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Langfristige Therapie mit einem Betarezeptorenblocker nach akutem Myokardinfarkt – braucht ein alter Wirkstoff dringend neue Evidenz?

Um nach einem akuten Myokardinfarkt das Überleben zu verlängern, werden die meisten Patienten langfristig mit einem Betarezeptorenblocker behandelt; die optimale Dauer der Therapie ist jedoch unklar (vgl. 1). Ein Grund dafür ist, dass ein Großteil der Studien zum Nutzen von Betablockern durchgeführt wurde, bevor Reperfusionstherapien verfügbar waren. Die Nationale VersorgungsLeitlinie chronische KHK empfiehlt, Patienten nach Myokardinfarkt für ein Jahr einen Betablocker zu verordnen. Danach soll die weitere Einnahme bzw. ein Absetzen evaluiert werden (2). Dies gilt nur für den Fall, dass keine andere Indikation für einen Betablocker besteht, z.B. Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern oder Hypertonie. In einer retrospektiven Kohortenstudie aus Südkorea wurde nun der Zusammenhang zwischen einer langfristigen Betablocker-Therapie und klinischen Ergebnissen bei Patienten ohne Herzinsuffizienz nach akutem Myokardinfarkt untersucht (3).

Studiendesign: Aus den landesweiten Krankenversicherungsdaten Südkoreas wurden insgesamt 28.970 Patienten (mittleres Alter 61 Jahre, 79% Männer) rekrutiert, bei denen zwischen 2010 und 2015 wegen eines akuten Myokardinfarkts eine koronare Revaskularisation durchgeführt worden war. Alle Teilnehmer hatten bei Entlassung aus dem Krankenhaus eine Verschreibung für einen Betablocker erhalten und das erste Jahr nach dem Myokardinfarkt überlebt; ein Rezidiv des Myokardinfarkts oder eine Herzinsuffizienz durften nicht aufgetreten sein. Ausgeschlossen wurden u.a. Patienten mit Herzinsuffizienz oder einer Revaskularisation (PCI oder Bypass-OP) in der Vorgeschichte, ebenso wie Patienten, denen in den 6 Monaten vor dem Myokardinfarkt Betablocker verschrieben worden waren.

Primärer Endpunkt der Untersuchung war Tod aus jeglicher Ursache. Die sekundären Endpunkte waren Rezidiv des Myokardinfarkts und Aufnahme ins Krankenhaus wegen einer neu aufgetretenen Herzinsuffizienz sowie ein zusammengesetzter Endpunkt aus dem primären und den sekundären Endpunkten. Analysen wurden ein Jahr nach dem Myokardinfarkt sowie nach zwei (n = 22.769) und drei Jahren (n = 17.009) durchgeführt. Verschrieben wurde meist Carvedilol (52,9%), gefolgt von Bisoprolol (33%) und Nebivolol (5,8%).

Ergebnisse: Nach einer medianen Beobachtungszeit von 3,5 Jahren hatten Patienten, die einen Betablocker für ≥ 1 Jahr eingenommen hatten (n = 22.707) im Vergleich zu Patienten, deren Betablocker-Therapie < 1 Jahr dauerte (n = 6.263), ein niedrigeres Risiko für Tod aus jeglicher Ursache (adjustierte Hazard Ratio = aHR: 0,81; 95%-Konfidenzintervall = CI: 0,72-0,91) sowie für den zusammengesetzten Endpunkt aus Tod aus jeglicher Ursache, Rezidiv des Myokardinfarkts und neu aufgetretener Herzinsuffizienz (aHR: 0,82; CI: 0,75-0,89). Das Risiko für ein Rezidiv des Myokardinfarkts oder Behandlung im Krankenhaus wegen einer neu aufgetretenen Herzinsuffizienz war nicht geringer. Die Ergebnisse waren bei den verschiedenen Betablockern ähnlich. Das niedrigere Risiko für Tod aus jeglicher Ursache, das mit einer Betablocker-Therapie assoziiert war, wurde auch 2 Jahre nach dem Myokardinfarkt, aber nicht nach 3 Jahren beobachtet (aHR: 0,86; CI: 0,75-0,99 bzw. HR: 0,87; CI: 0,73-1,03).

Ein Editorial mit dem provokanten Titel „Beta-blocker after acute myocardial infarction: an old drug in urgent need of new evidence“ (Betablocker nach akutem Myokardinfarkt: ein altes Arzneimittel braucht dringend neue Evidenz) weist auf Einschränkungen der Studie hin (4). So ist ihre Aussagekraft u.a. dadurch eingeschränkt, dass in der Kohorte die Indikation für den Betablocker nicht identifiziert werden konnte. Auch waren wichtige klinische Charakteristika der Patienten nicht verfügbar, einschließlich der Art des Myokardinfarkts (STEMI vs. NSTEMI). Darüber hinaus gab es keine Angaben zur linksventrikulären Pumpfunktion nach dem Myokardinfarkt. Die Kategorisierung der Studienteilnehmer als Patienten mit erhaltener linksventrikulärer Funktion ist demnach diskussionswürdig. Die Kommentatoren weisen auf die zunehmende Evidenz hin, dass Betablocker bei Patienten mit Myokardinfarkt und erhaltener Pumpfunktion vermutlich kurzfristig vorteilhaft sind, für die langfristige Anwendung jedoch Belege fehlen. Sie schreiben, dass zu dieser Wirkstoffgruppe, die mehr als ein halbes Jahrhundert breit eingesetzt wurde, dringend Daten aus aktuellen Studien benötigt werden und verweisen auf mehrere große randomisierte Studien zu dieser Frage, die mit einer Nachbeobachtungszeit von bis zu 4 Jahren aktuell laufen. Erste Ergebnisse werden ab 2022 erwartet.

Fazit: In einer retrospektiven Beobachtungsstudie mit fast 29.000 Patienten, bei denen wegen eines akuten Myokardinfarkts eine koronare Revaskularisation durchgeführt worden war, war eine Betablocker-Therapie für ≥ 1 Jahr im Vergleich zu einer Behandlung für < 1 Jahr mit einem geringeren Risiko für Tod aus jeglicher Ursache assoziiert. Der Überlebensvorteil durch eine Betablocker-Therapie war 3 Jahre nach dem Myokardinfarkt nicht mehr sicher nachweisbar. Die Ergebnisse unterstreichen die Leitlinienempfehlung, dass ein Jahr nach Myokardinfarkt die ursprüngliche Indikation für einen Betablocker kritisch reevaluiert werden sollte, insbesondere in bestimmten Situationen (Multimedikation, Sturzneigung; vgl. 5). Außerdem muss die Validität der Ergebnisse der hier besprochenen Studie überprüft werden, denn es fehlen klinisch wichtige Angaben, wie z.B. zur Indikation für den Betablocker und zur linksventrikulären Pumpfunktion nach dem Myokardinfarkt.

Literatur

  1. AMB 2012, 46, 91. Link zur Quelle
  2. https://www.leitlinien.de/nvl/html/nvl-chronische-khk/5-auflage/kapitel-7#section-11 Link zur Quelle
  3. Kim, J., et al.: Eur. Heart J. 2020, 41, 3521. Link zur Quelle
  4. Harari, R., und Bangalore, S.: Eur. Heart J. 2020, 41, 3530. Link zur Quelle
  5. AMB 2020, 54, 91 Link zur Quelle . AMB 2016, 50, 28. Link zur Quelle