Ein aktueller, kurzer, aber interessanter „Research Letter“ in JAMA Network Open beschreibt die Auswirkungen einer erweiterten Definition einer Erkrankung auf die Therapie einer anderen Erkrankung ([1]): In den gültigen, 2017 publizierten Leitlinien der großen US-amerikanischen kardiologischen Fachgesellschaften „American College of Cardiology“ (ACC) und „American Heart Association“ (AHA) wurden die Blutdruckwerte, die eine arterielle Hypertonie definieren, von ≥ 140/90 mm Hg auf ≥ 130/80 mm Hg gesenkt ([2]). Dieser Entscheidung lag eine sehr großzügige Auslegung von Studiendaten zugrunde, die auch unter vielen Fachleuten umstritten war und weiterhin ist. Auch wir haben damals kritisch berichtet ([3]).
Die ein Jahr später erschienenen Leitlinien Europäischer Fachgesellschaften („European Society of Cardiology“ = ESC; „European Society of Hypertension“ = ESH) blieben bei einem Grenzwert von ≥ 140/90 mm Hg ([4], [5]), was in der ganz aktuell neu erschienenen Leitlinie der ESH bestätigt wird ([6]). Bezeichnenderweise halten auch die Leitlinien der US-amerikanischen Hausärzte in ihren seit 2014 gültigen Empfehlungen an diesen höheren Grenzwerten fest ([7]).
Die arterielle Hypertonie ist einer der Punkte, die in den CHA2DS2VASc-Score eingehen, der nach Empfehlung internationaler Leitlinien zur Abschätzung des Schlaganfallrisikos bei Vorhofflimmern und Indikation für eine orale Antikoagulation (OAK) herangezogen wird. Eine OAK sollte bei einem CHA2DS2VASc-Score von 1 (Mann) oder 2 (Frau) erwogen werden, bei ≥ 2 (Mann) bzw. ≥ 3 (Frau) wird sie klar empfohlen ([8]). Die Hypertonie wird dabei definiert als “Vorhandensein einer Diagnose einer arteriellen Hypertonie oder systolischer Blutdruck ≥ 140 mm Hg und/oder diastolischer Blutdruck ≥ 90 mm Hg bei zwei Messungen innerhalb eines 2-Jahres-Zeitraums“ ([1]). Eine weitere Differenzierung nach Stadium und Schweregrad der Hypertonie ist dabei nicht vorgesehen.
Die Autoren der vorliegenden Arbeit versuchen in einer großangelegten retrospektiven Kohortenstudie den Anteil der Patienten zu quantifizieren, bei denen es durch die seit 2017 erweiterte Hypertonie-Definition im Vergleich zur bis dahin allgemeingültigen Definition zu einer OAK-relevanten Hochstufung im CHA2DS2VASc-Score gekommen ist.
Methodik: Es handelt sich um eine retrospektive Kohortenstudie anhand eines großen US-amerikanischen Registers ambulanter kardiovaskulärer Patienten (PINNACLE = „Practice Innovation and Clinical Excellence“). Eingeschlossen wurden nicht-hypertensive Patienten mit Vorhofflimmern mit Erstvorstellung ab 1. Januar 2016. Bei allen Patienten wurden retrospektiv zwei Definitionen der arteriellen Hypertonie angewandt: Die „alte“ Definition (AD) mit einem Grenzwert von ≥ 140/90 mm Hg sowie die „neue“ Definition (ND) der ACC/AHA mit einem Grenzwert von ≥ 130/80 mm Hg. Der primäre Endpunkt war definitionsgemäß erreicht, wenn es bei einem Patienten mit initialem Index-CHA2DS2VASc-Score-Wert (also vor einer neuen Hypertonie-Diagnose) von 0 oder 1 zu einer hypertoniebedingten Hochstufung um einen Punkt nach ND, nicht aber nach AD kam. Patienten, bei denen sich der CHA2DS2VASc-Score wegen neuer Komorbiditäten oder fortschreitenden Alters erhöhte, schieden aus der Nachbeobachtung aus.
Ergebnisse: Es wurden 316.388 Patienten mit Vorhofflimmern und ohne Hypertonie nach AD eingeschlossen (mittleres Alter 68 Jahre; 42% Frauen). Von diesen hatten bereits zum Zeitpunkt der Erstvorstellung 53.920 (17,0%) eine Hypertonie nach ND. Die Diskrepanz zwischen AD und ND verstärkte sich im Verlauf der Nachbeobachtung: Innerhalb von 36 Monaten erhöhte sich der Anteil der Hypertoniker nach AD von 0% auf 53,3%, der Anteil der Hypertoniker nach ND von 17,0% auf 83,5%; in den Subgruppen mit Index-CHA2DS2VASc-Scores von 0 und 1 war dieses Verhältnis sehr ähnlich. Diese Subgruppen umfassten insgesamt 113.359 Patienten (36,8% der Gesamtkohorte). Davon wurden 63,1% innerhalb der Nachbeobachtung von 36 Monaten im CHA2DS2VASc-Score hochgestuft, und zwar bei einem Index-CHA2DS2VASc-Score von 0 im Mittel nach 23 Monaten bzw. bei einem Index-CHA2DS2VASc-Score von 1 nach 20 Monaten.
Diskussion: Die Autoren schlussfolgern aus ihrer retrospektiven Erhebung der Daten, dass in den USA aufgrund der seit 2017 von den nationalen kardiologischen Fachgesellschaften ACC/AHA vorgegebenen niedrigeren Hypertonie-Grenzwerte (≥ 130/80 mm Hg) wohl eine erhebliche Zahl von Patienten mit Vorhofflimmern wesentlich früher eine Dauer-OAK erhalten – und damit auch früher als in vielen anderen geographischen Regionen der Welt, einschließlich Europa, wo bis heute die höheren Grenzwerte gelten (≥ 140/90 mm Hg). Ob diejenigen Patienten, die die Schwelle für eine OAK (CHA2DS2VASc-Score 1 oder 2) nur aufgrund der neuen US-amerikanischen Definition der arteriellen Hypertonie erreichen, dadurch einen Netto-Vorteil haben, sei völlig unklar. Für eine zeitgemäße Einschätzung des Thromboembolierisikos und damit auch der Nutzen-Risiko-Relation einer OAK sei es erforderlich, weitere Komorbiditäten, Ausmaß und Charakteristika des Vorhofflimmerns sowie strukturelle Befunde (Bildgebung) zu berücksichtigen.
Die vorliegende Publikation und die ihr zugrundeliegende, vor allem in den USA teils heftig geführte Diskussion sind als Reaktion auf die dortigen restriktiven Leitlinien anzusehen. In Europa empfehlen die internationalen und nationalen Fachgesellschaften weiterhin die mehr zurückhaltende Hypertonie-Definition mit Grenzwerten von ≥ 140/90 mm Hg. Es spiegeln sich hier zwei grundlegende Tatsachen wider, die im Zeitalter von zwangsläufig vereinfachenden und artifiziellen Leitlinien, Algorithmen und Scores oft zu wenig Beachtung finden: 1. Bei vielen Erkrankungen – die arterielle Hypertonie und auch das Vorhofflimmern sind dafür Paradebeispiele – gibt es keine scharfen Grenzen, sondern nur ein Kontinuum zwischen „gesund“ bis „krank“. 2. Überdiagnose und Übertherapie können gravierende Folgen haben und unter Umständen auch die Therapie anderer Erkrankungen beeinflussen.