinischer Studien ist wegen unklarer Nutzen-Risiko-Relation derzeit definitiv abzuraten. >>
Literatur
- AMB 2021, 55, 08 Link zur Quelle . AMB 2020, 54, 95 Link zur Quelle . AMB 2020, 54, 80 Link zur Quelle . AMB 2020, 54, 72. Link zur Quelle AMB 2020, 54, 37 Link zur Quelle . AMB 2020, 54, 25. Link zur Quelle
- AMB 2020, 54, 79. Link zur Quelle
- AMB 2003, 37, 25. Link zur Quelle
- Nobelpreise 2015: Ein Medizinnobelpreis für Medizin – Spektrum der Wissenschaft
- WHO Model Lists of Essential Medicines
- Driponin 3mg Tabletten Fachinformation (infectopharm-docs.com)
- Caly, L., et al.: Antiviral Res. 2020, 178, 104787.
- https://clinicaltrials.gov/ct2/results ?recrs=&cond=Covid19&term=ivermectin&cntry =&state=&city=&dist= Link zur Quelle
- Kory, P., et al.: J. Intensive Care Med. 2021, 36, 135. Link zur Quelle
- AMB 2020, 54, 81. Link zur Quelle
- What’s Behind the Ivermectin-for-COVID Buzz? Link zur Quelle
- Review of the Emerging Evidence Supporting the Use of Ivermectin in the Prophylaxis and Treatment of COVID-19 – updated Jan 12, 2021 (covid19criticalcare.com)
- Ivermectin meta-analysis by Dr. Andrew Hill – YouTube. Heruntergeladen am 27.12.2020.
- https://www.covid19treatmentguidelines.nih.gov/statement-on-ivermectin/ Link zur Quelle
- arznei-telegramm 2021, 52, 6. Link zur Quelle