Zusammenfassung: Eine aktuelle Untersuchung ergab bei einem mit CT ermittelten koronaren Kalzium-Score von 0 bzw. < 10 sowie beim Fehlen atherosklerotischer Plaques in den Karotiden (Sonographie) besonders starke negativ-prädiktive Auswirkungen auf das kalkulierte Risiko kardiovaskulärer Ereignisse. Solche Befunde, die also das prognostizierte Risiko herabstufen, könnten bei der Entscheidung gegen die Einleitung einer primärpräventiven Statin-Medikation hilfreich sein, besonders wenn insgesamt nur ein intermediäres Risiko besteht. Bei vorhandenen (auch subklinischen) atherosklerotischen Veränderungen muss die Indikation zur Prävention hingegen weiterhin den aktuellen Leitlinien entsprechend gestellt werden. Künftige kardiovaskuläre Risikokalkulatoren sollten negative Befunde aus bildgebenden Verfahren als risikosenkende Faktoren berücksichtigen. Auch neue Biomarker, wie z.B. Galectin-3, könnten künftig bei der Entscheidung gegen eine präventive medikamentöse Behandlung eine wichtige Rolle spielen.
Fehlende atherosklerotische Veränderungen in Koronararterien und Halsschlagadern sowie niedrige Serumspiegel des Biomarkers Galectin-3 (s. Legende Tab. 1) sind negative Prädiktoren für kardiovaskuläre Ereignisse. Sie könnten künftig dazu beitragen, Arzneimittel zur Primärprävention, z.B. Statine, weniger häufig zu verordnen. Darauf weisen dänische und amerikanische Autoren in einer aktuellen Publikation im J. Am. Coll. Cardiol. hin (1).
Die Forscher untersuchten, inwieweit 13 sehr unterschiedliche Faktoren aus Laboranalytik, Bildgebung und Anamnese (s. Tab. 1) in der Lage sind, das kalkulierte kardiovaskuläre Risiko in einer Kohorte von 5.805 älteren Erwachsenen (mittleres Alter 69 Jahre; 44% Männer) herabzustufen. Es handelte sich um eine Kohorte, bei der bisher keine atherosklerotischen kardiovaskulären Erkrankungen (ASCVD) diagnostiziert worden waren (Primärprävention). Das 10-Jahres-ASCVD-Risiko der Teilnehmer wurde mittels des im Internet frei verfügbaren Kalkulators „ASCVD-Risk-Estimator“ (2) ermittelt, wie es die kürzlich vom American College of Cardiology (ACC) und der American Heart Association (AHA) publizierten Leitlinien zur cholesterinsenkenden Therapie vorsehen (3). Dieses so ermittelte Risiko lag in der Gesamtkohorte bei 16,4%, und 86% der Teilnehmer kamen nach den in den USA aktuell gültigen Leitlinien für eine Statin-Therapie in Frage (vgl. 4). Bei der Kohorte handelt sich um Teilnehmer der BioImage-Studie, einer US-amerikanischen prospektiven Kohortenstudie aus dem Jahr 2016 zur Evaluierung von Biomarkern in der Primärprävention atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankungen (5).
Als klinische Endpunkte wurden Koronare Herzkrankheit (KHK = Myokardinfarkt, instabile Angina pectoris, koronare Revaskularisation) und kardiovaskuläre Erkrankungen (KVE = KHK, ischämischer Schlaganfall, kardiovaskulärer Tod) definiert.
Ergebnisse: Während der Nachbeobachtung von 2,7 Jahren traten KHK-Erstereignisse bei 91 (1,6%) und KVE-Erstereignisse bei 138 (2,4%) Personen auf. Als stärkster negativer Risikoprädiktor erwies sich ein mittels CT gemessener koronarer Kalzium-Score von 0 bzw. < 10. Ein solcher wurde bei 32% bzw. 38% der Kohorte gefunden und ergab ein mittleres diagnostisches Wahrscheinlichkeitsverhältnis (mean diagnostic likelihood ratio = DLR) für KHK von jeweils 0,20. Dies bedeutet ein um 80% geringeres tatsächliches Risiko als mit dem konventionellen „ASCVD-Risk-Estimator“ ermittelt wird. Als weitere bedeutende negative Risikofaktoren folgten Galectin-3 (DLR für KHK: 0,44) und fehlende Karotisplaques (DLR für KHK: 0,39). Alle übrigen Risikomarker zeigten deutlich weniger starke Assoziationen (s. Tab. 1).
Diskussion: Nach Ansicht der Autoren könnte die konsequente Berücksichtigung von negativ-prädiktiven Faktoren künftig zu einem stärker individualisierten Einsatz primärpräventiver Maßnahmen führen. Der Ausschluss struktureller atherosklerotischer Veränderungen in Koronarien und Karotiden mittels CT bzw. Sonographie ermögliche eine deutliche Herabstufung des prognostizierten Risikos („Risk Reducers“). Wenn dieses unter die Schwelle für eine primärpräventive Statin-Therapie gesenkt werde, könne damit eine unnötige (Über-)Behandlung von Personen, die nicht von dieser Therapie profitieren, vermieden werden.
Die geltenden US-amerikanischen Leitlinien geben eine uneingeschränkte Empfehlung für eine primärpräventive Statin-Therapie nur für die Altersgruppe 40-75 Jahre bei ausgeprägter Hyperlipidämie (LDL ≥ 190 mg/dl), Diabetes mellitus oder einem sehr hohen kalkulierten 10-Jahres-Risiko (≥ 20%). Im „intermediären“ Risikobereich (10-Jahres-Risiko ≥ 7,5% bis < 20%) wird eine individuelle Diskussion unter Berücksichtigung zusätzlicher risikoerhöhender Faktoren („Risk Enhancers“) empfohlen: Dazu zählt – mit einer Klasse-IIa-Empfehlung – die Bestimmung des koronaren Kalzium-Scores mittels CT. Diese Methode ist mit einer nur geringen Strahlenbelastung für die Patienten verbunden. Es wird aber auch die Berücksichtigung auffälliger Befunde angeraten bei Familienanamnese, Knöchel-Arm-Index, bei bestimmten Laborwerten (hsCRP, Apolipoprotein B, Lipoprotein(a)), sowie eine chronische Niereninsuffizienz und inflammatorische Erkrankungen.
Die Daten aus der BioImage-Studie (1) weisen darauf hin, dass neben dem bekannten positiv-prädiktiven Wert („Risk Enhancer“) eines Nachweises atherosklerotischer Veränderungen der Arterienwände mittels bildgebender Diagnostik (CT bzw. Sonographie) ein Ausschluss solcher Veränderungen einen deutlich negativ-prädiktiven Wert („Risk Reducer“) hat. Ob das von den Autoren propagierte Konzept der „negativen Risikofaktoren“ das derzeit übliche Abschätzen des kardiovaskulären Risikos klinisch bedeutsam ergänzt, ist unseres Erachtens allerdings noch unklar – insbesondere, weil als bedeutsame „negative Risikofaktoren“ ja nur die Abwesenheit atherosklerotischer Veränderungen und eine Erhöhung des Biomarkers Galectin-3 gefunden wurden. Die Daten zeigen jedoch einmal mehr, dass das Abschätzen des individuellen kardiovaskulären Risikos und damit auch das Abwägen von Risiken und Nutzen einer medikamentösen Primärprävention sehr komplex sind und über die in den konventionellen Risikokalkulatoren enthaltenen Faktoren hinausgehen. Künftige Kalkulatoren werden wohl eine wesentlich größere Zahl unterschiedlich zu gewichtender Befunde (Anamnese, Laborwerte, bildgebende Verfahren, Funktionsdiagnostik, genetische Befunde?) berücksichtigen müssen.
Literatur
- Mortensen, M.B., et al. (BioImage): J. Am. Coll. Cardiol. 2019, 74, 1. Link zur Quelle
- https://tools.acc.org/ldl/ascvd_risk_estimator/index.html Link zur Quelle
- Grundy, S.M., et al.: J. Am. Coll. Cardiol. 2019, 73, e285. Link zur Quelle. Erratum: J. Am. Coll. Cardiol. 2019, 73, 3237.
- AMB 2014, 48, 01. Link zur Quelle
- Mortensen, M.B., et al. (BioImage): J. Am. Coll. Cardiol. 2016, 68, 881. Link zur Quelle
- Hrynchyshyn, N., et al.: Arch. Cardiovasc. Dis. 2013, 106, 541. Link zur Quelle
- van der Velde, A.R., et al.: (CORONA = COntrolled ROsuvastatin multiNAtional trial in heart failure und COACH = Coordinating study evaluating Outcomes of Advising and Counseling in Heart failure): Circ. Heart Fail. 2013, 6, 219. Link zur Quelle
- Motiwala, S.R., et al.: Eur. J. Heart Fail. 2013, 15, 1157. Link zur Quelle