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Aktuelle Herausforderungen in der Versorgung mit innovativen Arzneimitteln zu angemessenen Preisen: Eine Studie der OECD (Teil 2)

In den beiden ersten Kapiteln der 2018 publizierten OECD-Studie (Organisation for Economic Co-operation and Development = OECD) unter dem Titel „Pharmaceutical Innovation and Access to Medicines“ werden aktuelle Trends im Arzneimittelmarkt dargestellt und zahlreiche Herausforderungen beschrieben, die sich aus diesen Trends für die politischen Entscheidungsträger ergeben (1).

Im abschließenden Kapitel 3 dieser Studie werden unter dem Titel Policy options to address current challenges insgesamt 16 strategische Lösungsansätze vorgestellt, die u.a. basieren auf einer ausführlichen Befragung von Akteuren und Experten im Bereich des Arzneimittelmarkts durch das OECD-Sekretariat. Vor- und Nachteile der genannten Optionen, mit dem Ziel, künftig sinnvolle Verbesserungen im Arzneimittelmarkt zu erzielen, werden ausführlich dargestellt. Außerdem werden sie hinsichtlich der vorliegenden empirischen Evidenz für ihre Effektivität bei erfolgreicher Umsetzung bewertet. Einige – uns besonders wichtig erscheinende – Lösungsansätze werden im Folgenden kurz beschrieben.

Zunächst bedarf es gemeinsamer Anstrengungen aller relevanten, in unserem Gesundheitssystem für die rationale Arzneimittelversorgung verantwortlichen Akteure, um die Kosten für Forschung und Entwicklung (Research & Development = R&D) von neuen Arzneimitteln zu reduzieren. Nur für neue Arzneimittel, die in klinischen Studien in Indikationen mit ungedecktem medizinischem Bedarf einen relevanten Nutzen nachweisen konnten, sollte der Marktzugang gezielt beschleunigt werden – beispielsweise durch eine Harmonisierung der regulatorischen Anforderungen an die Zulassung. Explizit hingewiesen wird zu Recht auf die im Rahmen beschleunigter Zulassungen derzeit häufig bestehende Unsicherheit im Hinblick auf Wirksamkeit und Sicherheit neu zugelassener Arzneimittel und die daraus resultierenden Risiken für Patienten. Beschleunigte Zulassungen sollten deshalb prinzipiell verknüpft werden mit strikten Vorgaben für die rasche Generierung weiterer Evidenz nach der Zulassung (vgl. 2).

Um die Effizienz der Ausgaben für Arzneimittel zu erhöhen, sollten neben einer intensiven Zusammenarbeit der HTA-Institutionen (vgl. 3) auch die internationale Kooperation bei Preisverhandlungen, Vertragsabschlüssen und Herstellung bzw. Beschaffung von Arzneimitteln verstärkt werden (vgl. 4).

Der Wettbewerb sollte sowohl im Patentmarkt als auch bei patentfreien Arzneimitteln (Generika, Biosimilars) stärker gefördert werden.

Kriterien für Erstattung und Preissetzung neuer patentgeschützter Arzneimittel müssen überdacht und dabei vertragliche Rabatte (sog. „Managed Entry Agreements“ = MEA; 4, vgl. 5) an Bedeutung gewinnen.

Die gezielte Entwicklung neuer Arzneimittel für Indikationen mit heutzutage nur unzureichend wirksamen medikamentösen Therapieoptionen sollte durch geeignete Anreize und Gelder der öffentlichen Hand vorangetrieben und zuvor Prioritäten hinsichtlich des noch ungedeckten medizinischen Bedarfs sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene festgelegt werden. Erwähnt wird in diesem Zusammenhang auch die Überprüfung der in den Verordnungen in den USA, Europa und Japan gewährten Anreize für die Entwicklung von Orphan-Arzneimitteln, die in den letzten Jahren von pharmazeutischen Unternehmern (pU) missbraucht wurden, um dank der wissenschaftlichen Fortschritte (z.B. Präzisionsmedizin in der Onkologie) – meist anhand von Biomarkern – einen „Orphan-Drug-Status“ für Arzneimittel zur Behandlung ansonsten nicht wirklich seltener Krankheiten zu erlangen (6). Aktuelle Zahlen aus den USA belegen diese Aussage: Unter den von der FDA im Jahr 2018 insgesamt zugelassenen 59 neuen Arzneimittel befanden sich 35 Orphan-Arzneimittel (58% aller neuen Arzneimittel) und 13 der insgesamt 16 neuen Arzneimittel zur Behandlung von Krebserkrankungen wurden für Orphan-Indikationen von pU auf den Markt gebracht (7).

Abschließend wird zu Recht gefordert, dass neben einer deutlich besseren Transparenz der Preise in den verschiedenen Mitgliedsstaaten der OECD auch verlässliche Informationen über die Aktivitäten und Produktivität der pU publiziert werden. Diese Transparenz sollte vor allem auch exakte Zahlen zu den Ausgaben für R&D sowie die Gewinne (Profitabilität) beinhalten.

Zusammenfassend sollen diese sehr unterschiedlichen Maßnahmen sowohl gezielte Anreize für pU schaffen, die tatsächlich benötigten neuen Arzneimittel zu entwickeln, als auch Patienten – insbesondere in Ländern mit niedrigem Bruttosozialprodukt – einen besseren und vor allem auch raschen Zugang zu dringend benötigten Arzneimitteln ermöglichen. Ein weiteres Ziel der Lösungsvorschläge ist, die Effizienz der Ausgaben im Arzneimittelmarkt generell zu verbessern und dabei auch die budgetären Möglichkeiten in den unterschiedlichen Gesundheitssystemen adäquat zu berücksichtigen.

Mit dringend notwendigen Reformen im Arzneimittelsystem hat sich auch eine im Jahr 2018 von pharmakologischen Experten in Nordamerika im British Medical Journal publizierte Analyse beschäftigt (8). Vorrangiges Ziel dieser Reformen sollte ebenfalls sein, einen universellen Zugang zu sicheren, tatsächlich innovativen und dabei auch erschwinglichen Arzneimitteln zu ermöglichen. Die Autoren weisen in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die exorbitant hohen Preise für Arzneimittel in den USA und Kanada hin, die dort im ambulanten Bereich deutlich höher liegen als in anderen Mitgliedsstaaten der OECD. Sie beklagen außerdem, dass zu häufig unsichere Arzneimittel – nicht selten basierend auf klinischen Studien mit Surrogatendpunkten – zugelassen werden und die nach Zulassung dann besonders wichtigen Untersuchungen zu Wirksamkeit und Sicherheit erst spät oder überhaupt nicht erfolgen. Obwohl die Analyse sich vor allem auf die aus Sicht der Autoren dysfunktionalen pharmazeutischen Märkte in den USA und Kanada bezieht, sind viele der Vorschläge auch für Europa relevant, wie beispielsweise Maßnahmen zur Reduktion der häufig zu hohen Preise für neue Arzneimittel, die Forderung nach höheren Standards für präklinische und klinische R&D sowie Verpflichtung zur Durchführung weiterer klinischer Studien nach Zulassung.

Die Autoren erwarten – sicher zu Recht – erheblichen Widerstand gegenüber ihren Reformvorschlägen, insbesondere von pU, die unter den in Fortune 500 (jährlich erscheinende Liste der 500 umsatzstärksten Unternehmen der Welt) aufgeführt werden und allein in 2016 67,7 Mrd. US-$ an Gewinnen erzielten. Die meisten Nordamerikaner wünschen sich dringend niedrigere Preise für Arzneimittel – vor allem angesichts der im Vergleich zu Europa deutlich höheren finanziellen Belastung privater Haushalte durch hohe Arzneimittelkosten.

Mit der bekannten Tatsache, dass für die für pU derzeit existierenden Anreize in erster Linie dazu dienen, hohe Gewinne zu erzielen, und weniger die für die öffentliche Gesundheit wichtigen Ziele in R&D zu verfolgen, beschäftigt sich ausführlich ein ebenfalls lesenswerter Bericht des „University College London“ (UCL) zum Thema „The people’s prescription: re-imagining health innovation to deliver public value“ (9). Die ökonomischen und regulatorischen Anreize für pU haben heute nach Ansicht der Autoren zu einem sehr ineffizienten pharmazeutischen Sektor geführt, der mehr Geld für Marketing als für R&D ausgibt und die Forschungsanstrengungen in erster Linie am Profit ausrichtet und weniger am tatsächlichen Bedarf der öffentlichen Gesundheit (10). Auch dieser Bericht diskutiert verschiedene praktische Vorgehensweisen, die kurz- bzw. mittelfristig dazu beitragen könnten, dass echte therapeutische Innovationen wieder verstärkt den Patienten zur Verfügung stehen – und zwar weltweit und zu bezahlbaren Preisen. Sowohl die OECD-Studie als auch der Bericht des „UCL Institute for Innovation and Public Purposes“ sollten Pflichtlektüre für die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger werden, auch in Deutschland und Österreich.

Literatur

  1. https://read.oecd-ilibrary.org/ social-issues-migration- health/pharmaceutical-innovation-and- access-to-medicines_9789264307391- en#page1 Link zur Quelle . Vgl. AMB 2019, 53, 32DB01. Link zur Quelle
  2. Ludwig, W.-D.: Zulassungsverfahren für neue Arzneimittel in Europa. In: Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2018. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, 2018, S. 27.
  3. AMB 2018, 52, 16DB01. Link zur Quelle
  4. Vogler, S.: Marktzugang, Erstattung und Preissetzung neuer patentgeschützter Arzneimittel in der Europäischen Union. In: Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2018. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, 2018, S. 139.
  5. AMB 2017, 51, 41. Link zur Quelle
  6. Ludwig, W.-D.: Internist (Berl.) 2019, 60, 399. Link zur Quelle
  7. Mullard, A.: Nature Rev. Drug Discov. 2019, 18, 85. Link zur Quelle
  8. Gaffney, A., und Lexchin, J.: BMJ 2018, 361, k1039. Link zur Quelle
  9. https://www.ucl.ac.uk/bartlett/public-purpose/ sites/public-purpose/files/ peoples_prescription_report_final_online.pdf Link zur Quelle
  10. Newman, M.: BMJ 2018, 363, k4351. Link zur Quelle