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Neuere Therapieformen der Multiplen Sklerose

Zusammenfassung: Neben der Behandlung akuter Schübe der Multiplen Sklerose (MS) mit hochdosierten Kortikosteroiden ist nach den Ergebnissen kontrollierter Studien eine Milderung des Verlaufs in der schubförmigen Krankheitsphase durch Interferon beta-1b und beta-1a sowie vermutlich auch durch Copolymer 1 und Immunglobuline möglich. Ein überzeugender Einfluß auf das Fortschreiten der krankheitsbedingten Behinderungen konnte aber bislang in keiner Studie gezeigt werden. Längere Nachbeobachtungen sind erforderlich. Eine immunmodulierende Behandlung ist nur bei sicher diagnostizierter, schubförmiger MS indiziert. Derzeit werden zahlreiche multizentrische Studien zur Behandlung der MS mit den o.g. Substanzen durchgeführt. Weitere Ergebnisse werden bald verfügbar sein und zeigen, ob und inwieweit die MS nun tatsächlich besser zu behandeln ist. In der Zwischenzeit ist eine kritische, fachärztliche Indikation für eine immunmodulierende Therapie wichtig, auch um die Behandlungskosten in einem vertretbaren Rahmen zu halten. Das Risiko-Nutzen-Verhältnis dieser nicht nebenwirkungsarmen Therapieformen muß fortlaufend individuell überprüft werden.

Die Multiple Sklerose (MS) ist in Europa und Nordamerika die häufigste chronisch-entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS). Sie betrifft in Deutschland etwa 100000 Menschen. Die Ätiologie der MS konnte bis heute nicht aufgeklärt werden. Es wird aber allgemein akzeptiert, daß es sich um eine T-Zell-vermittelte Autoimmunerkrankung handelt, die Menschen mit einer spezifischen genetischen Disposition trifft. Aktivierte myelinspezifische T-Zellen sind dabei in der Lage, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und im ZNS eine lokale Entzündung hervorzurufen. Die aktivierten T-Zellen sezernieren im Entzündungsherd proinflammatorische Zytokine, insbesondere Interferon gamma und Tumor-Nekrose-Faktor alpha. Diese Zytokine und Makrophagen unterhalten und verstärken die Entzündungsreaktion der Myelinscheiden (1).

Verlaufsformen der MS: Klinisch werden folgende Verlaufsformen unterschieden: Schubförmiger Verlauf mit kompletter oder inkompletter Remission; schubförmiger Verlauf mit kontinuierlicher Progression; primär bzw. sekundär (initial schubförmig) progredienter Verlauf. Bei etwa 80% der Patienten beginnt die Symptomatik mit einem akuten Schub. Die Symptome bei akuten Schüben bilden sich anfangs oft komplett zurück; im weiteren Verlauf entstehen progrediente Restbehinderungen. Bei länger bestehender Erkrankung sind häufig keine Schübe mehr abgrenzbar bzw. sie werden nicht mehr wahrgenommen. Es kommt vielfach zum Übergang in eine sekundär progrediente Verlaufsform. Bei weniger als 20% der Patienten findet sich primär ein chronisch-progredienter Verlauf. Die Wirksamkeit der neueren immunmodulierenden Therapieformen ist nur für die schubförmig-remittierenden Verlaufsformen belegt, während die anderen Verlaufsformen, insbesondere die primär chronisch-progrediente, bislang als weitgehend therapieresistent angesehen werden. Die Magnetresonanz-Tomographie (MRT) ergänzt die klinischen Kriterien und hilft bei der Differenzierung von Verlaufstypen. So wird z.B. bei primär chronisch-progredienten Verlaufsformen der MS selten ein Kontrastmittel-Enhancement beobachtet.

Methodische Probleme bei der Bewertung von Therapien: Zuverlässige Aussagen über die Wirkung einer Therapie bei MS sind nur von großen, plazebokontrollierten, doppeltblind durchgeführten Studien zu erwarten. Der stark variierende natürliche Verlauf mit häufigen Spontanremissionen verbietet Beurteilungen aus Untersuchungen ohne randomisierte Vergleichsgruppe. Andererseits finden sich teilweise ausgeprägte Plazebo-Effekte. Auch die neurologische Befunderhebung ist stark von der Mitarbeit der Untersuchten und der Erwartungshaltung der Untersucher abhängig. Trotz berechtigter Kritik hat sich zur Dokumentation des neurologischen Defizits die sogenannte Kurtzke-Skala (EDSS = Expanded Disability Status Scale) durchgesetzt. Es handelt sich dabei um eine quantitativ-klinische Skala in Punktwerten von 1 bis 10. Eine steigende Punktzahl entspricht einer zunehmenden Behinderung. Die Stadien 1 bis 3,5 bezeichnen ein geringes Ausmaß der Behinderung mit minimalen Auswirkungen auf das Alltagsleben. Die Punkte 4 bis 6,5 bedeuten eine zunehmende Einschränkung der Gehfähigkeit mit zunehmender Unselbständigkeit. Die Punktwerte 7,0 bis 9,5 beinhalten eine zunehmende Beschränkung auf Bett, Stuhl und Rollstuhl bzw. ab Punkt 9 die vollkommene Hilflosigkeit (2).

Untersuchungen mit der Magnetresonanz-Tomographie (MRT) haben gezeigt, daß sowohl Beschwerden als auch Symptome von MS-Patienten die organische Krankheitsaktivität nur ungenügend erkennen lassen. In Abhängigkeit von der untersuchten Gruppe waren in seriellen MRT-Untersuchungen neu gefundene Herde im Verhältnis 3-10:1 häufiger als klinische Aktivitätszeichen (3). In zunehmendem Maße wird daher die serielle MRT zur Einschätzung der Therapiewirksamkeit im Sinne einer „Surrogatvariablen“ eingesetzt und anerkannt. Dabei dient die T2-gewichtete MRT zum Abschätzen des Läsionsvolumens und die Gadolinium-MRT zum Beurteilen der Störungen der Blut-Hirn-Schranke.

Entsprechend den klinischen Symptomen sind unterschiedliche Therapieziele zu formulieren:
1. Die Behandlung des akuten Schubes.
2. Die Verminderung der Schubrate.
3. Die Verlangsamung der Progression.

Therapien, die direkt zu einer Besserung vorhandener Störungen, d.h. zur Remyelinisierung führen, gibt es bisher nicht, wenn auch das wachsende Verständnis über die Steuerung der Remyelinisierung Fortschritte in Aussicht stellt.

Die Behandlung des akuten Schubes: Die unspezifische immunsuppressive Behandlung mit Kortikosteroiden hat seit langem ihren festen Platz in der Behandlung des akuten Schubes bei MS. Schon früh konnte gezeigt werden, daß Kortikosteroide oder ACTH die Schubdauer verkürzen (4,5). Der Grad der Remission und damit die Krankheitsprogression wird hingegen nicht beeinflußt. Aufgrund des breiteren Nebenwirkungsspektrums und der inkonstanteren Wirkung bei Patienten mit MS wurde inzwischen ACTH als Therapie verlassen. Kleinere Studien ließen vermuten, daß hochdosiertes Methylprednisolon schneller und besser wirkt als andere Kortikosteroide (6). In einer kürzlich publizierten, großen prospektiven Kortikosteroid-Behandlungsstudie bei isolierter Optikus-Neuritis (7) wurden 457 Patienten randomisiert drei Behandlungsarmen zugeordnet. 1. Methylprednisolon i. v. 250 mg alle 6 Stunden 3 Tage lang, gefolgt von 11 Tagen Prednisolon oral (1 mg/kg KG), 2. Prednisolon oral (1 mg/kg KG) 14 Tage lang oder 3. Plazebo 14 Tage lang. Die Remission der Sehkraft trat signifikant früher in der i.v. Methylprednisolon-Gruppe ein. Die alleinige orale Gabe von Prednisolon hatte keinen Einfluß auf die Schubdauer. Gegenüber Plazebo war sogar im weiteren Verlauf eine Zunahme der Rezidive und ein häufigerer Übergang in eine klinisch sichere MS erkennbar. Patienten in der i.v. Methylprednisolon-Gruppe hatten ein niedrigeres Risiko, eine manifeste MS nach 2 Jahren zu entwickeln (7,5% vs. 14,7% in der Plazebo-Gruppe und 16,7% in der Prednisolon-Gruppe). Angesichts dieser Ergebnisse hat ein amerikanisches Expertengremium die Empfehlung ausgesprochen, Patienten mit Opticus-Neuritis, insbesondere bei positivem MRT-Befund, initial hochdosiert mit Methylprednisolon i.v. zu behandeln (8). Eine gegenwärtig laufende kontrollierte Studie geht nun der Frage nach, ob eine hochdosierte i.v. Gabe von Methylprednisolon auch beim akuten Schub einer manifesten MS den Krankheitsverlauf günstig beeinflußt. Möglicherweise ist die Kortikosteroid-Therapie wirksam, besonders wenn kontrastmittelaufnehmende Läsionen im MRT nachzuweisen sind (10, 11). Ob bei manifester MS Wirksamkeitsunterschiede bei unterschiedlichen Darreichungsformen von Methylprednisolon bestehen, ist nicht geklärt. In einer jüngst publizierten kleineren randomisierten Studie von D. Barnes et al. bei 80 Patienten mit akutem MS-Schub fanden sich keine Unterschiede im Kurtzke-lndex nach 4 bis 24 Wochen zwischen hochdosierter i.v. (1 g/d 3 Tage lang) und mittelhoch dosierter oraler Methylprednisolon-Gabe (48 mg/d 7 Tage lang, danach 24 mg/d 7 Tage lang, danach 12 mg/d 7 Tage lang; 9).

Bis zum Vorliegen größerer vergleichender Untersuchungen ist derzeit eine i.v. Gabe von Methylprednisolon vorzuziehen. Eine Übereinkunft bezüglich der Dosierung besteht nicht. Meist werden 500-1000 mg Methylprednisolon i.v. 3 bis 7 Tage lang verabreicht, gefolgt von Prednisolon oral (initial 100 mg/d, dann in absteigender Dosis über 2 Wochen). Bei Krankheitsprogression ohne Schübe ist die Wirkung einer hoch dosierten i.v. Steroid-Therapie umstritten und – wenn nachweisbar – nur von kurzer Dauer (5). Eine Dauerbehandlung mit Steroiden ist für alle Verlaufsformen abzulehnen.

Beeinflussung von Schubrate und Progression: Interferone (IFN): Sie sind eine Gruppe von antiviralen Proteinen, die in infizierten eukariontischen Zellen gebildet werden. Unterschieden werden drei Gruppen: INF alfa, INF beta und INF gamma. Proteinvarianten innerhalb dieser INF-Gruppen werden zusätzlich mit einer Zahl und einem Buchstaben gekennzeichnet. Während alle drei INF synergistische antivirale und antiproliferative Aktivität haben, finden sich antagonistische immunmodulatorische Effekte bei Typ-1- und Typ-2-IFN. Die Behandlung mit INF gamma bei 18 Patienten mit einer schubweise remittierenden Form einer MS führte zu einer höheren Schubfrequenz (12), während die bisher vorliegenden Studien mit INF beta und teilweise INF alfa (13) günstige Ergebnisse zeigten. Zur Behandlung der schubförmigen MS stehen derzeit zwei Beta-INF zur Verfügung.

INF beta-1b: INF beta-1b (Betaferon) ist ein nichtglykosyliertes, rekombiniertes Produkt, das in Zellkulturen von E. coli synthetisiert wird. Die Zulassung für INF beta-1b zur Behandlung der schubförmigen MS, die in den USA 1993 und in Deutschland 1996 erfolgte, stützt sich im wesentlichen auf die Ergebnisse einer großen randomisierten, doppeltblinden, plazebokontrollierten Studie (14). Eingeschlossen wurden 372 Patienten mit milder und mittelschwerer, schubförmig verlaufender MS (EDSS-Score < 5,5; > 2 Schübe in den letzten 2 Jahren). Die Patienten erhielten in drei Behandlungsarmen entweder 8 Mio. IE (250 pg) INF beta-1b oder 1,6 Mio. IE (50 pg) INF beta-1b oder Plazebo. Die Patienten injizierten sich das Medikament jeden 2. Tag selbst s.c. Nach der eigentlichen Studienphase von 2 Jahren war die Option gegeben, die Studiendauer doppeltblind zu verlängern; die maximale Behandlungsdauer betrug dann 5,5 Jahre. Insgesamt zeigten sich dosisabhängig verschiedene positive Behandlungseffekte unter dieser Therapie (Tab. 1). Allerdings fanden sich keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich des gesamten neurologischen Defizits, gemessen mit der EDSS-Skala. Darüber hinaus waren die Gruppenunterschiede im Hinblick auf die Schubrate (bei geringerer Patientenzahl) nach 5 Jahren nicht mehr signifikant. In diesem Kontext sind die Ergebnisse der begleitenden MRT-Verlaufsuntersuchungen von besonderer Bedeutung. Sowohl die Zahl als auch die Fläche neuer Läsionen waren in den T2-gewichteten kranialen Kernspintomogrammen unter der höher dosierten INF-Behandlung deutlich reduziert. Dieser signifikante Vorteil war auch nach 5 Jahren nachzuweisen. Es bleibt jedoch festzuhalten, daß die klinisch relevanten Wirkungen in dieser Studie nach 5 Jahren nicht groß waren.

Möglicherweise werden die positiven INF-Wirkungen zu einem erheblichen Teil durch die Bildung von Antikörpern gehemmt; 38% der mit INF beta-1b behandelten Patienten bildeten innerhalb von 3 Jahren Antikörper. Die Schubrate unterschied sich bei diesen Patienten nach 2 Jahren nicht signifikant von der Plazebo-Gruppe (1,08 bzw. 1,06 Schübe/Jahr). Bei Patienten ohne neutralisierende Antikörper lag die Schubrate bei nur 0,56/Jahr. Die häufigste Nebenwirkung von IFN beta-1b war eine milde Lymphozytopenie (bei 80% der Hochdosisgruppe mindestens einmal auftretend). Grippeähnliche Symptome hatten 52% der Patienten in der Hochdosisgruppe. Diese Beschwerden traten gewöhnlich in den ersten 4 Stunden nach der Injektion auf; sie ließen sich durch vorherige Einnahme von nichtsteroidalen Antiphlogistika oder Paracetamol deutlich lindern. Insgesamt nahmen die grippeähnlichen Beschwerden mit der Dauer der Behandlung ab, waren aber bei 3 bis 8% der Patienten noch bis ins 5. Behandlungsjahr vorhanden. Patienten, die mit Fieber reagierten, hatten häufiger eine kurzfristige Verschlechterung der Symptome nach Beginn der IFN-Therapie. Hautreaktionen an der Einstichstelle fanden sich in der Hochdosisgruppe anfangs bei 80% der Patienten, und bei bis zu 50% war dies auch noch nach 5 Jahren der Fall. Bei bis zu 3% der Patienten kam es zu einmaligen Nekrosen an der Einstichstelle, die in Einzelfällen plastisch gedeckt werden mußten. Symptome von Depressionen nahmen bei allen 3 Gruppen mit der Behandlungsdauer ab. Im ersten Jahr traten sie bei 16,9% Patienten in der Hochdosisgruppe, aber auch bei 14,6% der Patienten in der Plazebo-Gruppe auf. Suizidversuche (drei unter Behandlung mit 1,6 Mio. E., zwei unter 8 Mio. E.) und ein Suizid (1,6 Mio. E.) gab es allerdings nur in den INF-Gruppen.

INF beta-1a: Bei INF beta-1a (Avonex) handelt es sich um ein glykosyliertes, rekombinantes Genprodukt, das mit Hilfe von Ovarialzellen des chinesischen Hamsters gewonnen wird. Die Zulassung von INF beta 1a zur Behandlung der schubförmigen MS (1996 in den USA, 1997 Deutschland) basiert im wesentlichen auf einer 1996 publizierten großen Doppeltblindstudie von L.D. Jacobs et al. (15). In dieser Studie erhielten 301 Patienten mit schubförmiger MS und mindestens 2 dokumentierten Schüben während der letzten 2 Jahre randomisiert INF beta-1a oder Plazebo. INF beta-1a wurde einmal wöchentlich in einer Dosis von 6 Mio. I.E. (30 µg) i.m. injiziert. Zur Reduktion der Nebenwirkungen wurden vor und 24 Stunden nach jeder Injektion 650 mg Paracetamol verabreicht. Die Behandlungsdauer betrug 2 Jahre. Der primäre Endpunkt war die Zeitdauer bis zur klinischen Verschlechterung, gemessen durch Verschlechterung um einen EDSS-Punkt. Die Verschlechterung mußte mindestens 6 Monate anhalten, um transiente Verläufe nicht mitzubewerten. Wegen sehr guter Compliance und niedriger „Drop-out-Rate“ konnte die Studie ohne Minderung der statistischen Aussagekraft ein Jahr früher als geplant beendet werden. Der Anteil der Patienten mit Verschlechterung um einen EDSS-Punkt betrug in der Plazebo-Gruppe 34,9% und in der Verumgruppe 21,9% (p = 0,02). Unter den Patienten, die 2 volle Jahre in der Studie behandelt wurden, hatten 29 von 87 in der Plazebo-Gruppe und 18 von 85 in der IFN-beta-1a-Gruppe eine anhaltende Krankheitsprogression. Der EDSS-Score nahm insgesamt nach 2 Jahren um 0,02 Punkte in der Verum-Gruppe und um 0,61 Punkte in der Plazebo-Gruppe zu. Die jährliche Schubrate betrug insgesamt 0,82 in der Plazebo-Gruppe und 0,67 in der INF-beta-1a-Gruppe (p = 0,04). Für die Patienten mit vollständiger zweijähriger Behandlung war der Unterschied ausgeprägter (0,90 vs. 0,61; p = 0,002). Das Läsionsvolumen im T2-gewichteten MRT lag nur im ersten Jahr in der mit INF beta-1a behandelten Gruppe signifikant niedriger. Im Gadolinium-MRT zeigte sich hingegen ein signifikant geringeres Ausmaß der Störungen der Blut-Hirn-Schranke in der Verum-Gruppe.

Grippeähnliche Symptome hatten 61% der Patienten in der Verum- und 40% in der Plazebo-Gruppe. Unerwünschte Reaktionen an der Injektionsstelle und Depressionen wurden etwa gleich häufig in beiden Gruppen beobachtet. Es kam zu einem Suizidversuch in der Plazebo-Gruppe.

Insgesamt scheint diese Studie zu zeigen, daß systemisch verabreichtes INF beta-1a das Fortschreiten einer anhaltenden neurologischen Behinderung etwas verlangsamen kann bei tendenziell etwas günstigerem Nebenwirkungsprofil als bei INF beta-1b. Der Therapieeffekt kann aber sehr leicht überbewertet werden: Obwohl die Studie auf die Erfassung des Fortschreitens einer Behinderung ausgerichtet war, wurden nur Patienten mit einem EDSS-Score zwischen 1,0 und 3,5 eingeschlossen. Dieser Teil der Skala mißt mehr „Beeinträchtigung“ als Behinderung. Auch bei ausgezeichneter Methodik, wie in dieser Studie, sind Punktdifferenzen von 1,0 in diesem Bereich der Skala an der Grenze der Erfaßbarkeit. Ein differenzierter Vergleich zwischen den bisher vorliegenden INF-Studien ist aufgrund der erheblichen Unterschiede in Dauer, Design und Auswahl der Patienten nicht möglich.

Copolymer 1 (COP- 1, Glatiramerazetat): Es handelt sich um ein Polymerisat aus L-Alanin, L-Glutamat, L-Lysin und L-Tyrosin, das Ähnlichkeiten mit einem wesentlichen Bestandteil der Myelinscheide, dem basischen Myelinprotein-Molekül, hat. Die Vorstellung bei der Therapie mit COP-1 ist, daß aufgrund der Ähnlichkeiten mit einem möglichen Autoantigen gegenregulatorische Suppressormechanismen aktiviert und Antigenbindungsstellen für T-Zellen kompetitiv blockiert werden. Die klinischen Ergebnisse mit dieser schon seit den 70er Jahren diskutierten Substanz waren initial widersprüchlich. Eine kleinere Studie bei leicht betroffenen Patienten hatte eine geringere Schubrate im Vergleich zu Plazebo gezeigt (16). Eine weitere Studie bei 106 Patienten mit weiter fortgeschrittener MS zeigte gegenüber Plazebo keinen Effekt (17). 1995 wurden die Ergebnisse einer großen, randomisierten, doppeltblinden, plazebokontrollierten Studie von Johnson, K.P., et al. zu COP-1 publiziert (18). Eingeschlossen wurden 251 Patienten mit manifester MS und einem EDSS unter 5,0. Primärer Endpunkt war die Schubrate. Nach 2 Behandlungsjahren betrug die mittlere Schubrate in der COP-1-Gruppe 1,19 und in der Plazebo-Gruppe 1,68 (p = 0,007). Der positive Effekt der COP-1-Therapie verstärkte sich mit der Studiendauer. Am meisten profitierten aber jene Patienten, die kaum behindert waren, d.h. einen EDSS-Ausgangswert bis 2,0 hatten. Die Krankheitsprogression war ein sekundärer Endpunkt der Untersuchung. Es fand sich nur eine marginale Beeinflussung des EDSS-Ausgangswertes durch COP-1-Behandlung im Vergleich zu Plazebo (-0,05 vs. +0,21; p = 0,023). Einen anhaltenden Anstieg des EDSS-Wertes um mindestens einen Punkt hatten 24,6% der Patienten in der Plazebo-Gruppe und 21,6% in der COP-1-Gruppe; die Differenz war nicht signifikant. Die Verträglichkeit von COP-1 ist gut. Nebenwirkungen an inneren Organen oder Veränderungen von Laborparametern sind bisher nicht aufgetreten. Die Patienten spritzen sich selbst täglich 20 mg COP-1 s.c. Hautreaktionen mit Rötung und Schmerz an der Einstichstelle sind allerdings häufig. In der Studie von Johnson (18) hatten 64% der Patienten solche Hautreaktionen. Hautnekrosen wurde jedoch nicht beschrieben. Es ist zu vermuten, daß durch diese häufige und auffällige Nebenwirkung die Studie teilweise entblindet wurde. Bei etwa 15% der Patienten tritt einmalig oder mehrmals eine sogenannte „systemische Postinjektionsreaktion“ auf, die an eine Hyperventilation erinnert und nach spätestens 20 Minuten folgenlos abklingt. Insgesamt erscheint COP-1 bezüglich der Beeinflussung der Schubrate vergleichbar wirksam zu sein wie die Therapie mit INF. Vor einer breiten Anwendung der Substanz sollten jedoch weitere Daten zur Beeinflussung der Krankheitsprogression abgewartet werden. COP-1 ist in den USA und seit kurzem auch in Deutschland zur Behandlung der schubförmigen MS zugelassen.

Immunglobuline: Erst kürzlich berichteten im Lancet F. Fazekas et al. aus Wien über die Ergebnisse der ersten großen, randomisierten, plazebokontrollierten Studie zur Wirkung von hochdosiertem Immunglobulin bei Patienten mit schubförmiger MS (19; s.a AMB 1997, 31, 62a). Eingeschlossen wurden 150 Patienten mit einem EDSS-lndex zwischen 1,0 und 6,0. Jeweils 75 Patienten erhielten wöchentliche Immunglobulin- oder Plazebo-Injektionen insgesamt 2 Jahre lang. Der EDSS-Wert nahm in der mit lmmunglobuIin behandelten Gruppe um 0,23 Punkte ab und in der Plazebo-Gruppe um 0,12 zu (p = 0,008). Eine Krankheitsprogression wurde entsprechend seltener unter lmmunglobuIin-Gabe beobachtet (16% vs. 23%). Die Verträglichkeit der Immunglobulin-Therapie war gut; nur bei 2 Patienten traten Hautveränderungen auf. Weitere Studien mit Immunglobulinen sind erforderlich, um die optimale Dosis und das optimale Dosierungsintervall zu ermitteln. Randomisierte Studien sollten dann die Wirksamkeit im Vergleich mit INF und COP-1 bewerten.

Andere Therapien: Eine Vielzahl anderer Substanzen wurde zur Behandlung der MS klinisch eingesetzt und geprüft. Studien mit Cyclophosphamid, Mitoxantron und Ciclosporin A zeigten nur relativ geringe Effekte auf Schubrate und Krankheitsprogression. Die erhebliche Toxizität läßt einen weiteren Einsatz dieser Substanzen, auch bei besonders aktivem Verlauf der MS, bei den jetzt vorhandenen Alternativen problematisch erscheinen. Zu Azathioprin gibt es aus einigen früheren Therapieprüfungen Hinweise auf eine schubreduzierende Wirkung (20). Das Nebenwirkungsspektrum ist für eine immunsuppressive Substanz relativ günstig, und es liegen auch langjährige klinische Erfahrungen vor. Eine vergleichende Behandlungsstudie mit Azathioprin und INF ist derzeit in Planung (ERAZMUS: EaRly AZathioprin versus Interferon beta treatment in MUltiple Sclerosis). Bei Patienten, die mit Azathioprin behandelt werden und keine oder nur seltene Schübe haben, sollte die Therapie bis zum Vorliegen weiterer Ergebnisse beibehalten und nicht auf die neueren Substanzen umgestellt werden.

Bei der chronisch-progredienten Verlaufsform der MS konnte die klinische Progression der Erkrankung in einer neueren Untersuchung durch eine Behandlung mit niedrigdosiertem Methotrexat (7,5 mg) günstig beeinflußt werden (21). In einer Folgeuntersuchung konnte auch eine Abnahme der Läsionen im MRT nachgewiesen werden (22). Auch hier ist anzumerken, daß aufgrund der breiten Anwendung von Methotrexat in der Rheumatologie (s.a. AMB 1995, 29, 80; 1996, 30, 35) ausgedehnte Erfahrungen hinsichtlich der Nebenwirkungen vorliegen. Eine Reihe neuerer gezielterer immunmodulatorischer Therapieformen, wie z.B. die T-Zell-Vakzination, befinden sich in klinischer Prüfung. Ausreichende Daten zur Bewertung der Wirksamkeit liegen jedoch noch nicht vor.

Vergleichende Bewertung: Die Zulassungsstudien für beide INF und COP-1 sind in Dauer, Design und Patientenauswahl so unterschiedlich, daß ein differenzierter Vergleich zwischen den Therapien nur ansatzweise möglich ist. Die wesentlichen Eigenschaften der Substanzen sind in Tab. 3 vergleichend dargestellt.

Beide INF und COP-1 haben in den vorliegenden Studien die Schubrate um etwa ein Drittel reduziert; allerdings waren die Schubraten insgesamt, auch unter Plazebo, sehr niedrig. Eine Verlängerung der Zeit bis zur ersten Exazerbation wurde nur für INF beta-1b gezeigt. MRT-Befunde belegen für beide INF, daß auch das Ausmaß der Entzündungsherde im Nervensystem im Vergleich zu Plazebo verringert bleibt. Ein überzeugender günstiger Einfluß auf das Fortschreiten der Behinderung konnte bislang in keiner INF-Studie gezeigt werden; hier sind längere Nachbeobachtungen erforderlich. Die Daten zu COP-1 und Immunglobulinen sind diesbezüglich noch spärlich. Die deutlicher beeinflußte Schubrate wird von einigen Kritikern als klinisch nicht valider Parameter gewertet. Eine reduzierte Schubrate könnte auch durch einen Ubergang in einen chronisch-progredienten Verlauf zustande kommen. Somit bleibt unklar, ob die neuen immunmodulatorischen Therapien auch die Langzeitprognose beeinflussen und wie lange die Therapie bei weiterer Krankheitsaktivität fortgeführt werden sollte.

Eine Überlegenheit eines der beiden INF-Präparate ist derzeit nicht ausreichend zu belegen (s.a. 23). Die Gründe, aus denen sich Patienten in den USA für das eine oder andere Präparat entscheiden, scheinen primär durch das Injektionsschema (alle 2 Tage s.c. bzw. 1mal wöchentlich i.m.) bedingt zu sein. Der Mangel an Daten zur Langzeittherapie hat dazu geführt, daß beide INF-Präparate und COP-1 nur unter „außergewöhnlichen Umständen“, mit der Auflage nachfolgender Studien, zugelassen wurden. Angesichts des Nebenwirkungsprofils wären noch striktere Zulassungsauflagen, wie z.B. für Clozapin (Leponex) angewendet, zu diskutieren gewesen. Zu klären ist in den zukünftigen Studien insbesondere die Bedeutung der Antikörper, d.h. ihr möglicher Einfluß auf die „Therapie-Response“ bzw. „-Nonresponse“. Es liegen noch keine ausreichenden Daten zur Häufigkeit der Autoantikörperbildung gegen INF beta-1a vor. Derzeit erscheint es nicht sinnvoll, eine INF-Therapie bei einem Wiederanstieg der Schubrate und vorliegenden Antikörpern weiterzuführen. Eine weitere Auflage der Europäischen Arzneimittelagentur in London (EMEA) an die INF-herstellenden Firmen zielt auf den formalen Dosisunterschied zwischen den Präparaten. Auf eine Wochendosis hochgerechnet erhalten Patienten bei INF-beta-1b-Therapie 28 Mill. I.E. und bei INF-beta-1a-Therapie lediglich 6 Mill. I.E.

Das Verhältnis von Risiko zu Nutzen einer INF-Therapie sollte bei jedem Patienten individuell abgewogen werden. Bei Patienten mit besonders aktiven oder benignen Verläufen erscheint diese Entscheidung einfacher. Bei den häufigeren, mäßig aktiven Verläufen ist die Indikation problematisch.

In jedem Falle sind die Patienten vor Beginn der Therapie eingehend darüber aufzuklären, daß die bestehenden neurologischen Defizite nicht beseitigt werden können und daß die Krankheit nicht geheilt werden kann. Eine ausführliche Einweisung in die Injektionstechnik ist zur Minimierung der Nebenwirkungen an der Injektionsstelle wichtig. Die symptomorientierte Behandlung der MS (medikamentöse Behandlung von Spastik, Harnentleerungsstörungen, Harnwegsinfektionen) sowie die Krankengymnastik hat nach wie vor große Bedeutung.

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