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Primär antidepressive Kombinationstherapie bei schwerer Depression? [CME]

Zusammenfassung

Eine große aktuelle Metaanalyse kommt zu dem Ergebnis, dass bei akuter schwerer Depression eine primäre Therapie mit zwei Antidepressiva wirksamer ist als eine Monotherapie nach Dosissteigerung bzw. nach Wechsel auf ein anderes Antidepressivum wegen unzureichender Wirksamkeit des ersten Antidepressivums [1]. Die Kombinationstherapie war gleich gut verträglich und auch die Abbruchrate etwa gleich hoch. Als wirksamste Therapie erwiesen sich Kombinationen eines Nichtselektiven oder Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmers oder eines Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmers mit einem Alpha2-Rezeptor-Antagonisten. Kombinationen mit Bupropion waren in dieser Metaanalyse nicht wirksamer als eine Monotherapie. Gemäß der Konsolidierungsfassung für die neue deutsche Leitlinie Depression darf bei Behandlung der schweren Depression die Präferenz des Patienten berücksichtigt werden, ob eine Monotherapie mit einem weiteren Antidepressivum oder mit Psychotherapie verbunden werden soll (vgl. [2]).

Unklar ist, ob sich der Vorteil einer medikamentösen Kombinationstherapie in unabhängigen größeren, randomisierten, kontrollierten Einzelstudien mit Verblindung reproduzieren lässt, ob er auch langfristig erhalten bleibt, wie häufig und schwer die Nebenwirkungen vergleichsweise sind, und ob es größere Schwierigkeiten beim Absetzen gibt. Wir haben uns zu dieser Problematik bereits früher geäußert [3]. Die primäre Kombinationstherapie sollte daher unseres Erachtens nur nach eingehender Information und abgestimmt mit dem Patienten erfolgen, bei der auch die Unsicherheiten bzw. ein mögliches Serotonin-Syndrom offen erörtert werden (vgl. [4]).

Für die Behandlung von Depressionen stehen zahlreiche Antidepressiva (AD) verschiedener Wirkstoffklassen zur Verfügung (s. Tab. 1, vgl. [5]). Diese greifen u.a. in den Stoffwechsel wichtiger Neurotransmitter im Gehirn (Serotonin, Noradrenalin und Dopamin) ein, entweder durch Hemmung des Enzyms Monoaminoxidase (MAO-Inhibitoren = MAO-I), das für den Abbau dieser biogenen Amine zuständig ist, oder durch Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin aus dem synaptischen Spalt in die Speicher („Reuptake“-Inhibitoren). Wichtig ist es, die AD ein- resp. ausschleichend zu verordnen und die medikamentöse Therapie bei manifesten Depressionen mit psychosozialen Behandlungsmaßnahmen bzw. Psychotherapie zu begleiten, wie es bereits die Konsolidierungsfassung der neuen Leitlinie empfiehlt ([2][5][6]); dies gilt auch für die schwere Depression. Der Grund dafür ist, dass entsprechend den Ergebnissen neuer Studien mit individuellen Verlaufsdaten AD und Psychotherapie auch bei schwereren Depressionen etwa gleich gut wirken. Daher kann laut den neuen Leitlinien die Präferenz des Patienten berücksichtigt werden, d.h. ob eine Monotherapie mit einem zweiten AD oder mit Psychotherapie kombiniert werden soll. Leichte Depressionen klingen häufig auch ohne therapeutische Maßnahmen ab [7].

Für den Beginn einer medikamentösen Behandlung bei schwerer (unipolarer) Depression empfehlen die britische, amerikanische [8] und auch die deutsche Nationale Versorgungsleitlinie von 2015 ([9]; derzeit in Überarbeitung) eine Monotherapie mit einem der zahlreichen Nicht-MAO-I. Aber lediglich 60% der Patienten sprechen auf eine initiale Monotherapie an, und nur ca. 40% erreichen nach 12-24 Wochen eine volle Remission, also Symptomfreiheit [10]. Bei einem Nichtansprechen auf die initiale Therapie nach 3-4 Wochen (bei Älteren nach 6 Wochen; „Nonresponder“) wird üblicherweise auf ein anderes AD gewechselt oder – sofern verträglich – die Dosierung gesteigert (allerdings nicht bei SSRI wegen nachteiliger Effekte; [11]), bzw. Lithium als Wirkverstärker hinzugesetzt („Lithiumaugmentation“) oder eine Kombinationstherapie (KT) mit zwei AD eingeleitet ([8][12]). Dieses Vorgehen wird jedoch kontrovers beurteilt ([13][14][15]). Eine zweite Monotherapie erwies sich beispielsweise bei „Non-Respondern“ ähnlich erfolglos wie die vorherige Monotherapie [16].

Die durchschnittliche Wirksamkeit einer Monotherapie wird üblicherweise gemessen als standardisierte mittlere Differenz (SMD) der Wirksamkeit. Die SMD ist die Differenz zwischen zwei Mittelwerten, geteilt durch eine Schätzung der Standardabweichung innerhalb der Gruppe. Für die Monotherapie liegt die SMD unter der typischen Grenze der klinischen Signifikanz von ca. 0,5 ([17][18]). Wenn die Effektstärke einer Monotherapie im Vergleich zu Plazebo bei ca. SMD 0,3 liegt und man einen vollen additiven Effekt der KT annimmt, dann wäre eine SMD von 0,6 erwartbar, somit die Grenze der klinischen Signifikanz überschritten und auf einen Zusatznutzen der KT hingewiesen. Dies ist allerdings nur eine Vermutung; ein direkter Vergleich zwischen KT und Plazebo ist uns nicht bekannt.

In einer früheren Metaanalyse war eine primäre KT bei schwerer Depression wirksamer als eine Monotherapie, bei etwa gleicher Verträglichkeit [13]. In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass besonders bei AD-Kombinationen auf Zeichen eines Serotonin-Syndroms geachtet werden muss: Verwirrtheit, Delir, Zittern/Frösteln, Schwitzen, Veränderungen des Blutdrucks, Myoklonien und Mydriasis, besonders bei Älteren. Wir haben wiederholt darauf aufmerksam gemacht [19]. Eine Kombination von MAO-I mit Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI), Serotonin-Norepinephrin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSNRI) oder Clomipramin ist deshalb kontraindiziert [9]. Wegen Synergien im Wirkmechanismus werden häufig der Alpha2-Rezeptor-Antagonist Mirtazapin oder der Selektive Noradrenalin-Dopamin-Wiederaufnahme-Inhibitor (SNDRI) Bupropion mit Wiederaufnahme-Hemmern kombiniert [20].

Zur antidepressiven KT hat kürzlich eine Arbeitsgruppe von vier deutschen Universitäten (Berlin, Dresden, Freiburg, Köln) eine Metaanalyse veröffentlicht [1]. Verglichen wurde eine KT von zwei AD, gleich welcher Dosis, mit einer antidepressiven Monotherapie bei akuter Depression.

Primärer Studienendpunkt war der Behandlungserfolg, gemessen als standardisierte mittlere Differenz (SMD s.o.) der Wirksamkeit der KT im Vergleich zur Monotherapie. Sekundäre Endpunkte waren Veränderungen gebräuchlicher Scores zur Einstufung einer depressiven Störung im Vergleich zu Ausgangswerten. Die Remission wurde definiert als ≤ 7 Punkte auf der 17 Punkte umfassenden „Hamilton Depression Rating Scale“ (HDRS; [21]). Das Ansprechen auf eine Therapie („Responder“) wurde definiert als ≥ 50% Abnahme der HDRS-Punkte oder der „Montgomery-Asberg Depression Rating Scale“ (MADRS; [22]). Verglichen wurden auch Studienabbrüche insgesamt sowie aufgrund von Nebenwirkungen. Prädefinierte Subgruppen umfassten Therapieversager mit AD-Wechsel sowie KT mit Alpha2-Rezeptor-Antagonisten oder Kombinationen mit Bupropion.

Ergebnisse: Von 4.000 Studien zu dieser Thematik aus weltweiten Datenbanken im Zeitraum von 1977-2020 wurden 146 näher analysiert: 38 erfüllten die geforderten Kriterien. Diese schlossen insgesamt 6.751 Patienten ein. Fünf dieser Studien waren nur einfach verblindet, und 11 wurden unverblindet durchgeführt („open label“).

Bei 31 Studien (82%) zeigten sich Vorteile der KT gegenüber den anderen Therapiestrategien. Die SMD gegenüber einer Monotherapie betrug 0,31 (95%-Konfidenzintervall = CI: 0,19-0,44) zugunsten einer KT (p < 0,001). Die bessere Wirksamkeit fand sich auch in den Studien mit dem geringsten Bias-Risiko (SMD: 0,29; CI: 0,15-0,42). Bei den „Non-Respondern“ war die SMD 0,18 (CI: 0,04-0,33); der größte Vorteil ergab sich bei einer KT als Erstlinientherapie: SMD: 0,52; CI: 0,24-0,79.

Besonders die Kombination von einem Wiederaufnahme-Hemmer mit einem Alpha2-Rezeptor-Antagonisten war anderen Kombinationen überlegen (SMD: 0,37; bei „Non-Respondern“: 0,24). Am größten war der Unterschied, wenn die KT als Erstlinientherapie eingesetzt worden war (SMD: 0,64; CI: 0,12-1,15). Keine relevanten Vorteile zeigten sich in dieser Metaanalyse für Kombinationen mit Bupropion. Sie waren nicht besser als eine Monotherapie (SMD: 0,10) mit nur leichten Vorteilen bei Non-Respondern (SMD: 0,17).

Therapieabbrüche waren insgesamt unter Monotherapie etwa gleich häufig wie unter KT, auch bei Abbrüchen wegen Nebenwirkungen (Odds Ratio: 0,99 bzw. 1,17). Auch wenn die Studien teilweise heterogen waren und Hinweise für eine Verzerrung durch Publikationsbias („publication bias“; vgl. [23]) bestanden, stimmten die Ergebnisse in den sekundären Endpunkten und Subgruppen überein. Dies erhärteten die Ergebnisse der Studien mit sehr geringem Biasrisiko. Dennoch bleibt nach einer Korrektur für den Publikationsbias mit der „trim and fill“-Methode [24] eine Abnahme der SMD von 0,37 (CI: 0,19-0,55) auf bescheidene SMD 0,13 (CI: 0,001-0,26). Zwar diskutieren die Autoren, dass dies ein statistisches Artefakt sein könnte, aber dennoch ist dieses Ergebnis problematisch und bedeutsam.

Literatur

  1. Henssler, J., et al.: JAMA Psychiatry 2022, 79, 300. (Link zur Quelle)
  2. https://www.leitlinien.de/themen/depression/konsultation/konsultationsfassung.pdf (Link zur Quelle)
  3. AMB 2015, 49, 48DB01. (Link zur Quelle)
  4. AMB 2014, 48, 09. (Link zur Quelle)
  5. AMB 2020, 54, 17. AMB 2014, 48, 09. AMB 2015, 49, 65. (Link zur Quelle)
  6. Bschor, T., et al.: Der Nervenarzt 2022, 93, 93. (Link zur Quelle)
  7. Ustün, T.B., et al.: Br. J. Psychiatry 2004, 184, 386. (Link zur Quelle)
  8. Gelenberg, A.J., et al.: Practice guideline for the treatment of patients with major depressive disorder: (Link zur Quelle)
  9. S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) Unipolare Depression, 2. Auflage 2015: (Link zur Quelle)
  10. Henssler, J., et al. (ANRS-VESPA2 = Agence Nationale de Recherches sur le SIDA-VIH: Enquête Sur les Personnes Atteintes2): J. Clin. Psychiatry 2018, 79, 17r11470. (Link zur Quelle)
  11. Licht, R.W., und Qvitzau, S.: Psychopharmacology (Berl.) 2002, 161, 143. (Link zur Quelle)
  12. Schneider, F., et al.: S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression. (Link zur Quelle)
  13. Bschor, T., et al.: J. Clin. Psychiatry 2018, 79, 16r10479. (Link zur Quelle)
  14. Strawbridge, R., et al.: Br. J. Psychiatry 2019, 214, 42. (Link zur Quelle)
  15. AMB 2021, 55, 56DB01. (Link zur Quelle)
  16. Rink, L., et al.: J. Clin. Psychiatry 2018, 79, 17r11693. (Link zur Quelle)
  17. Hengartner, M.P., und Plöderl, M.: BMJ Evid. Based Med. 2022, 27, 69. (Link zur Quelle)
  18. Munkholm, K., et al.: BMJ Open 2019, 9, e024886. (Link zur Quelle)
  19. AMB 2011, 45, 89. AMB 2016, 50, 37. AMB 2013, 47, 43. (Link zur Quelle)
  20. Henssler, J., et al.: Can. J. Psychiatry 2016, 61, 29. (Link zur Quelle)
  21. Hamilton, M.: Br. J. Soc. Clin. Psychol. 1967, 6, 278. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/6080235/. Vgl. AMB 2010, 44, 33. (Link zur Quelle)
  22. Müller-Thomsen, T., et al.: Arch. Clin. Neuropsychol. 2005, 20, 271. (Link zur Quelle)
  23. AMB 2017, 51, 64DB01. AMB 2017, 51, 32DB01. (Link zur Quelle)
  24. Shi, L, und Lin, L.: Medicine (Baltimore) 2019, 98, e15987. (Link zur Quelle)