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Vor leeren Regalen – Ursachen von Lieferengpässen von Arzneimitteln und Maßnahmen zu ihrer Vermeidung

Zusammenfassung: Lieferengpässe von Arzneimitteln treten derzeit in unterschiedlichem Maße in allen Ländern Europas und in den USA auf. Nicht jeder Lieferengpass bedeutet einen Versorgungsengpass für Patienten, d.h. für schwere Erkrankungen oder medizinische Notfallsituationen ist kein alternativer Wirkstoff verfügbar. Die Ursachen für Lieferengpässe sind multifaktoriell. Neben ökonomisch bedingten Lieferengpässen (z.B. Preis- und Kostendruck bei Generika) sind vor allem Herstellungs- und Nachfrage-bedingte Ursachen zu unterscheiden. Lieferengpässe traten in den letzten Jahren in Europa und den USA vorwiegend bei parenteralen Arzneimitteln im generikafähigen Segment auf – beispielsweise bei onkologischen Wirkstoffen, Anästhetika, Notfallmedikamenten und Antibiotika/-mykotika. Liefer- bzw. Versorgungsengpässe von Arzneimitteln sind eine große Herausforderung für die europäischen Gesundheitssysteme. Die Sicherheit in der Versorgung der Patienten muss zum vorrangigen Ziel der Europäischen Kommission gemacht werden. Wirtschaftliche Anreize und bisher etablierte Maßnahmen zur Vermeidung von Lieferengpässen werden vorgestellt. Ihr Ziel muss es sein, gesundheitspolitisch unerwünschtes Marktverhalten der pharmazeutischen Unternehmer zu unterbinden, Herstellungs- bzw. Nachfrage-bedingte Lieferengpässe zu vermeiden und in naher Zukunft die hohe Versorgungssicherheit für die Bürger der Europäischen Union mit essenziellen Arzneimitteln bzw. Impfstoffen wiederherzustellen.

Was vor Jahren noch undenkbar schien, ist heute Realität. Gemeint ist nicht der Fortschritt in der Medizin, sondern das Phänomen der Lieferengpässe bei wichtigen Arzneimitteln. Diese existieren in den USA bereits seit längerem, erreichten dort im Jahr 2011 ihren Höchstwert mit insgesamt 267 neuen Lieferengpässen bei Arzneimitteln und haben seitdem deutlich abgenommen – vor allem aufgrund der von der Food and Drug Administration erlassenen Verordnung (FDA Safety and Innovation Act = FDASIA; 1-4). Diese Verordnung sieht unter anderem vor, dass pharmazeutische Unternehmer (pU) die FDA rechtzeitig über drohende Lieferengpässe informieren – bei unverzichtbaren, essenziellen Arzneimitteln bereits sechs Monate vor Unterbrechung oder vollständiger Einstellung der Produktion eines Arzneimittels (5).

In Europa waren Lieferengpässe früher eher selten, sind heute aber leider alltäglich und betreffen alle Gesundheitssysteme (2, 6). In Deutschland und Österreich ist das Problem seit 2012 angekommen und inzwischen aus Sicht der Krankenhausapotheker zum Tagesgeschäft geworden (7). Lieferengpässe tangieren Patienten, Apotheker, Ärzte sowie Pflegepersonal und gefährden – wenn essenzielle Arzneimittel nicht verfügbar sind – die Therapie und Sicherheit der Patienten (8). Die Gründe für Lieferengpässe sind vielfältig, wobei neben Qualitätsproblemen bei der Herstellung von Arzneimitteln bzw. Rohstoffen häufig ökonomische Gründe genannt werden, die pU dazu bewogen haben, ihre traditionell hohe Liefertreue aufzugeben (2, 8). Auf Minderung der Gewinnmargen, unter anderem infolge des Ablaufs von Patenten bei Blockbuster-Arzneimitteln und der Produktivitäts- (sog. „leere Pipelines“) sowie Innovationskrise in der pharmazeutischen Industrie (9), haben pU mit Optimierungsstrategien reagiert – beispielsweise durch Reduktion von Lagerkapazitäten und Zusammenlegung von Produktionsstandorten oder im Zuge der Globalisierung durch Verlegung von Produktionsstätten ins Ausland, insbesondere nach Asien. Auch die Mono- oder zumindest Oligopolisierung bei Herstellung der Rohstoffe bzw. Arzneimittel auf ein bis drei Erzeuger hat sicher zum Anstieg der Lieferengpässe beigetragen (8, 10). Diese Faktoren haben letztlich dazu geführt, dass herstellungsbedingte Risiken in Form häufiger Qualitätsmängel und Lieferengpässe die Versorgungssicherheit gefährden (10), Arzneimittel- und Beschaffungskosten erhöhen und sich negativ auf die Behandlung der Patienten auswirken.

Allerdings bedeutet nicht jeder Lieferengpass bei einem Arzneimittel (im angloamerikanischen Sprachraum als „drug shortage“ bezeichnet), dass auch die Versorgung der Patienten mit essenziellen Arzneimitteln gefährdet ist. Deshalb wird in der Literatur auch unterschieden zwischen Lieferengpässen bei Arzneimitteln und Versorgungsengpässen bei unverzichtbaren Arzneimitteln („drug supply bottleneck“) – d.h. für schwere Erkrankungen oder medizinische Notfallsituationen ist kein alternativer Wirkstoff verfügbar (3). Lieferengpässe bei Arzneimitteln verzögern oder verhindern jedoch nicht nur therapeutisch notwendige Maßnahmen, sondern zwingen Ärzte häufig auch, auf weniger wirksame, möglicherweise schlechter verträgliche und mitunter auch teurere Alternativen auszuweichen. Dies soll kurz an wenigen Beispielen aus der Onkologie illustriert werden.

Das zu den Nitrosoharnstoffen gehörende Zytostatikum Mechlorethamin (Mustargen®) gilt seit Jahrzehnten als Mittel der Wahl zur Behandlung des Hodgkin-Lymphoms im Kindesalter. Anlässlich eines Lieferengpasses für Mechlorethamin in den USA war es erforderlich, das Zytostatikum durch Cyclophosphamid zu ersetzen. Ein retrospektiver Vergleich bei pädiatrischen Patienten mit Hodgkin-Lymphom ergab, dass dieser Austausch von zwei alkylierenden Wirkstoffen im sog. Stanford-V-Protokoll zu einem deutlich kürzeren ereignisfreien Überleben bei den Kindern geführt hat, die mit Cyclophosphamid behandelt wurden (11).

Bei Patienten mit Blasenkrebs war es in verschiedenen europäischen Ländern erforderlich, dringend indizierte Therapien zu verschieben, bis für die intravesikale Behandlung nicht-invasiver urothelialer Harnblasenkarzinome mit BCG (Bacille Calmette-Guérin) Ersatz aus Indien bzw. Polen beschafft werden konnte. Andere onkologische Arzneimittel wie beispielsweise Melphalan, Carmustin (BCNU; Carmubris®), Carboplatin, Mitomycin, pegyliertes liposomales Doxorubicin (Caelyx®), Cytarabin mit verzögerter Wirkstofffreisetzung zur intrathekalen Injektion (DepoCyte®), Amsacrin (Amsidyl®) waren ebenfalls zeitweilig nicht verfügbar. Besonders die USA waren von Lieferengpässen bei onkologischen Arzneimitteln betroffen. Übersichtsarbeiten haben sich deshalb ausführlich mit den Auswirkungen auf Patienten beschäftigt: Verzögerung der Chemotherapie, erhöhtes Risiko für Medikationsfehler, Nebenwirkungen, Behandlung nicht entsprechend dem medizinischen Standard, Verzögerung oder sogar Abbruch klinischer Studien wegen nicht verfügbarer Arzneimittel und höhere Kosten der Therapie (z.B. 12).

Aus den USA liegen sogar Berichte vor, dass es Todesfälle gegeben hat, weil potenziell lebensrettende Arzneimittel nicht erhältlich waren, beispielsweise Amikacin oder Aciclovir (13). Soweit ist es in Europa glücklicherweise noch nicht gekommen; doch selbst die zahlreichen kleineren Ereignisse verunsichern die Patienten, erfordern großes Organisationstalent bei Apothekern und überlasten die in Gesundheitsberufen Tätigen. Dabei sind auch die ökonomischen Folgen zu bedenken: Die Suche nach Ersatzmedikamenten ist für Krankenhausapotheker oft zeit- und arbeitsintensiv und die Beschaffung ist in der Regel mit höheren Kosten verbunden. Lieferengpässe bei Arzneimitteln sind somit eine massive Herausforderung für die europäischen Gesundheitssysteme, die es entschlossen anzugehen gilt.

Häufige Ursachen für Lieferengpässe und betroffene Arzneimittel bzw. Indikationen (2, 4, 8, 14-19): Von Lieferengpässen in den vergangenen Jahren mit teilweise gravierenden Auswirkungen, vor allem auf die Arzneiversorgung in Krankenhäusern, waren in den USA und Europa neben Impfstoffen überwiegend parenterale Arzneimittel im generikafähigen Segment betroffen – beispielweise onkologische Wirkstoffe, Anästhetika, Arzneimittel für Notfallsituationen, Antibiotika bzw. Antimykotika, intravenös zu verabreichende Elektrolyte sowie Infusionslösungen für die parenterale Ernährung (14).

In einem aktuellen Gutachten – „Best-Practice-Ansätze bei Arzneimittelengpässen im internationalen Vergleich“ –, das der Branchenverband Pro Generika beim Beratungsunternehmen IMS Health in Auftrag gegeben hat, werden ähnliche Ursachen für Arzneimittelengpässe in den sieben untersuchten Ländern (u.a. Deutschland) genannt. Hierzu zählen vor allem folgende Kategorien: Herstellungs- bzw. Nachfrage-bedingte Lieferengpässe sowie Lieferengpässe, bedingt durch Preis- und Erstattungsregulierungen (15).

Für pU ist der Patentablauf eines umsatzträchtigen Medikaments ein einschneidendes Ereignis. Untersuchungen zu Arzneimittelpreisen im Krankenhausmarkt zeigen, dass diese dann innerhalb von ein bis zwei Jahren auf unter 10%, teilweise sogar auf unter 3% des Ausgangswerts zurückfallen (20). Das ist gut für die Kostenträger und entlastet die öffentlichen Gesundheitssysteme. Der pU wird aber versuchen, die Umsatzverluste zumindest teilweise aufzufangen. Dazu wird die Produktion der pharmazeutischen Wirkstoffe (active pharmaceutical ingredients = API) an Auftragshersteller in Ländern mit niedrigem Lohnniveau ausgelagert, z.B. in Indien oder China. Manche Wirkstoffe werden aus Rentabilitätsgründen gar nicht mehr hergestellt. Notwendige (Re-)Investitionen in Produktionsstätten werden verzögert oder unterbleiben ganz. Redundanzen wie die parallele Produktion an zwei oder mehreren Standorten werden aufgegeben. Bestehende Anlagen werden maximal ausgelastet und die Lagermengen werden minimiert. Für unvorhergesehene Ereignisse sind dann keine Reserven mehr da, und eventuell auftretende Probleme im Herstellungsprozess bewirken, dass plötzlich Liefer- oder sogar Versorgungsengpässe auftreten. Gelegentlich beschließt sogar ein pU, einen ehemaligen Blockbuster ganz vom Markt zu nehmen und bringt dadurch in einem „Domino-Effekt“ andere Anbieter in Schwierigkeiten, da diese die plötzlich stark steigende Nachfrage nach ihren Arzneimitteln nicht mehr befriedigen können.

In den vergangenen Jahren sind Patente für zahlreiche Antibiotika erloschen (z.B. Ciprofloxazin, Meropenem, Azithromycin u.a.) sowie in der Onkologie (Docetaxel, Gemcitabin, Ondansetron u.a.) und Intensivmedizin verwendete Wirkstoffe (Propofol, Midazolam, Rocuroniumbromid, Remifentanyl u.a.). Aufgrund sinkender Preise verloren diese Arzneimittel rasch ihre ursprünglich lukrative Bedeutung für pU. Obwohl ihr therapeutischer Stellenwert unverändert hoch ist, sind oder waren sie, ebenso wie viele andere alte, therapeutisch wertvolle und oft schwer zu ersetzende Arzneimittel mittlerweile mehrfach von Lieferengpässen betroffen – beispielweise Ampicillin und Sulbactam, Amoxicillin und Clavulansäure, Kalziumfolinat, 5-Fluorouracil. Andere Arzneimittel stehen nur rationiert (z.B. Piperacillin plus Tazobactam) oder in bestimmten Wirkstoffstärken (z.B. Valoron, Digitoxin) zur Verfügung. Wochen-, mitunter auch monatelang, sind Arzneimittel in viel zu geringen Mengen oder gar nicht verfügbar bzw. müssen mühsam über Importe aus ausländischen Quellen beschafft werden.

Gleichzeitig erweisen sich die pU bei neuen, hochpreisigen Arzneimitteln, welche die älteren, bewährten Arzneimittel aber nicht ersetzen, sondern allenfalls ergänzen können, weiterhin als enorm leistungsfähig. Lieferengpässe kommen hier so gut wie nicht vor. So erscheint es dringend geboten, über den „gerechten Preis“ – besser „volkswirtschaftlich gerechtfertigten Preis“ – für Arzneimittel und die Auswirkungen von Marktmechanismen nachzudenken.

Andererseits gibt es Instrumente, wie z.B. Ausschreibungen oder Rabattverträge, die die Planung der Produktionsmengen von Arzneimitteln für die pU sehr erschweren und auch zu Lieferengpässen beitragen können. Weiterhin ist hier der Parallelimport zu nennen. Er soll durch Steigerung des Wettbewerbs vor dem Patentablauf zur Kostendämpfung beitragen und tut dies nachweislich auch. Wenn aber Arzneimittel in einem größeren Ausmaß durch Parallelimporteure aus einem Land in ein anderes exportiert werden, stehen diese Mengen dort nicht mehr zur Verfügung und Versorgungsengpässe im Quellmarkt sind regelmäßig die Folge. Diese und andere „Nebenwirkungen“ machen den Parallelimport zu einem fragwürdigen Instrument der Preispolitik. Man sollte sich daher seitens der europäischen Gesundheitspolitik andere Wege überlegen, wie Arzneimittelpreise vor Patentablauf auf ein gerechtfertigtes Niveau gebracht werden können.

Maßnahmen, um Lieferengpässe zukünftig zu vermeiden (2, 5, 21-24): Das deutlich niedrigere Preisniveau nach Ablauf des Patentschutzes trägt zu den dargestellten Problemen bei. Dies wird auch in dem Gutachten von IMS Health als wesentliche Ursache von Engpässen bei Generika genannt. Dementsprechend spielt aus Sicht der Generikaherstelller das Zusammenspiel aus Preis, Qualität und Produktion eine entscheidende Rolle, um Lieferengpässe zu vermeiden (15). Höhere Preise könnten helfen, die Produktion von Arzneimitteln der Kategorie „alt aber gut“ für die pU wieder attraktiver bzw. lukrativer zu machen. Der höhere Preis muss dann aber zu höherer Produkt- und Lieferqualität verpflichten. In den meisten Staaten besteht zwar bereits eine Lieferverpflichtung des Zulassungsinhabers, gegen die aber immer unverfrorener (der Engpass ist ja schließlich „schicksalhaft“ entstanden) und sanktionslos verstoßen wird. Diese Verpflichtung – mehr Geld für mehr Liefertreue – kann aber nur auf der Ebene eines Staates oder besser der europäischen Staatengemeinschaft mit dem gesundheitspolitisch gewünschten Ziel verwirklicht werden. Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zeigen, dass pU gerne bereit sind, gegenüber „A-Kunden“, beispielsweise gegenüber großen Krankenhausketten, strafbewehrte Liefergarantien abzugeben, um dann bei Knappheit die benötigten Mengen dadurch aufzubringen, dass sie „B-Kunden“, also kleinere Krankenhausgruppen oder sogar kleinere Staaten, kurzfristig nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr beliefern.

Zudem lohnt es sich, über das Preisniveau zu Beginn des Lebenszyklus eines Arzneimittels – unmittelbar nach Zulassung – nachzudenken. Gerade in neuerer Zeit gibt es Beispiele für exzessive Steigerungen der Therapiekosten bei Neueinführungen. Man hat den Eindruck, dass hier nach der Methode „mal sehen, was geht“ Präzedenzfälle geschaffen werden sollen. Gleichzeitig ist bei vielen neuen Wirkstoffen der Zusatznutzen aufgrund der Studienlage bei Markteinführung noch nicht quantifizierbar bzw. nicht belegbar, so dass nicht zu entscheiden ist, wie viel „value for money“ dabei geboten wird (25-27). Es ist aber offensichtlich, dass (exzessiv) hohe Preise für neue Arzneimittel die Produktion alter, kostengünstiger Arzneimittel unattraktiv machen. Stattdessen werden die knappen Produktionsressourcen völlig marktrational für Arzneimittel eingesetzt, die sich finanziell mehr lohnen.

Verschiedene nationale – grundsätzlich ähnliche – Maßnahmen sind laut Gutachten von IMS Health ergriffen worden, um Lieferengpässe zu reduzieren. Hierzu zählen unter anderem: enge Zusammenarbeit der pU mit Zulassungs- und Überwachungsbehörden, Melderegister, Liste essenzieller Arzneimittel, verpflichtende Mindestlagerbestände, beschleunigte Zulassung für Produkte oder Produktionsanlagen, Importregelungen und verpflichtende Meldung von „Außervertriebnahme“ zugelassener Arzneimittel (15).

In Deutschland sind von diesen Maßnahmen bisher nur einige umgesetzt worden. Seit April 2013 existiert beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ein öffentlich zugängliches Register in Form einer Online-Datenbank. Dieses Register versteht unter einem Lieferengpass „eine über voraussichtlich zwei Wochen hinausgehende Unterbrechung einer Auslieferung im üblichen Umfang oder eine deutlich vermehrte Nachfrage, der nicht angemessen nachgekommen werden kann“ und enthält momentan 20 Arzneimittel (28). Die Übersicht des BfArM zu Lieferengpässen umfasst detaillierte Angaben, beispielweise zu Wirkstoff, Arzneimittel mit Pharmazentralnummer sowie Dauer und Gründe des Lieferengpasses. Diese Online-Datenbank wird jedoch von Apothekern und Ärzten im Alltag nur selten konsultiert, da sie – als freiwilliges Meldesystem für pU – häufig keine aktuellen Informationen zu nicht verfügbaren Arzneimitteln liefert und somit Apotheker, Ärzte und Kliniken nicht in die Lage versetzt, sich rechtzeitig auf Lieferengpässe einzustellen.

Auch die seit Ende 2012 auf der Webseite der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) dokumentierten Lieferengpässe basieren – anders als in den USA – auf freiwilligen Informationen der Zulassungsinhaber und sind für Apotheker und Ärzte wenig aussagekräftig. Momentan enthält der von der EMA veröffentlichte Katalog über Lieferengpässe nur fünf Arzneimittel (29, 30).

Das Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz = AMG; Stand: 17.12.2014) sieht weitere Maßnahmen vor, um die Versorgung mit Arzneimitteln zu garantieren (31). Hierzu zählen in erster Linie: § 52b („Bereitstellung von Arzneimitteln“; gesetzlicher Auftrag, eine angemessene und kontinuierliche Bereitstellung von Arzneimitteln sicherzustellen), § 72 („Einfuhrerlaubnis“), § 73 („Verbringungsverbot“; in Absatz 3 mit der Möglichkeit eines Imports eines in Deutschland nicht verfügbaren Arzneimittels) und § 79 („Ausnahmeermächtigungen für Krisenzeiten“; in Absatz 5 mit Ausnahmeregelungen – bei lebensbedrohlichen Erkrankungen oder bedrohlichen übertragbaren Krankheiten – für in Deutschland nicht zum Verkehr zugelassene Arzneimittel oder Impfstoffe). Diese Maßnahmen waren jedoch in der Vergangenheit nicht ausreichend, um Liefer- und vor allem Versorgungsengpässe bei Arzneimitteln oder Impfstoffen immer wirksam zu verhindern. Andere Maßnahmen, wie enge Zusammenarbeit der pU mit Zulassungsbehörden, Liste mit essenziellen Arzneimitteln oder beschleunigte Zulassung für Produkte bzw. Produktionsanlagen sind für Deutschland bisher nicht umgesetzt. Leider wurde bei der letzten Änderung des AMG auch die in § 52b ursprünglich vorgesehene Eingriffbefugnis der Landesbehörden zur Durchsetzung des öffentlich-rechtlichen Bereitstellungsauftrags der pU wieder gestrichen.

Auf der Suche nach den Ursachen von Lieferengpässen geht es nicht primär darum, einen Schuldigen zu finden. Vielmehr müssen die zugrundeliegenden Mechanismen des Markts erkannt werden, weil erst dadurch gezielt gegengesteuert werden kann. Die pU verhalten sich in der gegebenen Situation so, wie sich Unternehmer verhalten, die primär am Gewinn orientiert sind. Und sie nehmen dabei in Kauf, dass ihr Verhalten gesundheitspolitisch unerwünschte Konsequenzen hat: Qualitätsprobleme und Lieferengpässe bei essenziellen Arzneimitteln sowie Gefährdung der Wirksamkeit und Sicherheit einer medizinisch indizierten Arzneimitteltherapie. Es hängt von der jeweiligen gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Anschauung ab, ob man das als „Marktversagen“ bezeichnen will (32). Unsere feste Überzeugung ist, dass etwas weniger „Markt“ und etwas mehr Orientierung an den medizinischen Zielen zur Entspannung der Situation beitragen könnte und somit letztlich im Interesse beider Seiten ist.

Hier ist die europäische Gesundheitspolitik gefragt, sich des Artikels 168 des Unionsvertrags zu erinnern und im Sinne der Abwehr einer Gefahr für die Gesundheit der Unionsbürger die Rahmenbedingungen für eine qualitativ gute und sichere Arzneiversorgung neu zu definieren. Ein fertiges Patentrezept abzuliefern, ist schwierig, aber einige Eckpunkte lassen sich doch festmachen.

Die Arzneiversorgung der europäischen Staatengemeinschaft hat sich als verwundbar erwiesen und muss wieder vermehrt auf Qualität und Versorgungssicherheit ausgerichtet werden. So wie bei anderen wichtigen Wirtschaftsgütern, etwa bei Erdöl und Gas, ist der Aufbau strategischer Reserven auch aus geopolitischen Erwägungen dringend geboten (33). Bei der Herstellung und Versorgung mit Arzneimitteln bedeutet dies, dass Ressourcen – von der Produktion des Wirkstoffs bis zur Konfektionierung des Fertigarzneimittels – innerhalb der Europäischen Union (wieder) aufgebaut werden müssen. Zugleich sollten auch Produktionsreserven gefördert werden, um Lastspitzen und unvorhergesehene Ausfälle zu bewältigen.

Weiterhin sollten durch eine „gerechte Preispolitik“ Signale gesetzt werden, damit die Herstellung insbesondere intravenös zu verabreichender Generika langfristig planbar und ökonomisch attraktiv wird. Die regulatorischen Behörden, die bisher bei Lieferengpässen vielfach einen hilflosen Eindruck machten, sind mit jener Exekutivgewalt auszustatten, die erforderlich ist, um Fehlverhalten adäquat zu sanktionieren, z.B. wenn pU gezielt Arzneimittel in attraktivere Märkte abfließen lassen oder bewusst Re-Investitionen in bestehende Produktionsanlagen verzögern. Zugleich müssen Behörden ihre Funktion als Marktaufsicht im Sinne von „Qualität mit Augenmaß“ ausüben und auf diese Weise ein regulatorisches Umfeld mit Planungssicherheit für die Aktivitäten der pU schaffen. Für die zukünftig dann hoffentlich wieder seltener auftretenden Lieferengpässe sind Vorgehensweisen zu etablieren (Information, gerechte Zuteilung bei knappen Mengen, Aktivierung von Produktionsreserven etc.), bei denen den Arzneimittelbehörden eine zentrale koordinierende Funktion zukommt.

Literatur

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