Insgesamt 310 Arzneimittelspezialitäten sind derzeit in Deutschland als nicht lieferbar gemeldet [1], davon ist knapp die Hälfte als „krankenhausrelevant“ eingestuft. Als häufigste Gründe für die Nichtlieferbarkeit werden von den pharmazeutischen Unternehmern (pU) angegeben: „Sonstige Gründe“ (30%), „Probleme in der Herstellung“ (20%), „Erhöhte Nachfrage“ (19%) und „Unzureichende Produktionskapazitäten“ (17%). In der Mehrzahl dürften die Lieferschwierigkeiten darin begründet sein, dass die pU wegen der Störungen in den Lieferketten die Wirk- und Zusatzstoffe nicht oder nur sehr unzuverlässig aus Fernost erhalten, vor allem China und Indien. Eine Änderung dieser unbefriedigenden Situation ist nicht absehbar (vgl. [2]).
Zu den betroffenen Arzneimitteln zählen u.a. viele Antibiotika, Opiate, Präparate mit Hydrochlorothiazid und seit dem Herbst auch Herzglykoside. Der pU Merck hat darüber hinaus nun angekündigt, die Produktion seiner 4 Digitoxin-Formulierungen (Digimerck® pico 0,05 mg, Digimerck® minor 0,07 mg, Digimerck® 0,1 mg Tabletten und Digimerck® 0,1 mg/ml Injektionslösung) dauerhaft einzustellen [3]. Das hat für viele, oft ältere Herzpatienten bedeutsame Konsequenzen.
Digitoxin ist in Deutschland und Österreich seit Jahrzehnten das am häufigsten verordnete Herzglykosid. Unter den Digitalis-Präparaten entfielen in Deutschland im Jahr 2021 von rund 71 Mio. „Daily Defined Doses“ (DDD) 62 Mio. DDD auf Digitoxin und nur 9,8 Mio. DDD auf Digoxin-Präparate [4]. Neben Merck gibt es noch einen weiteren pU, der in Deutschland Digitoxin vertreibt (Digitoxin AWD 0,07 von TEVA) mit einem Marktanteil von rund 43%. Es ist aber unklar, wann dieser wieder liefern kann. Solange bleibt nichts anderes übrig, als die mit Digitoxin behandelten Patienten auf ein anderes Präparat umzustellen oder die Behandlung mit Herzglykosiden ganz abzubrechen.
Die meisten Patienten nehmen Digitoxin schon seit Jahren ein. Es handelt sich überwiegend um ältere Menschen mit Vorhofflimmern (Vofli). Meist vertragen sie die in erster Linie zur Frequenzkontrolle empfohlenen Betablocker oder Verapamil bzw. Diltiazem schlecht oder nicht in den erforderlichen Dosierungen. Sie erhalten Digitoxin zusätzlich oder als Alternative. Ein kleinerer Teil erhält Digitoxin zur Behandlung einer Herzinsuffizienz mit reduzierter Ejektionsfraktion (HFrEF). Diese Indikation wird jedoch derzeit nicht durch die Herzinsuffizienz-Leitlinien gestützt (Klasse IIb). Eine vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte, multizentrische randomisierte Studie (DIGIT-HF) untersucht derzeit den Einfluss von Digitoxin auf die Mortalität und Morbidität von Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz unter moderner Herzinsuffizienztherapie [5].
Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK) hat die Problematik angesprochen und im November 2022 Handlungsempfehlungen für den Einsatz alternativer Medikamente bei unterschiedlichen Anwendungssituationen veröffentlicht [6]. Diese sind nach unserer Einschätzung praktisch sehr brauchbar und sollen hier kurz dargestellt werden.
Indikationsprüfung: Zunächst sollte geprüft werden, ob noch eine Indikation für Herzglykoside vorliegt. Diese besteht nur bei 1. unzureichend frequenzkontrolliertem Vofli trotz Einnahme von Betablockern oder bradykardisierenden Kalziumantagonisten (Verapamil, Diltiazem) in der höchsten tolerierten Dosis oder 2. bei Patienten mit fortgeschrittener HFrEF, die trotz einer möglichst vollständigen neurohumoralen Therapie (Betablocker, ACE-Hemmer/ARNI, Mineralokortikoidrezeptor-Antagonist (MRA) und SGLT2-Inhibitor) symptomatisch bleiben (NYHA II-IV). Wenn keine dieser Indikationen vorliegt, sollte Digitoxin abgesetzt werden.
Suche nach Alternativen: Bei bestehender Indikation und Lieferbarkeit kann auf Digoxin (Lanicor®) oder seine Derivate Acetyldigoxin (Novodigal®) oder Metildigoxin (Lanitop®) umgestellt werden. Als Alternative nennt die DGK auch noch das hochwirksame Klasse-III-Antiar-
rhythmikum Amiodaron, wobei dieses aus Sicht der Arzneimitteltherapiesicherheit ein problematisches Medikament ist (vgl. [7]).
Umstellung: Bei einer Umstellung auf Digoxin oder seine Derivate ist zu beachten, dass Digitoxin eine hohe Plasmaeiweiss-Bindung (90%) und eine sehr lange Halbwertszeit hat (c.a. 170 h). Es kann daher im Kontext mit anderen Arzneimitteln durchaus zu Interaktionen führen, und bei einem einfachen Austausch sind toxische Effekte möglich. Die DGK empfiehlt daher vor der Neuverordnung von Digoxin oder seinen Derivaten eine Therapiepause von 2-3 Halbwertszeiten, also von 2-3 Wochen.
Spiegelbestimmungen: Ergänzend sollen bei einer Umstellung auch Spiegelbestimmungen erfolgen: Wenn der Digitoxin-Spiegel unterhalb der therapeutischen Serumkonzentration von 8-18 ng/ml (10,5-23,6 nmol/l) liegt, kann mit Digoxin oder einem seiner Derivate begonnen werden. Als äquivalente Tagesdosis zu Digitoxin ≤ 0,07 mg wird 0,1 mg Digoxin empfohlen. Nach 7-10 Tagen sollte der Digoxin-Spiegel gemessen (Zielspiegel: 0,5-0,9 ng/ml bzw. 0,65-1,15 nmol/l) und die Dosis ggf. angepasst werden. Da Digoxin und seine Derivate zu 90% renal eliminiert werden, besteht bei eingeschränkter Nierenfunktion Akkumulationsgefahr. Häufigere Spiegelbestimmungen sind besonders bei Personen mit eingeschränkter Nierenfunktion (GFR< 60 ml/min) ratsam und besonders zu Beginn der Behandlung. Bei erhöhten Spiegeln soll die Einnahme für 2-5 Tage unterbrochen werden und nach jeder Dosisanpassung sollten nach 7-10 Tagen neuerliche Messungen erfolgen.
Absetzen: Bei Patienten mit stabiler HFrEF kann das Weglassen von Herzglykosiden durchaus problematisch sein. In zwei kleineren Studien aus den 90er Jahren kam es nach dem Absetzen von Digoxin bei ambulant behandelten Patienten mit HFrEF zu einer signifikanten Abnahme der körperlichen Belastbarkeit ([8], [9]). Beim Absetzen von Digitoxin bei Vofli ist mit einem Anstieg der Ruhe-Herzfrequenz zu rechnen und zumindest theoretisch auch mit Veränderungen an den Barorezeptor- und Kreislauf-Funktionen.
Digoxin und seine Derivate stehen auf der PRISCUS-Liste der potenziell inadäquaten Medikamente für ältere Menschen [10]. Demnach besteht im Alter generell eine erhöhte Glykosid-Empfindlichkeit und möglicherweise auch eine erhöhte Sturzneigung. Auf Grund der Pharmakokinetik sei Digoxin bei älteren Menschen und Frauen mit einer höheren Toxizität verbunden als Digitoxin.
Zur Historie der Digitalisglykoside: Digitalisglykoside werden mindestens seit dem 18. Jahrhundert zur Behandlung der Herzinsuffizienz eingesetzt. Der Legende nach soll William Withering, Arzt und Botaniker aus der Grafschaft Shropshire (Midlands in England), die Rezeptur 1775 von der Heilkundigen „Mother Hutton“ erhalten haben. Diese wendete einen Aufguss von rotem Fingerhut bei der „Wassersucht“ an. Von 1775 bis 1784 untersuchte Withering systematisch an über 160 Patienten mit “Wassersucht“ die diuretische Wirksamkeit der Inhaltsstoffe verschiedener Pflanzenteile des Fingerhuts. Diese Studien machten Withering zu einem Mitbegründer der modernen klinischen Pharmakologie und auch der „evidence-based medicine“. Er unterschied auch als Erster zwischen therapeutischen (Diurese) und toxischen (Erbrechen, Durchfall, Sehstörungen) Dosierungen von Digitalis. Es fiel ihm ebenfalls schon auf, dass sich das Pflanzengift im Körper anreicherte und die Wirkung und Nebenwirkungen bei Verabreichung über einen längeren Zeitraum zunahmen.
Im Jahr 1875 berichtete der deutsche Chemiker Oswald Schmiedeberg über die Isolierung eines eng verwandten Moleküls, das er „Digitoxin“ nannte, und stellte fest, dass es den Hauptteil von „kristallisiertem Digitalin“ bildet. Später hat Schmiedeberg alle ihm bekannten Digitalis-ähnlichen Stoffe – 19 an der Zahl, darunter das Strophanthin und Inhaltsstoffe des Oleanders, der Nieswurz und des Maiglöckchens – in eine pharmakologische Gruppe platziert, die er „Digitalin-Gruppe“ nannte. Schmiedebergs Analysen der Digitalisbestandteile lieferte die erste und bis heute noch in wesentlichen Teilen gültige Grundlage der überaus schwierigen Digitalis-Chemie.