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Perioperative Betablockade bei erhöhtem kardialen Risiko ist möglicherweise gefährlich

Es ist pathophysiologisch einleuchtend, dass perioperativer Stress die Ausschüttung von Katecholaminen steigert, somit den kardialen Sauerstoffbedarf erhöht und bei vorbestehender myokardialer Ischämie ein akutes Koronarsyndrom, einen Myokardinfarkt oder Arrhythmien begünstigen kann. Deshalb wurden in zahlreichen randomisierten kontrollierten Studien die peri- und postoperativen kardialen Ereignisse und die Letalität unter Betablockade im Vergleich zu Plazebo untersucht. Die Ergebnisse dieser Studien flossen 2009 in die Leitlinie der European Society of Cardiology (ESC) für das perioperative Management von Patienten mit erhöhtem kardialen Risiko ein (1). In einer in den Leitlinien dargestellten Metaanalyse wurde gezeigt, dass Patienten mit mittlerem und hohem kardialen Risiko von einer peri- und postoperativen Betablockade profitieren. Die Leitlinie empfiehlt daher eine prophylaktische Gabe eines Betablockers bei allen Patienten mit bekannter KHK oder myokardialer Ischämie (1B-Empfehlung) sowie bei allen Patienten mit hohem (1B-Empfehlung) und mittlerem (2B-Empfehlung) OP-Risiko und außerdem bei Patienten mit niedrigem OP-Risiko, wenn kardiovaskuläre Risikofaktoren vorliegen (2B-Empfehlung; 1). Die Ergebnisse der den Empfehlungen zugrunde liegenden Metaanalysen basierten maßgeblich auf den DECREASE-Studien. Sie waren von den Hauptautoren in einem Beitrag im Eur. Heart J. Suppl. zusammengefasst worden (2).

Vor nunmehr zwei Jahren ergab sich der Verdacht, dass die Ergebnisse der DECREASE-Studien zumindest teilweise erfunden oder gefälscht waren. Dies wird in einem im November 2011 veröffentlichten Bericht des Erasmus Medical Centers ausführlich dargestellt (3). Der Hauptverantwortliche, D. Poldermans, wurde daraufhin von seiner Tätigkeit an der Erasmus-Universität Rotterdam suspendiert (4). Die ESC reagierte außerordentlich verzögert auf die Vorfälle, was nicht verwundert, da der Vorsitzende der zuständigen Leitliniengruppe genau jener D. Poldermans war. Erst Ende 2012 trat er als Chairperson der Leitlinien-Taskforce zurück. Eine Rücknahme oder Revision der Leitlinie hat nach wie vor noch nicht stattgefunden. Die ESC gibt lediglich auf ihrer Website in einem Joint-Statement gemeinsam mit der Amerikanischen Fachgesellschaft bekannt, dass zwischenzeitlich bei jedem Patienten individuell überlegt werden soll, ob eine perioperative Betablockade erforderlich ist (5). Eine Revision der Leitlinie hat die ESC im März 2013 für August 2014 angekündigt (6).

Kürzlich wurde nun eine Metaanalyse zur perioperativen Betablockade bei Patienten mit erhöhtem kardiovaskulären Risiko unter Ausschluss der DECREASE-Studien publiziert (7). In diese Metaanalyse konnten elf qualitativ hochwertige randomisierte kontrollierte Studien eingeschlossen werden, von denen neun über Letalitätsdaten perioperativ sowie in den ersten 30 Tagen nach der Operation berichteten. In drei der Studien wurde Bisoprolol, in fünf Metoprolol, in zwei Atenolol und in einer Propranolol eingesetzt.

Von insgesamt 10.529 Patienten in der Metaanalyse erhielten 5264 Betablocker und 5265 Plazebo. In der Verum-Gruppe starben perioperativ bis 30 Tage nach der Operation 162 und in der Plazebo-Gruppe nur 129 Patienten. Dies entspricht einer Risikozunahme um 27% für peri- und postoperativen Tod unter Betablockade in dieser Metaanalyse (95%-Konfidenzintervall = CI: 1-60; p = 0,04).

Im Gegensatz hierzu hatten die DECREASE-Studien eine Risikoreduktion um 58% berichtet, sodass sich in der Metaanalyse, die den Leitlinien zugrunde gelegt wurde, insgesamt ein neutraler Effekt hinsichtlich der Letalität zeigte. Das heißt, das negative Ergebnis aller anderen vorliegenden Studien wurde durch das überaus positive Ergebnis der DECREASE-Studien verbessert. Bei der Einzelauswertung des Risikos für peri- und postoperativen Myokardinfarkt fand sich auch ohne die DECREASE-Studien ein signifikanter Effekt zugunsten der Betablockade (Relatives Risiko = RR: 0,73; CI: 0,61-0,88; p = 0,001). Hingegen kam es zu einer grenzwertig signifikanten Zunahme des Schlaganfallrisikos unter Betablockern (RR: 1,73; CI: 1,00-2,99; p = 0,05).

In der Diskussion führen die Autoren dieser Metaanalyse an, dass in einigen der Studien möglicherweise zu hohe Dosen von Betablockern verwendet wurden (z.B. bis zu 200 mg Metoprolol) oder die Dosierung nicht langsam genug titriert wurde. Es fand sich aber kein Hinweis auf eine signifikante oder klinisch relevante Heterogenität der Studien. Die Titrationsstrategie stammt ausschließlich aus den unzuverlässigen DECREASE-Studien. Nach Ausschluss dieser Studien steht dem möglichen Vorteil der peri- und postoperativen Betablockade hinsichtlich Myokardinfarkt also ein erhöhtes Letalitäts- und Schlaganfallrisiko gegenüber.

Fazit: Die derzeitigen Empfehlungen der Europäischen Leitlinie für die perioperative Versorgung von Patienten mit hohem kardialen Risiko basieren hinsichtlich der peri- und postoperativen Betablockade auf Ergebnissen aus unzuverlässigen Studien. Nach einer neuen Metaanalyse zuverlässiger Studien muss man davon ausgehen, dass dem kleinen Vorteil der Betablockade hinsichtlich peri- und postoperativer Verhinderung von Myokardinfarkten eine erhöhte peri- und postoperative Letalität sowie ein erhöhtes Schlaganfallrisiko gegenüber stehen. Die Leitlinien sind also in ihrer derzeit noch gültigen Form nicht mehr haltbar und sollten bis zu ihrer für August 2014 angekündigten Revision zurückgenommen werden.

Literatur

  1. Poldermans,D., et al.: Eur.Heart J. 2009, 30, 2769. Link zur Quelle
  2. Poldermans,D., et al. (DECREASE = Dutch Echocardiographic Cardiac RiskEvaluation Applying Stress Echocardiography): Eur.Heart J. 2009, 11 Suppl. A, A9. Link zur Quelle (Zugriffam 19.08.2013)
  3. http://www.erasmusmc.nl/… /Integrity_report_2012-10.pdf Link zur Quelle (Zugriff am 19.08.2013)
  4. http://www.erasmusmc.nl/… Link zur Quelle (Zugriff am 19.08.2013)
  5. http://www.escardio.org/… Link zur Quelle (Zugriff am 19.08.2013)
  6. http://www.escardio.org/… Link zur Quelle (Zugriff am 19.08.2013)
  7. Bouri, S., et al.: Link zur Quelle (Zugriff am 19.08.2013).