Cerivastatin war nach Pharmakokinetik und -dynamik ein durchaus verheißungsvolles Statin. Durch seinen Abbau über zwei Zytochromsysteme waren Interaktionen mit anderen Medikamenten zwar wahrscheinlich; sie schienen aber durch diesen dualen Metabolisierungsweg nicht sehr gefährlich zu sein. Cerivastatin war entwickelt worden, um bei geringerer Substanzmenge im Vergleich zu anderen Statinen eine gleiche Wirksamkeit und weniger unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) zu haben. In der Fachinformation waren die UAW und somit auch die Risiken der Therapie beschrieben, z.B. das Risiko bei einer Kombination mit Fibraten. Ärzte und Patienten hatten die Möglichkeit, sich umfassend zu informieren. Eigentlich konnte gar nichts Böses passieren. Aber es kam ganz anders, weil die Indikationen für Statine allgemein so ausgeweitet wurden, daß sie fast schon zu Lifestyle-Mitteln gehören, weil Wechselwirkungen nicht bedacht und beachtet wurden und weil – besonders fahrlässig und nun ein Fressen für Juristen – Patienten nicht intensiv genug über UAW aufgeklärt wurden.
Schon im Mai 2001 war der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AKdÄ) aufgefallen, daß sich unter den Nebenwirkungsmeldungen zu Cerivastatin prozentual erheblich mehr Rhabdomyolysen als bei anderen Statinen fanden. Deshalb wurde Anfang Juni 2001 im Nebenwirkungsausschuß der AKdÄ dieser Sachverhalt bearbeitet und eine Bekanntgabe im Deutschen Ärzteblatt beschlossen. Die Reaktionen des Bundesinstituts für Arzneimittel (BfArM) und der Herstellerfirma kamen erst deutlich später. Das nationale Spontanerfassungssystem hatte zwar alarmiert und die AKdÄ reagiert, aber das Signal wurde auf der Behördenseite verzögert wahrgenommen.
Das Spontanerfassungssystem in Deutschland mag vielleicht anfällig für Manipulationen sein, es ist aber offenbar empfindlicher als man denkt. Natürlich kann es verbessert werden: Wir müssen mehr UAW an die AKdÄ oder an das BfArM melden, speziell bei solchen Präparaten, die erst weniger als etwa fünf Jahre auf dem Markt sind. Diese Präparate sollten auch auf der Verpackung als solche besonders gekennzeichnet sein. Die Meldung von UAW neuer Präparate sollte zur Pflicht gemacht werden. Der elektronische Berichtsbogen, an dem AKdÄ und BfArM zur Zeit arbeiten, kann vielleicht die Zahl, sicher aber die Qualität der Meldungen erhöhen.
Die Daten aller nationalen Meldesysteme (Hersteller, AKdÄ, BfArM, deutsche Spezial-Erfassungssysteme) sollten zusammengeführt und gemeinsam ausgewertet werden und zwar zeitnah und kompetent. In den Datenfluß muß auch die europäische Behörde (EMEA) eingeschlossen sein. Die dortige Informationspolitik scheint sich allerdings mehr an wirtschaftspolitischen Interessen als an den Interessen von Patienten und Ärzten zu orientieren. Deswegen haben lokale und nationale Meldesysteme eine besondere Bedeutung: kritische Fragen an die zentrale Behörde können auf dem Boden eigener Daten besser formuliert werden. Auch bei der innerdeutschen Zusammenarbeit zwischen der AKdÄ und dem BfArM scheint es Bereiche zu geben, in denen die Kooperation verbessert werden kann. Die Diskussion um Cerivastatin zeigt, wie bedeutsam zusätzlich verordnete Arzneimittel für das Zustandekommen von UAW sein kann. Selbstverständlich müssen daher die Zusatzmedikationen bei jeder Meldung von UAW genau mit angegeben und ausgewertet werden.
Welche Forderungen können nach dem Cerivastatin-Fall bzw. dem Fall von Cerivastatin zur Steigerung der Arzneimittelsicherheit erhoben werden?
1. Pharmakologie und Klinische Pharmakologie sind nicht nur theoretische Grundlagenfächer; sie müssen mehr als bisher in der klinischen Praxis verankert werden. Zum Beispiel gibt es in allen Krankenhäusern zwar Röntgenvisiten, Tumor- oder Herzkonferenzen, aber in welcher Arzneimittelkommission eines Krankenhauses werden akut aufgetretene Arzneimittelnebenwirkungen systematisch registriert, diskutiert und weitergemeldet? Wir alle müssen jede Indikation einer Pharmakotherapie und ihre potentiellen UAW noch mehr als bisher ins Kalkül ziehen, an sie denken und diagnostizieren und – speziell bei neu auf den Markt gekommenen Medikamenten – unbedingt melden. Die Qualität der Meldedaten muß erhöht und die Auswertung gestrafft werden. Die Daten der Erfassungssysteme müssen ausgetauscht und rasch – auch im nationalen und europäischen Rahmen – veröffentlicht werden. Warum gibt es z.B. keinen jährlichen Nebenwirkungs-Report, ähnlich dem Arzneiverordnungs-Report? Es darf auch nicht sein, daß die Veröffentlichung von UAW davon abhängt, ob sie sich möglicherweise nachteilig auf den Umsatz der Hersteller niederschlägt. Offenheit muß auch in der europäischen Gesetzgebung sichergestellt sein.
2. Ein Arzneimittelpaß wäre eine gute Möglichkeit, den jeweils behandelnden Ärzten die Vormedikation der Patienten zu offenbaren. Das wäre eine große Hilfe bei der Einlieferung eines Patienten ins Krankenhaus, bei der Entlassung zur ambulanten Weiterbehandlung und bei der gleichzeitigen Behandlung eines Patienten in mehreren Praxen. Diese Information wäre eine wichtige Voraussetzung dafür, Parallelmedikationen zu vermeiden sowie Interaktionen vorauszusehen und zu erkennen und auf diese Weise Gefahren von Patienten abzuwenden. Ein solcher Arzneimittelpaß muß allerdings wie jede Datenbank sorgfältig gepflegt und aktualisiert werden, um die gewünschte Sicherheit zu gewährleisten. Er ist natürlich ein intimes und persönliches Dokument, das fälschungssicher in der Verfügungsgewalt des Patienten bleiben muß und nicht in falsche Hände geraten darf. Ein unabdingbares Ziel, das Datenschützern sicher noch großes Kopfzerbrechen bereiten dürfte.