Ein aktuell publiziertes “Systematisches Review“ und „Recommendation Statement” der „US Preventive Services Task Force“ (USPSTF) befasst sich mit Acetylsalicylsäure (ASS) in der kardiovaskulären Primärprävention [1]. Auf Basis eines systematischen Reviews von 11 Studien mit insgesamt 134.470 Patienten verwendeten die Autoren ein sogenanntes Mikrosimulationsmodell, i.e. eine computergestützte Simulation zur hoch detaillierten Analyse bevorstehender Maßnahmen, um aus den gepoolten Studiendaten den Netto-Vorteil einer ASS-Primärprävention in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht zu errechnen. Diese Analyse ergab, dass ab dem 60. Lebensjahr das höhere Blutungsrisiko den positiven Effekt auf die Prävention kardiovaskulärer Ereignisse aufwiegt. Die Empfehlungen für die Praxis der USPSTF, die aktuell in der 6. Version vorliegen, wurden im Vergleich zu ihren eigenen Vorversionen sowie Empfehlungen anderer Fachgesellschaften hinsichtlich der Einnahme von ASS deutlich zurückgestuft: Personen ≥ 60 Jahren wird kategorisch von einer Primärprävention mit ASS abgeraten, bei Personen von 40-59 Jahren mit einem sehr hohen kardiovaskulären Risiko und geringem Blutungsrisiko kann sie in Absprache mit dem Betroffenen in Erwägung gezogen werden (s. Tab. 1).
Tab. 1 stellt die USPSTF-Empfehlungen den geltenden, 2021 veröffentlichten Leitlinien zur Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen der Europäischen Kardiologischen Gesellschaft (ESC) gegenüber. In den ESC-Empfehlungen ist das Alter aufgrund der altersabhängigen Risikobewertung lediglich ein indirektes Entscheidungskriterium. Es bleibt eine Empfehlungslücke für die große Gruppe von Nicht-Diabetikern mit „hohem oder sehr hohem“ Risiko; dies sind nach ESC-Definition z.B. in der Altersgruppe < 50 Jahre bereits alle Personen mit einem kardiovaskulären 10-Jahresrisiko von ≥ 2,5%. Es wird lediglich kurz erwähnt, dass für diese Personengruppe weitere Studien erforderlich seien und Entscheidungen vorerst auf einer „Fall-zu-Fall-Basis unter Berücksichtigung von Blutungs- und Ischämierisiko“ zu treffen seien. Die ESC-Leitlinien sind damit deutlich weniger konkret und hinsichtlich der Primärprävention mit ASS weniger restriktiv als die USPSTF-Empfehlungen.
Der Vergleich der unterschiedlichen Empfehlungen spiegelt wider, wie schwierig es ist, anhand der aktuellen Datenlage konkrete Handlungsanweisungen für die Praxis zu formulieren – und dies trotz einer langen Reihe von Studien (z.B. [2], [3], [4], [5]) und Metaanalysen (z.B. [6], [7], [8], [9], [10]) aus den vergangenen 15 Jahren, in denen die kardiovaskuläre Primärprävention mit ASS zu einem der am meisten untersuchten und am meisten publizierten Themen gemacht wurden. Weitgehend übereinstimmend haben diese Untersuchungen gezeigt, dass in der Primärprävention der (geringe) Nutzen von ASS durch das (ebenfalls geringe) Blutungsrisiko bei den meisten Personen aufgehoben wird, sodass netto kein Vorteil bleibt, wie auch wir 2018 berichtet haben [11]. Wichtigstes Entscheidungskriterium bleibt eine sorgfältige individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung. Dass diese hier besonders schwierig ist, beruht auf verschiedenen grundlegenden Problemen:
- Risikoeinschätzung: Im Falle einer lang dauernden und unbefristeten Einnahme von ASS muss auch bei „relativ Gesunden“ mit einem nicht zu vernachlässigenden Blutungsrisiko gerechnet werden („Lebenszeitrisiko“). Die Steigerung des relativen Blutungsrisikos durch ASS in der Primärprävention liegt nach Datenlage übereinstimmend bei ca. 50%, wobei das individuelle absolute Blutungsrisiko stark von Begleitfaktoren abhängt, wie Alter, Bluthochdruck, Nieren-/Leberinsuffizienz, vorangegangenen Blutungen oder Schlaganfall, Begleitmedikation, Substanzmissbrauch – vgl. HAS-BLED-Score [12]. In einer der aktuellen Metaanalysen (11 Studien zur kardiovaskulären Primärprävention; 157.258 Patienten; mittlere Nachbeobachtung 6,6 Jahre; 11) betrug das absolute Risiko für schwere Blutungen 1,8% unter ASS vs. 1,3% ohne ASS (mit oder ohne Plazebo; p < 0,0001; Relatives Risiko = RR: 1,47). Zur Frage, ob und inwieweit sich das Blutungsrisiko durch eine begleitende (Dauer-)Medikation mit einem Protonenpumpenhemmer senken lässt, liegen keine systematischen Daten vor.
- Der potenzielle Nutzen von ASS in der Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen für Personen ohne vorausgegangene klinisch manifeste kardiovaskuläre Erkrankungen (Primärprävention) ist verhältnismäßig gering. Die erwähnte Metaanalyse (10) zeigte eine Reduktion der Myokardinfarkt-Inzidenz durch ASS (1,9% vs. 2,2%; p = 0,006; RR: 0,82), aber keinen signifikanten Einfluss auf die Schlaganfall-Inzidenz (1,7% vs. 1,8%), kardiovaskuläre Mortalität (1,3% vs. 1,4%) und Gesamtmortalität (4,6% vs. 4,7%).
Das Ausmaß der erreichbaren absoluten Risikoreduktion hängt aber auch hier vom individuellen Ausgangsrisiko ab. Es wurde in den vergangenen Jahren eine Reihe von Kalkulatoren entwickelt, mit deren Hilfe das „kardiovaskuläre 10-Jahresrisiko“ näherungsweise abgeschätzt werden kann (SCORE-2 = „Systematic COronary Risk Evaluation“; ASCVD = „Atherosclerotic CardioVascular Disease“; historisch: Framingham Risk Score). Allerdings haben alle diese Scores nach wie vor beträchtliche Einschränkungen. Mittlerweile führen europäische und US-amerikanische Leitlinien zusätzlich zu den klassischen Risikofaktoren sogenannte Risikomodifikatoren an, die wahrscheinlich eine realistischere individuelle Risikoabschätzung erlauben, wobei es sowohl „Risk Enhancers“ als auch „Risk Reducers“ gibt. Dazu zählen etwa Befunde aus der Bildgebung (z.B. koronarer Kalzium-Score, CT-Angiografie der Koronarien, Ultraschall der Karotiden), sozioökonomische und psychosoziale Faktoren, Biomarker und genetische Analysen sowie Umweltbelastungen; deren Validierung steht aber größtenteils noch aus. Als „hoch“ berechnetes Risiko – das möglicherweise eine Primärprävention mit ASS und/oder Statinen rechtfertigt – wird in den meisten Empfehlungen und Leitlinien ein 10-Jahresrisiko von > 5 bis 10% angegeben. Die ESC-Leitlinien verwendeten 2021 dafür erstmals eine altersabhängige Klassifizierung ([13]; s. Tab. 1).
- Die ASS-Tagesdosis variiert in den Studien zwischen 50 und 500 mg, wobei in den meisten Ländern Europas eine Tagesdosis von 100 mg üblich ist und in den USA von 81 mg. Als „Niedrigdosis“ gilt generell eine Tagesdosis von 75-100 mg. Eindeutige klinische Auswirkungen der unterschiedlichen Dosierungen wurden in Studien jedoch nicht gefunden. Der Einfluss des Körpergewichts ist unzureichend untersucht.
- Auch Präferenzen von Patienten In Entscheidungssituationen ohne ganz eindeutige ärztliche Empfehlungen bevorzugen erfahrungsgemäß manche Personen die Einnahme eines Arzneimittels mit den damit verbundenen Risiken (hier: Blutungen einschließlich gastrointestinaler und zerebraler Blutungen), während andere die Risiken des natürlichen Krankheitsverlaufs (hier: kardiovaskuläre Ereignisse einschließlich Myokardinfarkt und Schlaganfall) vorziehen. Eine gemeinsame Entscheidungsfindung („shared decision making“) wird daher mittlerweile auch in Leitlinien empfohlen.