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Medikamentöse Behandlungen für COVID-19: Systematische Übersichtsarbeit und Netzwerk-Metaanalyse

DER ARZNEIMITTELBRIEF hat seit April 2020 regelmäßig in seinen Hauptartikeln bzw. Kleinen Mitteilungen über klinische Studien zur medikamentösen Therapie bei COVID-19 berichtet (1). Meist handelte es sich um Ergebnisse aus Beobachtungsstudien und nur selten um randomisierte kontrollierte Studien („randomized controlled trials“ = RCT) zur Wirksamkeit und Sicherheit von Remdesivir, Chloro- bzw. Hydroxychloroquin, die Kombination von Lopinavir plus Ritonavir und Glukokortikoiden, insbesondere Dexamethason (1). Im BMJ wurde jetzt eine bei Vorliegen neuer Evidenz permanent aktualisierte („living“) systematische Übersichtsarbeit und Netzwerk-Metaanalyse veröffentlicht, für die Ergebnisse aus insgesamt 23 RCTs ausgewertet wurden (2). Unter Netzwerk-Metaanalysen, die im letzten Jahrzehnt deutlich an Bedeutung gewonnen haben, versteht man indirekte Vergleiche von mehr als 2 Interventionen (3). Methodische Grundlage hierfür sind die „Preferred Reporting Items for Systematic reviews and Meta-Analyses“ (PRISMA), zu denen zuletzt 2015 auch eine Leitlinie zur Publikation Systematischer Übersichten erstellt wurde, die auch Netzwerk-Metaanalysen beinhalten (4). Dieser Review ist Teil eines Projekts des BMJ, das aufgrund der sich rasch ändernden Evidenzbasis zur Behandlung von COVID-19 das Ziel verfolgt – zusammen mit der „Magic Evidence Ecosystem Foundation“ (5) –, vertrauenswürdige, klinisch umsetzbare und ständig aktualisierte Richtlinien zur Behandlung von COVID-19 zu veröffentlichen, sobald neue Evidenz zu (medikamentösen) Interventionen vorliegt, die für klinische Entscheidungen relevant ist. Eingeschlossen wurden Ergebnisse von RCTs bei Patienten mit vermuteter, wahrscheinlicher oder bestätigter COVID-19, in denen medikamentöse Therapien gegeneinander oder im Vergleich zu keiner Intervention, Plazebo bzw. der Standardbehandlung verglichen wurden. Täglich ausgewertet wurden neben dem Datenbestand der „US Centers for Disease Control and Prevention (CDC) COVID-19 Research Articles“ insgesamt 25 bibliographische Informationssysteme – u.a. Medline, PubMed, Embase, Cochrane Library, Scopus, WHO, „CDC covid-19 website“ sowie ClinicalTrials.gov und Preprint-Server wie bioRxiv und medRxiv.

Nach selektiver Prüfung („screening“) von 7.285 Titeln und Zusammenfassungen sowie 122 Volltexten wurden 32 RCTs identifiziert, die bis zum 20. Juli 2020 Wirksamkeit und Sicherheit medikamentöser Behandlungen ausgewertet und in „peer reviewed“ Zeitschriften (n = 18) oder nur auf Preprint-Servern veröffentlicht hatten (2). Mehr als die Hälfte dieser RCTs (18/32; 56%) wurden in China durchgeführt. Die meisten RCTs (n = 18) untersuchten medikamentöse Behandlungen an Patienten mit COVID-19, die im Krankenhaus (28/32; 88%) behandelt wurden, und verglichen dabei die medikamentöse Therapie mit der Standardbehandlung oder Plazebo. Nur in 6 RCTs wurde ein Arzneimittel gegen COVID-19 mit einem anderen aktiven Wirkstoff verglichen. Das Risiko für methodische Verzerrungen (Bias) wurde für jeden Endpunkt dieser Studien bewertet und nur in 2 Studien (6, 7) wurde für alle Domänen, die Aspekte der Randomisierung oder Abweichen von den beabsichtigten Interventionen berücksichtigten, ein niedriges Verzerrungspotenzial gesehen.

Ergebnisse zur Mortalität wurden in 15 RCTs mit insgesamt 8.654 Patienten mitgeteilt. Acht RCTs mit 6.953 Teilnehmern berichteten über mechanische Beatmung bei Patienten, die initial keine Beatmung benötigten, und in 11 RCTs mit insgesamt 1.875 Patienten wurde über Nebenwirkungen berichtet, die zur Beendigung der Therapie mit dem Studienmedikament führten. Weitere Ergebnisse der medikamentösen Therapie bezogen sich auf die virale Clearance (ermittelt anhand der PCR), Dauer der mechanischen Beatmung bzw. des Krankenhausaufenthalts, des Aufenthalts auf der Intensivstation und die Zeit bis zum Verschwinden der Symptome.

Insgesamt wurde aufgrund des hohen Verzerrungsrisikos (bspw. infolge fehlender Verblindung) und Ungenauigkeit der Ergebnisse die Sicherheit der Evidenz in den ausgewerteten RCTs als sehr niedrig beurteilt. Evidenz für eine Reduktion der Todesfälle und der Notwendigkeit einer mechanischen Beatmung konnte nur für Glukokortikoide gezeigt werden (6). Die Symptome von COVID-19 konnten durch 3 Arzneimittel (Hydroxychloroquin, Remdesivir und Lopinavir-Ritonavir) mit moderater bzw. geringer Sicherheit verkürzt werden (um 1,2-4,5 Tage). Dabei erhöhte allerdings Hydroxychloroquin das Risiko für Nebenwirkungen im Vergleich zu den anderen Arzneimitteln, wohingegen die Gabe von Remdesivir nur selten aufgrund von Nebenwirkungen zur Unterbrechung der Behandlung führte (2).

Sowohl die ausgewählten RCTs für diese Systematische Übersichtsarbeit als auch die Merkmale jeder analysierten RCT (z.B. Anzahl der Teilnehmer, mittleres Alter, Komorbiditäten und deren Behandlung, Anteil der Patienten mit mechanischer Beatmung, Dosierung und Dauer der medikamentösen Therapie) werden in Abbildungen sowie einer umfangreichen Tabelle detailliert dargestellt. Die insgesamt 53 Autoren dieser Analyse betonen in der Diskussion, dass von den untersuchten Arzneimitteln nur für Glukokortikoide anhand der RECOVERY-Studie gezeigt werden konnte, dass sie wahrscheinlich Mortalität und Notwendigkeit bzw. Dauer der mechanischen Beatmung positiv beeinflussen (6). Remdesivir ist derzeit die einzige medikamentöse Intervention, für die – allerdings nur mit moderater Sicherheit – ein Nutzen gezeigt werden konnte in Bezug auf den Rückgang bzw. das Verschwinden von Symptomen und die Dauer der mechanischen Beatmung (7). Alle Ergebnisse zu Remdesivir stammen jedoch von RCTs, die vom pharmazeutischen Unternehmer (Gilead) gesponsert wurden.

Die Evidenz zu den Nebenwirkungen der o.g. Arzneimittel ist anhand der analysierten RCTs insgesamt noch unzureichend und nur für Hydroxychloroquin konnte gezeigt werden, dass durch diesen Wirkstoff sowohl das Risiko für Nebenwirkungen als auch die Wahrscheinlichkeit für ein Absetzen dieses Arzneimittels erhöht wird. Allerdings wurden in dieser Metaanalyse die Ergebnisse von 4 kürzlich publizierten RCTs noch nicht berücksichtigt (2).

Stärken und Einschränkungen dieser Systematischen Übersichtsarbeit und Netzwerk-Metaanalyse werden ausführlich diskutiert und als wesentliche Einschränkungen der Systematischen Übersichtsarbeit folgende Faktoren genannt: die geringe Qualität der Evidenz aufgrund der häufig derzeit noch spärlichen Daten, die mitunter unzureichende Qualität der Auswertungen in den RCTs sowie der „Publication Bias“, der vor allem resultiert aus der rascheren Publikation von erfolgversprechenden Studienergebnissen als von RCTs mit negativen Ergebnissen (2). Geplant ist, diese Systematische Übersichtsarbeit und Netzwerk-Metaanalyse regelmäßig auf den neuesten Stand zu bringen, ein Ziel, das auch zwei andere Systematische Übersichtsarbeiten verfolgen (9, 10).

Fazit: Die aus einer Systematischen Übersichtsarbeit und Netzwerk-Metaanalyse von 23 randomisierten kontrollierten Studien gewonnene Evidenz spricht dafür, dass Glukokortikoide wahrscheinlich die Mortalität und Notwendigkeit bzw. Dauer der mechanischen Ventilation bei Patienten mit schwerem Verlauf von COVID-19 vermindern und Remdesivir wahrscheinlich die Dauer des Krankenhausaufenthalts verkürzt. Die Wirksamkeit der derzeit zur medikamentösen Behandlung von COVID-19 eingesetzten anderen Arzneimittel ist sehr unsicher, da gute, endgültige Evidenz zur Beeinflussung relevanter Endpunkte und Auslösung von Nebenwirkungen durch andere Arzneimittel bisher nicht existiert.

Literatur

  1. AMB 2020, 54, 25. Link zur Quelle AMB 2020, 54, 37. Link zur Quelle AMB 2020, 54, 48. Link zur Quelle AMB 2020, 54, 56. Link zur Quelle
  2. Siemieniuk, R.A.C., et al.: BMJ 2020, 370, m2980. Link zur Quelle
  3. Kiefer, C., et al.: Dtsch. Arztebl. Int. 2015, 112, 803. Link zur Quelle
  4. Hutton, B., et al.: Ann. Intern. Med. 2015, 162, 777. Link zur Quelle
  5. Horby, P., et al. (RECOVERY = Randomised Evaluation of COVID-19 thERapY): Link zur Quelle Vgl. AMB 2020, 54, 56. Link zur Quelle
  6. Beigel, J.H., et al. (ACTT-1 = Adaptive COVID-19 Treatment Trial-1): N. Engl. J. Med. 2020, May 22. Link zur Quelle
  7. Wang, Y., et al.: Lancet 2020, 395, 1569. Link zur Quelle
  8. Boutron, I., et al.: Zenedo (Preprint) 2020. Link zur Quelle
  9. Juul, S., et al. (LIVING Project): BMC Syst. Rev. 2020, 9, 108. Link zur Quelle