Fragen von Dr. W.W. aus K.: >> In der Geriatrie behandeln wir regelmäßig multimorbide, gebrechliche und mangelernährte Patienten nach osteoporotischen Frakturen und verabreichen diesen großzügig unter Berücksichtigung von Kalziumspiegel und Nierenfunktion Vitamin D (800-1000 IE/d) und meist auch Kalzium (1.000 mg/d). Auf eine Vitamin-D-Spiegelbestimmung verzichten wir, da in diesem Kollektiv in nahezu 100% ein Mangel vorliegt. Atherosklerose ist bei unseren Patienten regelhaft vorhanden, oft auch mit Endorganschäden wie KHK, pAVK oder Aortenklappenstenose. Im ARZNEIMITTELBRIEF (vgl. [1]), aber auch in anderen Quellen (z.B. [2]) wird eine breite Supplementierung bei fraglichem Nutzen und vorhandenem Risikopotenzial kritisch gesehen. Können Sie auf dem Boden der aktuell vorliegenden Evidenz Empfehlungen zu einer praktikablen Nutzen-Risiko-Abwägung geben? Kann darüber hinaus im genannten Patientenkollektiv eine Vitamin-D-Supplementierung zur Infektprävention im Winterhalbjahr [3] gerechtfertigt sein, wie im Kontext von COVID-19 an anderer Stelle empfohlen [4]? <<
Antwort: >> Ihre Vorgehensweise bzgl. der Kalzium- und Vitamin-D-Supplementierung bei den von Ihnen betreuten multimorbiden, mangelernährten, gebrechlichen Patienten ist nach unserer Einschätzung zweckmäßig und kosteneffizient. Bei diesen möglicherweise schon länger pflegebedürftigen Patienten ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sehr viele von ihnen, bedingt durch ihre Lebensumstände, einen Mangel an Kalzium und Vitamin D haben. Somit liegt das Nutzen-Risiko-Verhältnis der Substitution in den von Ihnen verwendeten Dosierungen, die dem täglichen Bedarf entsprechen, deutlich im positiven Bereich. Hier handelt es sich ja nicht um eine „breite Vitamin-D-Supplementierung“, die von uns, speziell wenn therapeutisch hohe Vitamin-D-Dosierungen verwendet werden, kritisch gesehen wird, sondern um eine Intervention in einer gut bekannten Risikogruppe. Auch Ihr Verzicht auf die generelle Messung von 25-Hydroxy-Vitamin D [25-(OH)D] als Maß für den Vitamin-D-Status erscheint plausibel. Ob bei klinischem Verdacht – z.B. bei lange bestehender Gebrechlichkeit und Mangel an Sonnenlichtexposition – eine über eine reine Supplementierung hinausgehende, d.h. höher dosierte Therapie mit Vitamin D sinnvoll ist, muss individuell entschieden werden. In dieser klinischen Situation besteht die Möglichkeit, dass bei Patienten mit Osteoporose zusätzlich eine durch Vitamin-D- und Kalziummangel verursachte Osteomalazie besteht. Dann sind Messungen von 25-(OH)D (sehr stark erniedrigt; jedoch Dissens bei der Interpretation der Serumwerte und der Interventionsschwelle; vgl. [5]), knochenspezifischer alkalischer Phosphatase (erhöht) und Parathormon (erhöht = sekundärer Hyperparathyreoidismus) diagnostisch hilfreich. Das Serumkalzium kann hierbei jedoch normal sein, denn die sich zunächst entwickelnde Hypokalziämie wird durch den sekundären Hyperparathyreoidismus hochreguliert.
Auch im Hinblick auf ein diskret erhöhtes kardiovaskuläres Risiko erscheint uns die Kalzium/Vitamin-D-Supplementierung bei Ihren Patienten insgesamt sinnvoll. Die Studien, die ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen fanden, untersuchten Bevölkerungskollektive, die nicht wegen eines Kalzium-/Vitamin-D-Mangels supplementiert wurden (z.B. [6]).
Aus den Ergebnissen kontrollierter Studien und aus Metaanalysen hinsichtlich der Wirksamkeit einer Kalzium- und Vitamin-D-Supplementierung zur Frakturprävention bei Osteoporose erscheint eine solche „Basistherapie“ bei entsprechenden Risiken gerechtfertigt, auch wenn die Osteoporose primär eine andere Pathogenese hat. Allerdings war der frakturpräventive Effekt minimal und konnte nur mit der Kombination von Kalzium plus Vitamin D und auch nur bei einem besonderen Patientenkollektiv (Pflegeheimbewohner) beobachtet werden, das dem Ihren gleicht [7]. In einem relativ kleinen Bevölkerungskollektiv (n = 389) mit über 65-jährigen Männern und Frauen reduzierte eine Kalzium- und Vitamin D-Supplementierung den altersabhängigen Verlust an Knochendichte und die Inzidenz nicht-vertebraler Frakturen [8]. In der VITAL-Studie allerdings reduzierte eine Supplementierung mit Vitamin D allein bei unselektierten über 50-jährigen Erwachsenen das Frakturrisiko nicht [9]. Es gibt allerdings keine kontrollierte, randomisierte klinische Studie zur Wirksamkeit einer spezifischen Osteoporosetherapie mit antiresorptiven oder osteoanabolen Wirkstoffen ohne eine gleichzeitige Kalzium- und Vitamin-D-Basisversorgung. Deshalb ist diese „Basistherapie“ zu einem wichtigen Bestandteil aller Behandlungsformen bei den bereits risikoselektierten Patienten mit Osteoporose geworden.
Hinsichtlich des Ausmaßes einer Prävention akuter Atemwegsinfekte sind die immer wieder einmal beschriebenen „pleiotropen“ klinischen Effekte von Arzneimitteln auch im Falle der Vitamin-D-Supplementierung abhängig vom behandelten Patientenkollektiv. Die Sicherstellung normaler Serumkonzentrationen von 25-(OH)D unter Vermeidung von Bolusapplikationen von Vitamin D reduziert offenbar die Häufigkeit von Atemwegsinfekten [10]. Dieser Effekt ist umso ausgeprägter je größer das initiale Vitamin-D3-Defizit der Patienten ist: Die NNT reduziert sich entsprechend von 20 auf 4 [11]. Jedoch ist die Bolusapplikation von sehr hohen Dosen Vitamin D bei alten Patientinnen wegen des höheren Risikos für Stürze und Frakturen nicht vorteilhaft [12], [13]. <<