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Verblindung bei randomisierten kontrollierten Studien nicht immer notwendig?

Verblindung gilt in der evidenzbasierten Medizin als wichtiges Qualitätskriterium randomisierter kontrollierter Studien (RCT). Sie soll dazu beitragen, systematische Verzerrungen zu verringern, die entstehen können, wenn die Kenntnis einer Behandlung ihre Bewertung beeinflusst (vgl. 1, 2). Verblindung soll insbesondere den Detektionsbias durch Erwartungen der Patienten oder des Studienpersonals sowie den Performancebias durch Ungleichheiten in begleitenden Maßnahmen vermeiden. Eine Untersuchung von 142 Cochrane Metaanalysen weckt nun Zweifel am Nutzen der Verblindung (3).

In der Untersuchung wurden Ergebnisse von Studien verglichen, die die gleichen Behandlungen und Endpunkte untersuchten, sich jedoch hinsichtlich der Verblindung von Patienten, Studienpersonal oder Erhebern von Endpunkten unterschieden. Eingeschlossen wurden 142 Metaanalysen mit insgesamt 1.153 Studien, in denen u.a. pharmakologische, chirurgische und psychosoziale Interventionen verglichen wurden mit Plazebo, der Standardtherapie oder keiner Behandlung. Zu den Endpunkten der Metaanalysen und Studien gehörten Nebenwirkungen, Morbidität und Gesamtsterblichkeit ebenso wie verschiedene Labor- und radiologische Ergebnisse sowie Lebensqualität. Berechnet wurde das durchschnittliche Verhältnis (Ratio) der Odds Ratios (ROR).

Überraschenderweise zeigte sich bei dieser Analyse kein Einfluss einer Verblindung auf die Behandlungsergebnisse, und zwar durchgängig bei subjektiven und objektiven Endpunkten. Das ROR für fehlende Verblindung von Patienten betrug 0,91 (95%-Konfidenzintervall = CI: 0,61-1,34) in 18 Metaanalysen mit von Patienten berichteten Endpunkten und 0,98 (CI: 0,69-1,39) in 14 Metaanalysen mit Ergebnissen berichtet durch Erheber von Endpunkten. Das ROR für fehlende Verblindung des Studienpersonals betrug 1,10 (CI: 0,84-1,19) in 29 Metaanalysen mit Entscheidung des Studienpersonals über das Ergebnis, z.B. Wiederaufnahmen, und 0,97 (CI: 0,64-1,45) in 13 Metaanalysen mit Ergebnissen, berichtet durch Patienten oder Erheber. Für die fehlende Verblindung der Erheber von Endpunkten betrug das ROR 1,01 (CI: 0,86-1,18) in 46 Metaanalysen.

Die Autoren weisen darauf hin, dass andere Untersuchungen zum Einfluss der Verblindung auf Studienergebnisse unterschiedliche und teils widersprüchliche Ergebnisse hatten. Die Untersuchung wurde als meta-epidemiologische Studie durchgeführt: Eine statistische Methode, die verwendet wird, um den Einfluss qualitativer Probleme in RCT zu analysieren (4). Die Autoren diskutieren, dass diese Methode möglicherweise weniger verlässlich ist als bisher angenommen. Meta-epidemiologische Studien sind Beobachtungsstudien, deren Ergebnisse durch nicht quantifizierbare Verzerrungen fehlerhaft sein können (vgl. 5).

Ein begleitendes Editorial empfiehlt, die Ergebnisse nicht einfach abzutun, weil sie der Erwartung nicht entsprechen, sondern im Sinne der evidenzbasierten Medizin dafür zu nutzen, ein Dogma zu überprüfen (6). Die Auswirkungen von Verblindung seien wahrscheinlich von unterschiedlichen Faktoren abhängig. Wenn beispielsweise Patienten und Studienpersonal einer Therapie gegenüber unvoreingenommen sind, dürfte sich Verblindung weniger stark auswirken als bei ausgeprägten Erwartungen. Auch die Größe des „wahren“, unverzerrten Nutzens oder Schadens beeinflusse vermutlich die Auswirkungen einer Verblindung: Eine starke Wirksamkeit oder schwerwiegende Nebenwirkungen seien weniger anfällig für einen Detektionsbias. Zu anderen, möglicherweise relevanten Faktoren gehörten die Schwere der Krankheit und ihr natürlicher Verlauf. Um die Bedeutung von Verblindung für eine Fragestellung einzuschätzen, schlagen die Autoren vor, in Studien kleinere Unterstudien durchzuführen, in denen Patienten oder Studienzentren randomisiert verblindet oder nicht verblindet werden. Auch Erhebungen zur Einstellung von Patienten oder Studienpersonal gegenüber einer Therapie könnten dabei helfen.

In einer begleitenden Analyse werden auch mögliche negative Effekte von Verblindung diskutiert: Sie könne dazu führen, dass Patienten die Teilnahme an einer Studie ablehnen oder abbrechen. Die Kosten der Verblindung könnten möglicherweise sinnvoller investiert werden, beispielsweise um Studienpersonal zu trainieren. Darüber hinaus hätten sich Patienten aus verblindeten RCT vor Studienende in sozialen Medien über ihre Erfahrungen ausgetauscht, um herauszufinden, welchem Behandlungsarm sie zugeordnet wurden. Insbesondere wenn durch Interventionen die Sicherheit von Patienten gefährdet sei, müsse geprüft werden, ob Verblindung notwendig sei. Die Autoren der Analyse propagieren Studien im PROBE-Design, die randomisiert durchgeführt werden und bei denen nur die Erheber der Endpunkte verblindet sind (8).

Fazit: In einer meta-epidemiologischen Studie fanden sich überraschenderweise keine Hinweise dafür, dass sich die Ergebnisse von verblindet bzw. nicht verblindet durchgeführten randomisierten kontrollierten Studien unterscheiden. Als Ursache diskutieren die Autoren Fehler in der Methodik, aber auch die Möglichkeit, dass Verblindung nicht bei allen Fragestellungen essenziell ist. Sie empfehlen jedoch bis zum Vorliegen weiterer Erkenntnisse, die Verblindung weiterhin als Standard zur Vermeidung des Detektions- und Performancebias zu betrachten.

Literatur

  1. AMB 2017, 51, 64DB01. Link zur Quelle

  2. https://www.ebm-netzwerk.de/de/service-ressourcen/ebm-glossar Link zur Quelle

  3. Moustgard, H., et al.: BMJ 2020, 368, l6802. Link zur Quelle

  4. Borges, L.S.R.: Int. J. Cardiovasc. Sci. 2016, 29, 326. Link zur Quelle

  5. AMB 2019, 53, 79b. Link zur Quelle

  6. Drucker, A.M., und Chan, A.-W.: BMJ 2020, 368, m229. Link zur Quelle

  7. Anand, R., et al.: BMJ 2020, 368, l6228. Link zur Quelle

  8. Hansson, L., et al. (PROBE = Prospective Randomized Open, Blinded End-point): Blood Press. 1992, 1, 113. Link zur Quelle