Zusammenfassung: Die präferenzielle Empfehlung für die Kombination ASS plus Dipyridamol (Aggrenox®) als Sekundärprophylaxe nach akutem Schlaganfall ist nicht ausreichend begründet. Zudem ist diese Kombination gegenüber ASS etwa 50fach teurer. Bei Patienten nach Schlaganfall, die nicht antikoaguliert werden müssen, ist ein Thrombozytenaggregationshemmer zwingend indiziert. Die Auswahl der Substanz ist nach UAW (Magenverträglichkeit, Kopfschmerzen), Begleiterkrankungen (Ulkusanamnese, pAVK), Compliance (ein- oder zweimalige Gabe pro Tag) und ganz wesentlich nach dem Preis zu treffen. Es gibt auch keine Studien, die nachweisen, dass es sinnvoll ist, bei einem Rezidiv-Hirninfarkt, der unter einem Aggregationshemmer aufgetreten ist, auf ein anderes Medikament zu wechseln.
Komplikationen der Arteriosklerose (Myokardinfarkt, Hirninfarkt, periphere arterielle Verschlusskrankheit) sind in einer alternden Bevölkerung häufig. Im Vordergrund der Sekundärprophylaxe dieser Folgeerkrankungen stehen Modifikationen der Thrombozytenfunktion. Derzeit sind ASS, die Kombination von ASS plus retardiertem Dipyridamol (ASS+Dip; Aggrenox®) und Clopidogrel (Iscover®, Plavix®) die im Allgemeinen eingesetzten Substanzen.
Bereits in der 3. Auflage, aber auch in der kürzlich erschienenen 4. Auflage der Leitlinien der Deutschen Neurologischen Gesellschaft, gleichzeitig Leitlinie der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (1), wird ASS+Dip zur Sekundärprophylaxe bevorzugt empfohlen, wenn das Rezidivrisiko > 4%/Jahr liegt, errechnet nach einem einfachen Risikoscore. Der angewendete Score bezieht sich auf eine Post-hoc-Subgruppenanalyse der CAPRIE-Studie (2). Da die meisten Patienten mit TIA oder Hirninfarkt über 65 Jahre alt sind und meist mehr als einen Risikofaktor für arteriosklerotische Folgekrankheiten haben, bedeutet dies praktisch eine Empfehlung von ASS+Dip für die Mehrzahl der Betroffenen. Neuerdings vertritt auch die European Stroke Organisation in einer Leitlinie die überlegene Wirksamkeit von ASS+Dip (3). Leitlinien, die von Fachgesellschaften anderer Länder erarbeitet worden sind, sind viel zurückhaltender (4, 5).
Dipyridamol ist 1959 als Koronardilatator in den USA auf den Markt gekommen. Die Substanz hat eine zusätzliche Wirkung auf Thrombozyten und ist in verschiedenen Indikationen, u.a. auch beim Hirninfarkt, schon vor über 20 Jahren ohne überzeugenden Erfolg eingesetzt worden (Übersichtsarbeit bei 6).
In der ESPS-2-Studie von 1997 (7) wurde randomisiert und doppeltblind zweimal 200 mg/d Dipyridamol retard plus zweimal 25 mg/d ASS gegen ASS zweimal 25 mg/d getestet. Die Häufigkeit von Rezidiv-Insulten war in der Gruppe mit der Kombinationsbehandlung nach zwei Jahren um absolut 3% geringer. Dies galt jedoch nicht für die Häufigkeit von Herzinfarkten und die Letalität, was schwer verständlich ist, da Hirninfarkte mit einer Letalität um 10% assoziiert sind. Da Hirninfarkte und TIA auch ein Indikator für ein erhöhtes Herzinfarktrisiko sind, sollte die Aggregationshemmung der Thrombozyten auch hier wirken. Die Abbruchraten (im wesentlichen bedingt durch Kopfschmerzen) lagen in der Gruppe der kombiniert Behandelten deutlich höher.
An der ESPS-2-Studie ist die möglicherweise bewusst so niedrig gewählte Dosis von ASS (50 mg/d) zu kritisieren, denn es bestehen Zweifel, ob diese Dosis der üblichen Dosierung von 75-300 mg/d wirkungsäquivalent ist (8). Auch ist es ethisch problematisch, dass noch ein Plazebo-Arm mitgelaufen ist, obwohl zu dieser Zeit die Wirksamkeit von ASS bereits als gesichert gelten konnte. Die Studie war zudem in die Schlagzeilen geraten, weil ein niederländischer Prüfarzt 438 Patienten frei erfunden hatte und die Firma Boehringer Ingelheim sich nicht in der Lage sah, die Prüfhonorare zurückzufordern (zitiert nach 9). Die Veröffentlichung in einer wenig bekannten Zeitschrift (7), die kaum derartige Studien publiziert, verwundert.
In der ESPRIT-Studie (10) wurde eine freie Kombination von ASS und Dipyridamol (retardiert oder unretardiert) bei Patienten mit TIA oder Hirninfarkt gegen ASS-Monotherapie in unterschiedlichen Dosierungen geprüft (offenes Design, aber verblindete Endauswertung, kein unmittelbares Industrie-Sponsoring). Nach 3,5 Jahren war die Reinfarkt-Rate in der Gruppe der kombiniert Behandelten um absolut 1% niedriger bei allerdings hoher Abbruchrate, überwiegend wegen Kopfschmerzen (> 30%). Die Ergebnisse der „Intention-to-treat-Gruppe” waren besser als die der „On-treatment-Gruppe”. Dies könnte möglicherweise daran liegen, dass die Abbrecher eine wirksamere Therapie (z.B. ASS höher dosiert oder Clopidogrel) bekommen haben. Auch zeigt sich der positive Effekt der Kombinationstherapie erst nach zwei Jahren. Das Editorial (11) zu einer Meta-Analyse (12) weist auf diese Ungereimtheiten hin, ebenso wie auf die Tatsache, dass die Meta-Analyse quantitativ ganz entscheidend durch die ESPS-2-Studie mit über 6 000 Patienten geprägt wird.
In der erst kürzlich publizierten PRoFESS-Studie (13) wurde ASS+Dip in der Sekundärprophylaxe nach Schlaganfall randomisiert gegen Clopidogrel getestet (ca. 10 000 Patienten pro Arm). Beide Therapiearme brachten weitgehend identische Ergebnisse (s. Tab. 1). In einem Editorial zu dieser Publikation zeigen D.M. Kent und D.E. Thaler (14) in einer Netzwerk-Metaanalyse aller relevanten zum Thema vorliegenden Studien unter Einschluss der Ergebnisse von PRoFESS, dass es zwischen ASS, ASS+Dip und Clopidogrel keinen relevanten oder signifikanten Wirkungsunterschied bei der sekundären Prophylaxe nach akutem Schlaganfall gibt. Sie schließen ihre statistisch aufwändigen Analysen mit der einfachen Empfehlung „Zur Prophylaxe des Schlaganfalls: Thrombozytenaggregationshemmung und Behandlung der Hypertonie.” Das „Wie” ist ihnen nicht wichtig.
Auf die finanziellen Verflechtungen zwischen der Herstellerfirma (Boehringer Ingelheim) und den Hauptautoren der Studien und dreier Meta-Analysen muss hingewiesen werden (s.a. 13, 15, 16), ebenso wie auf die Unterstützung der Deutschen Schlaganfallgesellschaft durch die Herstellerfirma.
Literatur
- Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, Thieme-Verlag, Stuttgart 2008.
- Ringleb, P.A., et al. (CAPRIE = Clopidogrel versus Aspirin in Patients at Risk of Ischemic Events): Stroke 2004, 35, 528. Link zur Quelle
- European Stroke Organisation (ESO) Executive Committee: Cerebrovasc. Dis. 2008, 25, 457. Link zur Quelle
- Sacco, R.L., et al.: Stroke 2006, 37, 577. Link zur Quelle
- Hirsch, J., et al.: Chest 2004, 126 Suppl., 172.
- Rivey, M., et al.: Drug Intell. Clin. Pharm. 1984, 18, 869. Link zur Quelle
- Diener, H.C., et al. (ESPS-2 = European Stroke Prevention Study-2): J. Neurol. Sci. 1996, 143, 1. Link zur Quelle
- Antithrombotic Trialists’ Collaboration: BMJ 2002, 324, 71. Link zur Quelle
- Meyer, F.P., Arzneimittelverordnung in der Praxis 2007, 34, 5.
- Halkes, P.H., et al. (ESPRIT = European/Australasian Stroke Prevention in Reversible Ischaemia Trial) Lancet 2006, 367, 1665. Link zur Quelle
- Norris, J.W.: Stroke 2008, 39, 1076. Link zur Quelle
- Verro, P., et al.: Stroke 2008, 39, 1358. Link zur Quelle
- Sacco, R.L., et al. (PRoFESS = Prevention Regimen For Effectively avoiding Second Strokes): N. Engl. J. Med. 2008, 359, 1238. Link zur Quelle
- Kent, D.M., und Thaler, D.E.: N. Engl. J. Med. 2008, 359, 1287. Link zur Quelle
- De Schryver, E., et al.: Cochrane-Database of Systematic Reviews 2007, Issue 3, Stand 16. Okt. 2006. Link zur Quelle
- Thijs, V., et al.: Eur. Heart J. 2008, 29, 1086. Link zur Quelle