Im November 2018 hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development = OECD) unter dem Titel „Pharmaceutical Innovation and Access to Medicines“ eine umfangreiche Studie veröffentlicht, die auf Wunsch von Frankreich und anschließend auf Veranlassung der Gesundheitsminister aus den derzeit 36 Mitgliedstaaten der OECD Lösungsansätze für die aktuellen Herausforderungen im Arzneimittelmarkt diskutiert (1). Zu diesen Herausforderungen zählt vor allem die Frage: Wie gelingt es, den Arzneimittelmarkt so zu gestalten, dass bessere Ergebnisse für Patienten, Kostenträger und Hersteller von Arzneimitteln generiert werden, und künftig ein System zu etablieren, das „die richtigen Innovationen für die richtigen Patienten zu den richtigen Preisen“ liefert? Zahlreiche Experten haben sich an diesem wichtigen Projekt der OECD beteiligt, darunter auch renommierte Spezialisten für Fragen der Gesundheitsökonomie wie Peter Bach aus New York und Peter Smith aus York, Großbritannien, und Richard Horton, dem derzeitigen Chefredakteur von Lancet.
Am Beginn des Berichts zur OECD-Studie findet sich eine Zusammenfassung mit den wesentlichen Inhalten, die anschließend in drei Kapiteln ausführlich dargestellt und durch zahlreiche Abbildungen sowie aktuelle Literaturhinweise ergänzt werden.
Im Kapitel 1 unter dem Titel „Medicines in health systems and society“ werden neue medikamentöse Therapien besprochen, die in den letzten 20 Jahren entwickelt wurden (z.B. zur Behandlung von HIV, Hepatitis C, kardiovaskulären Erkrankungen, Diabetes und seltenen Krankheiten), und auf Verbesserungen hingewiesen, die durch diese Arzneimittel hinsichtlich Verminderung der Morbidität und Mortalität erreicht werden konnten. Angesichts des heute inflationären Gebrauchs der Begriffe „Innovatives Arzneimittel“ bzw. „Innovation“ wird eingangs betont, dass nur solche neuen Arzneimittel als Innovation bezeichnet werden sollten, die zur Behandlung bisher nicht oder nur unzureichend behandelbarer Krankheiten entwickelt wurden und die besser wirksam bzw. verträglich sind als die verfügbaren Wirkstoffe oder aber Vorteile für Patienten bei der Applikation bzw. Einnahme bieten. Per se nicht als innovativ bezeichnet werden sollte demgegenüber ein neues Arzneimittel, das keinen zusätzlichen Nutzen gegenüber bereits existierenden Therapien aufweist. Ein Schwerpunkt dieses ersten Kapitels des OECD-Berichts ist eine detaillierte Analyse der Ausgaben für Arzneimittel – im und außerhalb des Krankenhauses – in Relation zum Bruttoinlandsprodukt für den Zeitraum von 2000-2016. Während die Ausgaben im Einzelhandel bzw. in öffentlichen Apotheken für Arzneimittel in den OECD-Mitgliedstaaten 2016 im Vergleich zu 2006 von 19,2% auf 16,5% in Bezug auf die gesamten Gesundheitsausgaben gesunken sind, haben die tatsächlichen Arzneimittelkosten für die Behandlung stationärer und ambulanter Patienten in diesem Zeitraum deutlich zugenommen – insbesondere aufgrund der stetig steigenden Preise für Spezialpräparate, auf die heute bereits etwa ein Drittel der globalen Arzneimittelausgaben entfallen. Während vor 20-30 Jahren etwa 20% der Arzneimittelausgaben Antihypertensiva und andere Arzneimittel zur Behandlung kardiovaskulärer Erkrankungen betrafen, sind es heute nur noch 5%. Demgegenüber sind die Kosten vor allem für die medikamentöse Behandlung von Krebs-, Autoimmun- und chronisch entzündlichen Krankheiten sowie Hepatitis C in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Dieser Trend in der Entwicklung der Ausgaben für Arzneimittel findet sich auch in Deutschland (2).
Ausführlich dargestellt wird auch die Entwicklung der Preise im patentfreien Arzneimittelmarkt, in dem durch die Verordnung von Generika deutliche Einsparungen bei den Arzneimittelkosten ohne Verminderung der Verordnungsqualität erreicht werden können. Auf die führende Rolle von Deutschland und Großbritannien bei der Verordnung von Generika wird in diesem Zusammenhang ausdrücklich hingewiesen (1). Derartige, vermutlich sogar noch deutlich höhere Einsparungen auch im sehr kostenintensiven Markt der Biologika durch eine konsequente Verordnung der heute bereits verfügbaren Biosimilars zu erreichen, ist eine wesentliche Herausforderung für die nahe Zukunft (3). Die derzeit noch recht langsame Marktdurchdringung der Biosimilars – auch in Deutschland – ist auf verschiedene Einflüsse zurückzuführen, wie beispielweise Unkenntnis der strengen Anforderungen an die Zulassung von Biosimilars und unberechtigte Bedenken von Ärzten und Patienten in Bezug auf Wirksamkeit und Sicherheit von Biosimilars (3-5). Im Vergleich zum patentfreien Arzneimittelmarkt sind die Auswirkungen des Wettbewerbs im Markt der Patentarzneimittel stark abhängig von verschiedenen Faktoren und auch den therapeutischen Anwendungsgebieten. Auf die unterschiedlichen Strategien pharmazeutischer Unternehmer (pU), einen fairen Wettbewerb zu verhindern und deutliche Preisreduktionen im Patentmarkt zu verzögern, haben wir in DER ARZNEIMITTELBRIEF hingewiesen (vgl. 6).
Ausführlich beschäftigt sich dieses Kapitel auch noch mit den unterschiedlichen Instrumenten, die von den OECD-Mitgliedstaaten zur Festsetzung bzw. Regulierung der Arzneimittelpreise verwendet werden (z.B. internationales Benchmarking bzw. Einsatz von HTA-Bewertungen (Health Technology Assessment = HTA) zur Entscheidung über Nutzen und Preise neuer Arzneimittel). Diese Instrumente unterscheiden sich allerdings teilweise deutlich in den verwendeten Methoden bzw. Strategien (vgl. 7, 8).
Abschließend widmet sich das erste Kapitel des OECD-Berichts den in den letzten Jahren deutlich angestiegenen Preisen für neue Arzneimittel zur Behandlung von Krebserkrankungen und Orphan-Arzneimitteln, die häufig nicht mit dem durch diese Arzneimittel bei den Patienten erzielten Nutzen korrelieren (vgl. 9, 10). Hohe Preise verhindern außerdem mitunter, dass diese Arzneimittel den Patienten, die sie dringend benötigen, überhaupt zur Verfügung stehen. Dies gilt beispielsweise für regulär zugelassene Arzneimittel zur Behandlung von Krebserkrankungen, die in einigen osteuropäischen Ländern nicht verfügbar sind, und auch für Orphan-Arzneimittel, bei denen hinsichtlich Verfügbarkeit und Erstattung in fünf europäischen OECD-Mitgliedstaaten deutliche Unterschiede bestehen (11).
Das Kapitel 2 unter dem Titel „Discovering and selling medicines“ beschreibt ausführlich die Rolle und Bedeutung der biopharmazeutischen Industrie für die ökonomische Entwicklung in den OECD-Mitgliedstaaten. Hinsichtlich der Zahl der in der pharmazeutischen Industrie Beschäftigten in den Jahren 2014 bzw. 2015 liegen Länder wie die Schweiz, Dänemark und Slowenien deutlich vor Deutschland, wo etwa 0,3% aller Beschäftigten und 5% aller im Bereich Forschung und Entwicklung (Research & Development = R&D) ganztags Beschäftigten in der pharmazeutischen Industrie arbeiten. Auch der Beitrag des pharmazeutischen Sektors zum Bruttosozialprodukt ist in den großen Wirtschaftsnationen wie USA, Japan und Deutschland mit 0,8% eher gering. Im Jahr 2014 wurden etwa 100 Mrd. US-$ für R&D von der pharmazeutischen Industrie ausgegeben, davon in den USA 56 Mrd. US-$, in Europa 26 Mrd. US-$ und in Japan 15 Mrd. US-$. Mehr als 75% aller registrierten klinischen Studien weltweit wurden in OECD-Mitgliedstaaten durchgeführt.
Ausführlicher eingegangen wird in diesem Kapitel auch auf den sehr komplexen Prozess der R&D von Arzneimitteln, der in 3 Phasen unterteilt werden kann – Grundlagenforschung, translationale Forschung und klinische Entwicklung – und an dem sowohl öffentliche als auch private Akteure bzw. Investoren beteiligt sind.
Gemäß aktueller, auf insgesamt 15.102 Arzneimitteln basierender Analysen (12), die nach präklinischer Forschung in Phase 1 der von pU gesponserten klinischen Studien geprüft wurden, erhielten letztlich nur 14% dieser Arzneimittel eine Marktzulassung nach einer im Median 8 Jahre dauernden klinischen Entwicklung. Die Erfolgsrate variierte sehr und war abhängig von der Krankheit, dem Anwendungsgebiet, dem benutzten regulatorischen Verfahren und der Möglichkeit, anhand von Biomarkern Patientensubgruppen zu identifizieren, bei denen das jeweilige Arzneimittel besonders gut wirkt. Die Erfolgsrate bei der Zulassung von Arzneimitteln ist bei Krebserkrankungen meistens niedriger, verglichen beispielsweise mit Arzneimitteln gegen Infektionskrankheiten und Impfstoffen. Auf die heute – vor allem aus ökonomischen Gründen – häufig anzutreffende Redundanz hinsichtlich der von großen pU verfolgten Schwerpunkte in R&D mit deutlichem Überwiegen von Orphan-Arzneimitteln bzw. Wirkstoffen zur Behandlung von Krebserkrankungen mit häufig überlappenden Wirkmechanismen hat DER ARZNEIMITTELBRIEF wiederholt hingewiesen (13; vgl. 14). Kritisiert wurde im OECD-Bericht auch die Tatsache, dass die Anstrengungen in R&D sich viel zu selten auf Indikationen konzentrieren, in denen ein großer Bedarf an therapeutischer Innovation besteht (z.B. neue antimikrobiell wirksame Arzneimittel, nicht vaskulär bedingte Demenz, Krankheiten bei Neugeborenen und sehr seltene Krankheiten). Obwohl methodisch nur schwer zu erfassen, gehen die Autoren des OECD-Berichts davon aus, dass die Produktivität – ermittelt anhand der eingesetzten Produktionsmittel („Input“) und dem dadurch erzielten Zugewinn an Gesundheit („Output“) – in den letzten 3 Jahrzehnten abgenommen hat. Trotz dieser Entwicklung (Steigerung der Kosten für R&D, Abnahme der Produktivität) und auch einer geringen Abnahme in der Dauer der effektiven Marktexklusivität während der Patentlaufzeit (in der Europäischen Union ca. 10-11 Jahre) gelang es jedoch den pU, ihre Profitabilität auf hohem Niveau zu stabilisieren, vor allem durch höhere Preise und wachsende Märkte für ihre Arzneimittel (1).
Den Teil 2 dieses Artikels, der sich mit Lösungsansätzen der OECD befasst, werden wir in der nächsten Ausgabe des ARZNEIMITTELBRIEFS veröffentlichen.
Literatur
- https://read.oecd-ilibrary.org/ social-issues-migration-health/ pharmaceutical-innovation-and- access-to-medicines_9789264307391-en#page1 Link zur Quelle
- Schwabe, U., und Ludwig, W.-D.: Arzneiverordnungen 2017 im Überblick. In: Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2018. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, 2018, S. 3.
- Dicheva-Radev, S., und Ludwig, W.-D.: Biosimilars. In: Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2018. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, 2018, S. 149.
- https://www.akdae.de/ Arzneimitteltherapie/AVP/ Artikel/201704/210h/index.php Link zur Quelle
- Ludwig, W.-D., und Dicheva, S.: Z. Gastroenterol. 2016, 54, 1223. Link zur Quelle
- AMB 2013, 47, 64. Link zur Quelle
- AMB 2017, 51, 41. Link zur Quelle
- AMB 2018, 52, 16DB01. Link zur Quelle
- AMB 2016, 50, 62. Link zur Quelle
- Ludwig, W.-D.: Internist (Berl.). 2019, 60, 399. Link zur Quelle
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- Wong, C.H., et al.: Biostatistics 2019, 20, 273. LLL_AAhttps://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6409418/-https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6409418/“ target=“_blank“>Link zur Quelle
- Fojo, T., et al.: JAMA Otolaryngol. Head Neck Surg. 2014, 140, 1225. Link zur Quelle
- AMB 2015, 49, 40DB01 Link zur Quelle . AMB 2017, 51, 01. Link zur Quelle