Anwendungsbeobachtungen (AWB) sind eine Untergruppe der nicht-interventionellen Studien (NIS). AWB werden nach der Zulassung von Arzneimitteln mit regulärer Handelsware, in üblicher Dosierung und innerhalb der zugelassenen Indikation durchgeführt. Die Behandlung im Rahmen einer AWB folgt ausschließlich der ärztlichen Praxis, und es gibt keinen vorab festgelegten Prüfplan. Es dürfen keine zusätzlichen diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen an den teilnehmenden Patienten vorgenommen werden (1, 2). Anderenfalls handelt es sich um eine genehmigungspflichtige klinische Prüfung.
AWB sind abzugrenzen von Post-Authorisation Safety Studies (PASS) oder Post-Authorisation Efficacy Studies (PAES), die von den regulatorischen Behörden, vor allem der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA), im Rahmen beschleunigter Zulassungsverfahren, zunehmend häufig angeordnet oder freiwillig von den pharmazeutischen Unternehmern (pU) durchgeführt werden (3). Eine Übersicht über die Prüfungen und ihre Definitionen gibt Tab. 1. Wie alle NIS sind auch AWB in Deutschland und Österreich nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) registrierpflichtig. Die nationalen und europäischen NIS-Register sind öffentlich einsehbar (4-6).
Gründe zur Durchführung einer AWB können sein: Therapieoptimierung (z.B. optimale Behandlungsdauer), Wirksamkeit und Sicherheit im Kontext anderer Arzneimittel und Komorbiditäten sowie Marktforschung („drug utilization“). Wir haben schon mehrfach darauf hingewiesen, dass es bei der Mehrzahl der von den pU initiierten AWB wahrscheinlich allein darum geht, die Verkaufszahlen des „untersuchten“ Arzneimittels zu steigern („seeding trials“) und den teilnehmenden Ärzten Geld zukommen zu lassen („legale Korruption“; vgl. 7, 8). Beides ist nach dem deutschen Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln explizit unzulässig (AMG § 67 Abs. 6). Demnach ist die Vergütung „nach ihrer Art und Höhe so zu bemessen, dass kein Anreiz für eine bevorzugte Verschreibung oder Empfehlung bestimmter Arzneimittel entsteht“ (9).
Im AMG ist auch geregelt, dass jeder, der „Untersuchungen durchführt, die dazu bestimmt sind, Erkenntnisse bei der Anwendung zugelassener oder registrierter Arzneimittel zu sammeln“, dies den zuständigen Bundesoberbehörden (BfArM oder PEI), der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und dem Verband der Privaten Krankenversicherung e.V. (GKV) unverzüglich anzeigen muss. Dabei sind Ort, Zeit, Ziel und Beobachtungsplan der AWB anzugeben sowie gegenüber der KBV und dem GKV die beteiligten Ärzte namentlich mit Angabe der lebenslangen Arztnummer zu benennen (9). Seit 2009 muss darüber hinaus innerhalb eines Jahres nach Abschluss der Datenerfassung ein Abschlussbericht der zuständigen Bundesoberbehörde (BfArM bzw. PEI) vorgelegt werden. Dieser muss neben den tatsächlichen Patientenzahlen auch die Namen der teilnehmenden Ärzte einschließlich deren Vergütung beinhalten.
Im Auftrag der deutschen Sektion von Health Action International (HAI) haben nun Epidemiologen und Vertreter von Transparency International (TI) Deutschland die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben in Deutschland über einen Zeitraum von drei Jahren (2008-2010) untersucht (10). Dabei hatten die Autoren zunächst große Schwierigkeiten an die Daten zu den AWB von KBV, GKV und BfArM heranzukommen. Auf ihre erste Anfrage 2011 erhielten sie nur von der GKV eine tabellarische Aufstellung aller AWB. Diese Tabellen enthielten jedoch keine Originaldokumente und keine Angaben zu den Arzthonoraren. KBV und BfArM lehnten das Gesuch mit dem Hinweis auf Arbeitsüberlastung und dem Schutz von Geschäftsgeheimnissen ab. Daraufhin verklagte TI die KBV und das BfArM auf Dokumenteneinsicht. Auf dem Umweg über zwei Verwaltungsgerichtsverfahren erhielten die Autoren drei Jahre später von der KBV 6.925 Seiten Originaldokumente (ein Sammelsurium aus E-Mails, Briefen, Verträgen, Studienplänen und Arztlisten) und vom BfArM 142 Seiten mit Tabellen (keine Originaldokumente). Bei der Analyse der Dokumente fiel auf, dass die drei Institutionen mit unterschiedlichen Zahlen hinsichtlich der Studienteilnehmer operierten (BfArM: n = 499, KBV: n = 558 und GKV: n = 598 AWB). Für die nachfolgend geschilderte deskriptive Statistik verwendeten die Autoren die Informationen der KBV, weil nur diese Originaldokumente enthielten, die auf der Webseite des British Medical Journal abrufbar sind (11; barrierefrei).
Ergebnisse: Zwischen 2008-2010 wurden jährlich ca. 185 AWB registriert. Über 94% der AWB hatten Arzneimittel zum Inhalt, mehrheitlich aus den Gruppen der Biologika, den nicht-rezeptpflichtigen Präparaten (OTC), Hämatologika bzw. Onkologika, Neurologika, Analgetika und Endokrinologika. Nur ein Drittel (n = 171) der AWB untersuchte neu zugelassene Arzneimittel (definiert als Zulassung < 2 Jahre vor Beginn der AWB).
Der Umfang der AWB-Meldungen war sehr heterogen: bei 54% (304 von 558) umfassten die Unterlagen < 10 Seiten, bei 11% (63 von 558) < 3 Seiten. Bei 72% der AWB lag kein strukturierter Studienplan oder ein Studienprotokoll vor – auch in den Jahren 2009 (79%) und 2010 (60%), nachdem dies vom AMG vorgeschrieben wurde. Die Qualität der vorliegenden 158 Studienprotokolle wurde von den Autoren als gering bewertet. So fehlten bei 35% die gesetzlich vorgeschriebenen Informationen über die gezahlten Ärztehonorare und bei 17% die Patientenzahlen.
Die weitere Analyse umfasste insgesamt 558 AWB, an denen 126.000 Ärzte (Mehrfachteilnahmen wahrscheinlich) und 1,07 Mio. Patienten beteiligt waren. Die mediane Patientenzahl pro AWB betrug 600 (Spanne 2-75.000). Somit waren die medianen Patientenzahlen der AWB geringer als die in den Phase-III-Studien. Selbst bei den 171 AWB, die neu zugelassene Arzneimittel untersuchten, wurden nur bei einem Drittel > 1000 Patienten eingeschlossen. Da zum Aufspüren von seltenen Nebenwirkungen deutlich mehr Patienten erforderlich sind, darf bezweifelt werden, dass die Hauptmotivation zur Durchführung einer AWB die Pharmakovigilanz ist, was von pU als Hauptbegründung für AWB genannt wird (12).
AWB werden von den meisten pU durchgeführt. Die Autoren identifizierten 148 verschiedene pU als Sponsor einer AWB. Diese gaben etwa 500.000 € pro AWB aus (insgesamt 217 Mio. €), wobei der größte Teil des Geldes auf Arzthonorare entfiel. Das mediane Arzthonorar pro eingeschlossenen Patient betrug 200 € (Spanne 0-7.280 €). Die meisten Ärzte verdienten an einer AWB zwischen 1.000-10.000 €, einige > 200.000 €. Ob die gesetzliche Vorgabe erfüllt wird, dass keine pekuniären Anreize für eine bevorzugte Verschreibung des untersuchten Arzneimittels entstehen dürfen, darf bezweifelt werden.
Wichtig erscheint uns auch, dass bei nahezu allen AWB die Inhalte, Ergebnisse und Daten vertraglich als streng vertraulich und als Eigentum des Sponsors bzw. pU deklariert wurden. Dies könnte implizieren, dass die Ärzte ihrer standesrechtlichen Verpflichtung zur Meldung von Nebenwirkungen an die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft bzw. die Bundesoberbehörden nicht ordnungsgemäß nachgehen können. Die Studienärzte sollen beobachtete Nebenwirkungen an den Studiensponsor melden. Ob dieser die Meldungen tatsächlich dem BfArM oder PEI weitergibt, war nicht zu klären und wird von den Autoren bezweifelt. Auch die Suche nach Veröffentlichungen der AWB-Ergebnisse verlief nahezu ergebnislos: Nur fünf abgeschlossene AWB konnten bis Ende 2015 als reguläre Publikation in PubMed oder Medline gefunden werden.
Die Daten belegen, dass AWB ganz überwiegend der Verkaufsförderung von Arzneimitteln dienen. Daher sollten Ärzte nur dann an AWB teilnehmen, wenn bestimmte Vorgaben erfüllt sind, wie klinisch relevante Fragen und Endpunkte, ein nachvollziehbarer Prüfplan, ausreichend hohe Patientenzahlen, gesicherte Meldung der Nebenwirkungen an Bundesoberbehörden und AkdÄ, sowie vollständige Transparenz von Studienergebnissen und Offenlegung der Arzthonorare gegenüber den Patienten.
Fazit: Sehr viele pharmazeutische Unternehmer führen Anwendungsbeobachtungen (AWB) durch und wenden hierfür enorme Summen auf. Ein Großteil dieses Geldes landet in den Taschen der teilnehmenden Ärzte. Die Melde- und Berichtsqualität der allermeisten AWB ist mangelhaft und die gesetzlichen Standards werden offensichtlich von den Sponsoren nicht ausreichend beachtet. Die Studienergebnisse, einschließlich der beobachteten Nebenwirkungen, sind intransparent und wegen vertraglicher Geheimhaltungsklauseln und Datenbesitz beim Sponsor nicht überprüfbar. Diese für die Öffentlichkeit verlorenen Daten betreffen Millionen von Patienten. Die Mehrzahl der AWB rekrutiert außerdem viel zu wenige Patienten, um einen sinnvollen Beitrag zur Arzneimittelsicherheit leisten zu können.
Literatur
- GemeinsameBekanntmachung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte und desPaul-Ehrlich-Instituts zur Anzeige von Anwendungsbeobachtungen nach § 67 Absatz6 Arzneimittelgesetz und zur Anzeige von nicht interventionellenUnbedenklichkeitsprüfungen nach § 63f und § g Arzneimittelgesetz. Link zur Quelle
- http://www.pei.de/DE/infos/ pu/genehmigung-klinische-pruefung/anwendungsbeobachtungen/awb-begriffsbestimmungen/ begriffsbestimmungen-node.html Link zur Quelle
- European MedicinesAgency. Post-authorisation safety studies: questions and answers Link zur Quelle
- Deutsches NIS-Register beim BfArM: Link zur Quelle
- Österreichisches NIS-Register beimBASG: Link zur Quelle
- Europäisches PAS-Register: Link zur Quelle
- AMB 2016, 50, 17 Link zur Quelle. AMB 2009, 43, 30. Link zur Quelle
- Tagesschau vom 10.3.2016:Anwendungsbeobachtungen. Unsinnige Studien, üppige Honorare für Ärzte. Link zur Quelle
- https://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/amg_1976/gesamt.pdf Link zur Quelle
- Spelsberg, A., et al.: BMJ 2017, 356, j337. Link zur Quelle
- https://doi.org/10.5281/zenodo.269665 Link zur Quelle
- https://www.vfa.de/de/wirtschaft-politik/… Link zur Quelle