Wir haben im März 2021 über neue Entwicklungen in der medikamentösen Behandlung der Adipositas berichtet [1]. Anlass hierfür waren u.a. randomisierte, kontrollierte Studien (RCT) mit den sog. Glucagon-like-peptide-1-Agonisten (GLP-1-A). Diese als Antidiabetika entwickelten Wirkstoffe verbessern nicht nur die Blutzuckerkontrolle und senken die kardiovaskuläre Morbidität, sondern senken auch das Körpergewicht deutlich, auch bei Personen ohne Diabetes mellitus. In der 56-wöchigen SCALE-Studie mit 3.731 adipösen Patienten führte eine tägliche subkutane Injektion von 3 mg Liraglutid zu einer mittleren Gewichtsabnahme von 8 kg (vs. 2,6 kg mit Plazebo; [2]), und in den STEP-Studien sank durch die wöchentliche Injektion von 2,4 mg Semaglutid innerhalb von 16 Monaten das Körpergewicht durchschnittlich um 16 kg, bzw. um 15% vom Ausgangsgewicht (vgl. [1]).
Der Wirkmechanismus beruht auf der agonistischen Wirkung mit dem „Darmhormon“ GLP-1, welches eine wichtige Rolle bei der Regulierung von Appetit und Blutzucker spielt. GLP-1 steigert die vom Blutzucker abhängige Sekretion von Insulin, senkt die Sekretion von Glukagon, verzögert die Magenentleerung und vermindert den Appetit. Ein weiteres natürlich vorkommendes Inkretin ist das glukoseabhängige insulinotrope Peptid (GIP; auch „gastric inhibitory peptide“), das in den K-Zellen des Duodenums und des Jejunums gebildet wird. GIP, GLP-1 und ihre Rezeptoren finden sich in vielen Geweben, u.a. auch im Gehirn, den Adipozyten und den Knochen. Die vielfältigen Effekte der Inkretine sind noch nicht vollständig aufgeklärt. GIP soll einen günstigen Einfluss nehmen auf die Regulierung der Lipidspeicherung im Fettgewebe und das Appetit- und Sättigungsgefühl im Zentralnervensystem [3].
Anders als GLP-1 wird GIP bislang noch nicht therapeutisch genutzt. Mit der Zulassung von Tirzepatid ändert sich dies nun. Tirzepatid ist ein Peptid mit 39 Aminosäuren und wird wie die GLP-1-A ebenfalls subkutan injiziert. Es ist ein „first-in-class“-Wirkstoff und sowohl ein Agonist von GLP-1 als auch von GIP (Marketingslogan: „Twincretin“). Durch den zweifachen Wirkmechanismus werden Blutzucker und Körpergewicht möglicherweise stärker gesenkt als mit den GLP-1-Analoga allein. Das Studienprogramm, in dem Tirzepatid bei Patienten mit Typ-2-Diabetes getestet wurde, trägt das Akronym SURPASS. In 5 randomisierten kontrollierten Studien (RCT) wurden bislang drei verschiedene Dosierungen (5/10/15 mg) geprüft, und zwar als Monotherapie oder in Kombination mit anderen Antidiabetika: Metformin, SGLT2-Hemmer („Sodium-Glucose Linked Transporter“), Insulin Glargin. Verglichen wurde Tirzepatid mit Plazebo, einen GLP-1-A (Semaglutid) und zwei Insulin-Analoga. Die Behandlungsdauer betrug jeweils 40-52 Wochen. Tirzepatid senkte dabei nicht nur deutlicher die HbA1c-Werte (im Vergleich zu Plazebo um ca. 1,6%-Punkte und zu Semaglutid um 0,5%-Punkte), sondern führte auch zu größeren Gewichtsverlusten, beispielsweise um 5,5 kg mehr als Semaglutid und um 14 kg mehr als mit den getesteten Insulinen [4]. Nach der Zulassung durch die FDA im Mai dieses Jahres empfahl nun auch der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) am 21.7.2022 die Zulassung von Tirzepatid (Mounjaro®; Eli Lilly) zur Behandlung von Patienten mit Typ-2-Diabetes mellitus [5].
Zeitgleich erschien im N. Engl. J. Med. die SURMOUNT-1-Studie, in der die Wirkung und Sicherheit von Tirzepatid bei adipösen Erwachsenen ohne Diabetes untersucht wurde [6]. Es handelt sich um ein multizentrisches, randomisiertes, doppelt verblindetes und plazebokontrolliertes RCT, das vom pharmazeutischen Unternehmer geplant und überwacht wurde. Eingeschlossen wurden in Nord- und Südamerika sowie Asien Personen mit einem Body-Mass Index (BMI) ≥ 30 oder ≥ 27 kg/m2 und mindestens einer mit Adipositas assoziierten Erkrankung, z.B. arterielle Hypertonie, Dyslipidämie, obstruktive Schlafapnoe oder kardiovaskuläre Erkrankung. Alle Studienteilnehmer mussten mindestens einen gescheiterten Diätversuch hinter sich haben. Zu den Ausschlusskriterien zählten u.a. ein manifester Diabetes mellitus, ein zurückliegender oder geplanter bariatrisch-chirurgischer Eingriff oder die Behandlung mit einem anderen Medikament gegen Adipositas in den zurückliegenden 3 Monaten.
Die Probanden wurden in 4 Gruppen gelost und mit 3 unterschiedlichen Dosierungen Tirzepatid (5/10/15 mg; n = 630/636/630) oder mit Plazebo (n = 643) behandelt. Die Studienmedikation wurde einmal wöchentlich subkutan injiziert für insgesamt 72 Wochen. Tirzepatid wurde langsam aufdosiert: zunächst 2,5 mg/Woche, danach Verdoppelung der Dosis alle 4 Wochen bis zur Zieldosis. Die medikamentöse Behandlung wurde durch eine Standard-Lebensstilintervention begleitet. Diese bestand aus einer kalorienreduzierten Diät mit einem täglichen Energiedefizit von 500 kcal und mindestens 150 Minuten Bewegung pro Woche. Diese Basistherapie wurde durch regelmäßige Treffen mit Diätspezialisten unterstützt.
Die SURMOUNT-1-Studie hat zwei, sog. „koprimäre“ Endpunkte: einerseits die prozentuale Veränderung des Körpergewichts, bezogen auf den Ausgangswert und zum anderen eine Gewichtsreduktion von ≥ 5%. Dieser Wert wird auch in den Adipositas-Leitlinien als gesundheitsrelevant angesehen [7]. Zu den sekundären Endpunkten zählten u.a. auch die Änderung des Taillenumfangs, des Blutdrucks, einiger Stoffwechselparameter (u.a. HbA1c, Lipoproteine) und die gesundheitsbezogene Lebensqualität, gemessen mit dem SF36-Fragebogen zur Selbstevaluation. Bei einer kleinen Subgruppe (n = 160) wurde der Fettanteil im Körper mittels DEXA („Dual-Energy X-ray Absorptiometry“) gemessen.
Ergebnisse: Zwischen Dezember 2019 und April 2022, also mitten in der Corona-Epidemie, wurden insgesamt 2.539 Personen eingeschlossen. Leider werden in der Publikation keine Angaben zur Zahl der gescreenten Personen gemacht. Das Durchschnittsalter der Probanden betrug 44,9 Jahre, 67,5% waren Frauen und 70,6% weiß. Das durchschnittliche Körpergewicht betrug bei Studienbeginn 104,8 kg, der durchschnittliche BMI 38,0 kg/m2 und der durchschnittliche Taillenumfang 114,1 cm. Insgesamt 31,6% der Teilnehmer hatten einen BMI von ≥ 40 kg/m2. Die Adipositas-Anamnese betrug durchschnittlich 14,4 Jahre. Bei 1.032 Teilnehmern wurde zu Studienbeginn ein Prädiabetes diagnostiziert (Definition: HbA1c 5,7-6,4% oder pathologischer Glukosetoleranz-Test), knapp zwei Drittel hatten bereits eine oder mehrere Adipositas-assoziierte Erkrankungen. 86% der Teilnehmer beendeten die 72-wöchige Behandlung, was in Anbetracht der Umstände während der Corona-Pandemie bemerkenswert ist.
Sicherheit: In den Tirzepatid-Gruppen kam es bei 10,2-11,6% zu einem vorzeitigen Studienabbruch, in der Plazebogruppe bei 23%. Unerwünschte Arzneimittelereignisse (UAE) waren in den Tirzepatid-Gruppen bei 4,3-7,1% und in der Plazebogruppe bei 2,6% der Grund für den Studienabbruch. Zu den UAE, die unter Tirzepatid vermehrt beobachtet wurden, zählten Übelkeit (30,8%), Durchfall (21%), Verstopfung (14,2%) und Erbrechen (10,4%). Diese UAE werden als „vorübergehend“ und von „leichtem bis mäßigem Schweregrad“ beschrieben und traten überwiegend während der Phase der Dosissteigerung auf. Es scheint bei den UAE auch eine Abhängigkeit von der Dosierung zu bestehen. Die Übelkeit betraf 24% der Probanden mit 5 mg Tirzepatid und > 30% mit den höheren Dosierungen.
Schwerwiegende UAE wurden bei 160 Teilnehmern (6,3%) gemeldet. Ein Fünftel davon wurde im Zusammenhang mit einer COVID-19-Infektion interpretiert: 20% der Teilnehmer wurden im Berichtszeitraum positiv auf SARS-CoV-2 getestet oder hatten COVID-19. Es gab 11 Todesfälle: 7 (0,36%) unter Tirzepatid und 4 (0,6%) unter Plazebo. Ein Drittel dieser Todesfälle wurde direkt auf COVID-19 zurückgeführt. Es gab 4 Pankreatitiden, jeweils eine in jeder Gruppe. Eine Cholezystitis wurde häufiger in den Tirzepatid-Gruppen beobachtet als in der Plazebogruppe (7 vs. 0); insgesamt war die Inzidenz jedoch gering (≤ 0,6%). Auch „Gallenblasenerkrankungen“ wurden mit Tirzepatid etwas häufiger berichtet. Dies passt zu den Beobachtungen aus den RCT mit GLP-1-A, in denen ebenfalls vermehrt Gallenwegserkrankungen beobachtet wurden (vgl. [7]).
Wirksamkeit: Mit Tirzepatid kam es dosisabhängig (mit 10 mg und 15 mg mehr als mit 5 mg) zu einem relativen Gewichtsverlust von 15-20,9%. Der Gewichtsverlust mit Plazebo betrug 3,1% und ist etwa gleich wie der in den Plazebo-Armen anderer Medikamentenstudien bei Adipositas (= Effekt der Lebensstilintervention). Die Kurven der relativen Gewichtsabnahmen flachen nach ca. 36 Wochen bzw. nach 15% Gewichtsverlust ab. Alle drei Tirzepatid-Dosierungen führten zu einer signifikant größeren Gewichtsreduktion als Plazebo. Der absolute Gewichtsverlust nach 72 Wochen betrug mit 5 mg Tirzepatid 16,1 kg, mit 10 mg 22,2 kg und mit 15 mg 23,6 kg (vs. Plazebo 2,4 kg). Ein Gewichtsverlust von > 5% des Ausgangsgewichts wurde in den Tirzepatid-Gruppen von 85,1-90,9% erreicht und nur von 34,5% in der Plazebogruppe. Ein Nichtansprechen ist also selten (bei etwa 10%). Rund ein Drittel der Probanden erzielten mit Tirzepatid einen Gewichtsverlust von > 25%.
In der Subgruppe, bei der die Fettmasse mittels DEXA bestimmt wurde, zeigte sich eine Abnahme mit Tirzepatid um 33,9% vs. 8,2% mit Plazebo. Weitere signifikante Effekte in den Tirzepatid-Armen betrafen den Bauchumfang (Abnahme von 10-14,5 cm vs. Plazebo) sowie die systolischen und diastolischen Blutdruckwerte (-6,2/-4 mm Hg vs. Plazebo), die Nüchtern-Insulinspiegel und die Lipidwerte (Triglyzeride -20,3 mg/dl, LDL-Cholesterin -4,2 mg/dl, HDL-Cholesterin +8,8 mg/dl, jeweils vs. Plazebo). Interessanterweise war die gesundheitsbezogene Lebensqualität mit Tirzepatid trotz der Gewichtsabnahme nur geringfügig besser als mit Plazebo (Unterschied beim SF36-Test: 1,9 von 100 Punkten). Explizite Abfragen zum psychischen Befinden der Teilnehmer erfolgten nicht.
Alle Teilnehmer in den Tirzepatid-Gruppen mit Prädiabetes bei Studienbeginn waren bei Studienende normoglykämisch (vs. 61,9% in der Plazebogruppe). Diese Subgruppe wird weitere 2 Jahre mit der Studienmedikation (Tirzepatid oder Plazebo) weiterbehandelt.
Diskussion: Die Autoren schlussfolgern, dass Tirzepatid bei Adipositas zu einer substanziellen und nachhaltigen Gewichtreduktion führt. Das Ausmaß liege im Bereich, der mit bariatrischer Chirurgie erreicht werden kann und sei größer als in bisherigen Arzneimittelstudien.
Im begleitenden Editorial „Shifting Tides Offer New Hope For Obesity“ diskutieren Clifford Rosen und Julie Ingelfinger die komplexe Pathophysiologie der Adipositas (3). Die Veränderungen im Körper sind komplex und teilweise auch irreversibel. Lebensstil-Interventionen seien daher meist nicht ausreichend und „adjuvante“ medikamentöse Therapien notwendig. Viele dieser adjuvanten Arzneimitteltherapien haben jedoch in der Vergangenheit eine ungünstige Nutzen-Risiko-Relation gezeigt. So mussten die Appetitzügler Phentermin/Fenfluramin, Sibutramin und Lorcaserin später wegen erhöhter Risiken, u.a. für Herzklappenerkrankungen, Schlaganfälle oder Karzinome, wieder vom Markt genommen werden. Auch wenn die Effekte von Tirzepatid und der GLP-1-A teilweise eindrucksvoll sind, so sollte doch das Hauptaugenmerk auf die (Langzeit-)Sicherheit dieser Medikamente gelegt werden. Auch seien alle Wirkungen von Tirzepatid noch nicht bekannt und es müsse geklärt werden, ob es die mit Adipositas assoziierte Morbidität und Mortalität reduziert. Zu den vielen offenen Fragen zählt auch, wie lange Tirzepatid eingenommen werden muss, wie das Therapiemonitoring aussehen soll, ob die Behandlung intermittierend pausiert werden kann oder soll und ob es bei Dauerbehandlung zu neuen, noch unbekannten Gesundheitsproblemen kommt, wie beispielsweise psychiatrische Komplikationen oder Mangelzustände.