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Aktualisierte Europäische Leitlinien zu „Chronischen Koronarsyndromen“

Zusammenfassung: Die Europäische Kardiologische Gesellschaft (ESC) hat neue Leitlinien zur chronisch-stabilen Koronaren Herzkrankheit (KHK) veröffentlicht. Ihr Wert liegt aus unserer Sicht darin, dass sie praxisbezogene und basisnahe Vorschläge zur Abklärung und Behandlung von Patienten mit KHK bzw. Verdacht auf KHK geben. Die Bedeutung einer rationalen Stufendiagnostik sowie der Modifikationen des Lebensstils und der konservativen Stufentherapie werden herausgestellt. Wichtige Interventionen wie Senkung der Lipide, antithrombotische Therapie und Revaskularisationsmaßnahmen werden in ihrem Zusammenwirken dargestellt. Aus unserer Sicht hätten jedoch die – auch nach neueren Studien – begrenzte Evidenz zur koronaren Revaskularisation (katheterinterventionell versus bypasschirurgisch) sowie die fragwürdigen, extrem niedrigen LDL-Cholesterin-Zielwerte der ESC-Leitlinien und auch die neueren antianginösen Arzneimittel (noch) kritischer dargestellt werden müssen.

Im Jahr 2019 wurden von der Europäischen Kardiologischen Gesellschaft aktualisierte Leitlinien zum Management der stabilen koronaren Herzkrankheit (KHK) vorgestellt, die die Vorversion von 2013 ersetzen. Die Leitlinien sind im Netz frei verfügbar (1). Wir geben hier einen kurzen und kritischen Überblick über die zentralen Inhalte und Neuerungen mit besonderem Bezug auf die Arzneimitteltherapie.

Gleich im Titel der Publikation wird einer neuer Terminus eingeführt: Analog zum „Akuten Koronarsyndrom“ (ACS) wird statt des Begriffs „Stabile KHK“ nun die Sammelbezeichnung „Chronische Koronarsyndrome“ (CCS) verwendet. Dies entspreche besser der heterogenen und „dynamischen Natur des KHK-Prozesses“, heißt es in der Einleitung. Unter „CCS“ subsummieren die Autoren dann 6 häufige klinische Szenarien, die gleichzeitig die wesentliche Gliederung der Leitlinien vorgeben. Diese umfassen nicht nur das Management bei bestätigter bzw. bekannter KHK, sondern insbesondere auch die Abklärung bei Verdacht auf KHK bei folgenden klinischen Szenarien:

  • Patienten mit KHK-Verdacht wegen stabiler Angina pectoris (AP) oder Dyspnoe,

  • Patienten mit KHK-Verdacht wegen neu diagnostizierter Herzinsuffizienz,

  • Symptomatische oder asymptomatische Patienten mit bekannter KHK < 12 Monate nach ACS oder koronarer Revaskularisation,

  • Symptomatische oder asymptomatische Patienten mit bekannter KHK > 12 Monate nach KHK-Erstdiagnose oder koronarer Revaskularisation,

  • Patienten mit AP bei Verdacht auf mikrovaskuläre oder vasospastische KHK,

  • KHK als (Zufalls-)Diagnose bei asymptomatischen Patienten.

Diese fragwürdige neue Einteilung führt dazu, dass sich unter Szenario 1 und 2 auch Patienten befinden, die gar keine KHK haben, z.B. solche mit hypertensiver Herzerkrankung oder mit einem Vitium.

Die Empfehlungen zum ersten Szenario – Patienten mit KHK-Verdacht wegen stabiler AP oder Dyspnoe – nehmen mit Abstand den größten Raum in der Leitlinie ein. Hier wird zunächst ein sechsstufiges Abklärungsschema vorgeschlagen: Die Stufen 1-4 umfassen eine basale Diagnostik, an deren Ende die Abschätzung der „klinischen KHK-Wahrscheinlichkeit“ steht, abgeschätzt nach Alter, Geschlecht, kardiovaskulärem Risikoprofil, Symptomatik, Ruhe-EKG und Echokardiographie. Abhängig von dieser Vortestwahrscheinlichkeit werden in Stufe 5 differenzierte weiterführende diagnostische Maßnahmen (s. Tab. 1) und in Stufe 6 individuelle Therapieentscheidungen empfohlen. Entsprechend neuerer Evidenz (vgl. 2) werden dem koronaren Kalzium-Score (mittels Computertomographie ermittelt) und der nicht-invasiven Ischämiediagnostik (Nuklearmedizin, Stress-Magnetresonanz-Tomographie, Stress-Echokardiographie) hohe Prioritäten eingeräumt, wohingegen das Belastungs-EKG aufgrund seiner eingeschränkten Spezifität und Sensitivität weiter an diagnostischer Bedeutung verliert.

Es folgen ein längerer Abschnitt zur Modifikation des Lebensstils und ein ausführliches Kapitel zur Arzneimitteltherapie. Letzteres umfasst drei therapeutische Zielbereiche:

  • Antianginöse Therapie: Als Arzneimittel der ersten Wahl zur Behandlung der Angina pectoris-Symptomatik werden Kalziumantagonisten und Betablocker empfohlen und als Zweitlinientherapie (neben kurz wirksamen Nitraten zur Anfallskupierung) langwirksame Nitrate, Nicorandil, Ranolazin, Trimetazidin und Ivabradin; deren Auswahl orientiert sich an individuellen Befunden, wie Herzfrequenz, Blutdruck und Funktion des linken Ventrikels (s. Tab. 2). Vor der Anwendung von Ivabradin haben wir 2014 wegen vermehrter Bradykardien dezidiert gewarnt (3), und für das wenig verwendete Trimetazidin liegt eine Warnung der EMA wegen Bewegungsstörungen vor (4). Ranolazin hat eine geringe therapeutische Breite und ein hohes Interaktionspotenzial (5). Nicorandil ist in Österreich und der Schweiz, aber nicht in Deutschland verfügbar. Generell ist daran zu erinnern, dass für kein Antianginosum eine Senkung der Letalität oder eine günstige Beeinflussung von anderen harten klinischen Endpunkten belegt ist.

  • Antithrombotische Therapie: Basistherapie in der Sekundärprophylaxe bleibt Azetysalizylsäure (ASS) bzw. die duale Plättchenhemmung nach ACS und/oder Koronarintervention. Alternativen wie niedrig dosierte Langzeittherapien mit Rivaroxaban oder Ticagrelor werden zu Recht nur am Rande erwähnt (vgl. 6, 7). Nützlich sind differenzierte Empfehlungen zur unübersichtlich gewordenen Behandlung von Patienten mit Indikation für duale Plättchenhemmung und Antikoagulation („Tripeltherapie“; vgl. 8).

  • Lipidsenkung: Die Autoren verweisen auf die ebenfalls 2019 erschienenen diesbezüglichen ESC-Leitlinien mit den in der Sekundärprävention anzustrebenden sehr niedrigen LDL-Cholesterin-Zielwerten (bis zu < 40 mg/dl), über die wir kritisch berichtet haben (9). Es wird in dieser Leitlinie allerdings die herausragende Bedeutung der Statin-Therapie betont und zurecht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass weder für Ezetimib noch für die PCSK9-Inhibitoren eine Senkung der Letalität nachgewiesen ist.

In einem kurzen Abschnitt zu den katheterinterventionellen und chirurgischen Revaskularisationstherapien (perkutane Koronarintervention = PCI; aortokoronarer Bypass = ACBP) wird die Bedeutung der Ischämie-gesteuerten Indikationsstellung unterstrichen und ebenfalls auf entsprechende Leitlinien verwiesen. Dass die Evidenz hinsichtlich des Nutzens von Revaskularisationsmaßnahmen bei stabiler KHK auch 2019 leider noch unzureichend ist und ein Vorteil gegenüber rein konservativen Maßnahmen in vielen Konstellationen als zweifelhaft angesehen werden muss (vgl. 10), wird aber kaum dargestellt. So werden die ORBITA-Studie (verblindet randomisiert; kein Endpunkt-Vorteil für PCI vs. Sham-Prozedur; 11) nur am Rande und die COURAGE-Studie (randomisiert; kein Endpunkt-Vorteil für PCI vs. primär konservative Therapie; 12) gar nicht erwähnt. Auch die Ergebnisse der kürzlich präsentierten, aber noch nicht publizierten, bislang größten randomisierten Studie zu dem wichtigen Vergleich PCI vs. primär konservative Therapie bei nachgewiesener Ischämie (ISCHEMIA), sind in den therapeutischen Bewertungen der Leitlinie nicht enthalten. Die ISCHEMIA-Studie fand ebenfalls keine Vorteile der Revaskularisation gegenüber einer optimierten konservativen Therapie bei Hochrisikopatienten. Wir werden über die Studie berichten, wenn sie publiziert ist.

Die Empfehlungen für Patienten mit bereits bekannter KHK (Szenarien 3 und 4; s.o.) enthalten eine nützliche Orientierung für die Nachsorge von Patienten mit bekannter KHK, einschließlich sinnvoller Kontrollintervalle. Auf die speziellen Konstellationen mit Herzinsuffizienz bzw. Vasospasmen (Szenarien 2 und 5) soll hier nicht eingegangen werden.

Die Leitlinien gehen auch auf die „Überdiagnostik“ ein, also wenn die Diagnose KHK bei asymptomatischen Patienten gestellt wird (Szenario 6) – z.B. als Zufallsbefund im Thorax-CT oder als Folge einer (zu) „großzügigen“ Diagnostik bei vorhandenem Risikoprofil für eine kardiovaskuläre Erkrankung. Obwohl – oder gerade weil – es zu diesem Szenario keine verlässlichen Daten zum diagnostischen und therapeutischen Procedere gibt, müssen für diese Patienten dieselben Prinzipien der Risikostratifizierung und der rationalen Indikationsstellung für therapeutische Maßnahmen gelten wie für symptomatische Patienten. Ähnliche Überlegungen gelten auch für Patienten mit malignen Erkrankungen unter potenziell kardiotoxischen onkologischen Arzneimitteln (vgl. 13), die engmaschig kardiologisch untersucht werden, und für Hochrisiko-Berufsgruppen (z.B. Piloten, Bus-/LKW-Fahrer), die sich gesetzlich vorgeschriebenen regelmäßigen kardiologischen Screening-Untersuchungen unterziehen müssen, auch wenn es für ein solches Vorgehen keine medizinische Evidenzgrundlage gibt.

Literatur

  1. Knuuti, J., et al. 2019 ESC Guidelines for the diagnosis and management of chronic coronary syndromes. Eur. Heart J. 2019. Link zur Quelle
  2. AMB 2019, 53, 57. Link zur Quelle
  3. AMB 2014, 48, 76. Link zur Quelle
  4. https://www.ema.europa.eu/documents/ referral/questions-answers-review-medicines-containing- trimetazidine-20-mg-tablets-35-mg-modified- release/ml-oral-solution_de.pdf Link zur Quelle
  5. Salazar, C.A., et al. Cochrane Database of Systematic Reviews 2017. Link zur Quelle
  6. AMB 2018, 52, 32. Link zur Quelle
  7. AMB 2015, 49, 84 Link zur Quelle . AMB 2016, 50, 58. Link zur Quelle
  8. AMB 2019, 53, 81. Link zur Quelle
  9. AMB 2019, 53, 73. Link zur Quelle
  10. AMB 2014, 48, 17. Link zur Quelle
  11. Al-Lamee, R., et al. (ORBITA = Objective Randomised Blinded Investigation with optimal medical Therapy of angioplasty in stable Angina): Lancet 2018, 391, 31. Link zur Quelle . Erratum: Lancet 2018, 391, 30. AMB 2018, 52, 13. Link zur Quelle
  12. Boden, W.E., et al. (COURAGE = ClinicalOutcomes Utilizing Revascularization and AggressiveDruG Evaluation): N. Engl. J. Med 2007, 356, 1503. Link zur Quelle. AMB 2007, 41, 39. Link zur Quelle
  13. AMB 2016, 50, 89. Link zur Quelle

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